Paradies: Hier, Jetzt, Später? – Theater als Ort der Radikalisierungsprävention. Ein Bericht aus der Praxis
5. August 2021 | Radikalisierung und Prävention

Von 2017 bis 2019 durfte sich das Publikum im Düsseldorfer Jungen Schauspiel das Theaterstück „Paradies“ ansehen, in dem der Protagonist Hamid kurz vor der Verübung eines islamistisch motivierten Anschlages steht. Er hadert jedoch mit seinem Gewissen. Nach dem Stück tauschten sich Publikum und Bühnenteam über Gedanken und Gefühle aus. Die Vorstellungen, welche Teil des Präventionsangebotes des Verfassungsschutzes NRW wurden, waren fast immer ausverkauft. Dramaturgin Kirstin Hess beschreibt in einem Beitrag für den Infodienst Radikalisierungsprävention der Bundeszentrale für politische Bildung die Entstehung des Stücks und die Reaktionen des Publikums. 

Junge Menschen verlassen Familie, Schule, sämtliche Freunde, verschwinden spurlos. Nachbar*innen werden zu Bomben, setzen Fahrzeuge als Waffen ein, greifen die „vermeintlich Ungläubigen“ an, in dem festen Glauben, so das Paradies zu erreichen – endlich. Seit den islamistischen Anschlägen in Paris, Brüssel, Nizza, Berlin, London und Barcelona scheint ein friedliches und demokratisches Miteinander nicht mehr selbstverständlich. Weniger, weil Anschläge in unsere Städte gebracht werden, als vielmehr, weil Menschen aus unserer Mitte diese Anschläge begehen. – So begannen die Recherchen zu „Paradies“ im Jahre 2015.

Der Autor Lutz Hübner und die Autorin Sarah Nemitz, der Künstlerische Leiter des Jungen Schauspiels D’haus in Düsseldorf, Stefan Fischer-Fels, Regisseurin Mina Salehpour und ich, die Dramaturgin Kirstin Hess, haben sich eingehend mit den vielen und sicher richtigen Erklärungsversuchen beschäftigt, warum Jugendliche sich radikalisieren und in den Dschihad ziehen. Schwache oder abwesende Väter, entwurzelte Familien, Diskriminierungserfahrungen, fehlende Chancen auf dem Arbeitsmarkt und mitunter ein verzerrtes Islamverständnis.

Dennoch: Was macht den Islamismus so attraktiv? Warum fasziniert er derart? Warum schließen sich – auch gut gebildete, aus intakten Familien stammende – junge Menschen einem unterdrückerischen, lebensgefährlichen, todbringenden System an? Eine Debatte, die allein auf den religiösen Aspekt des Islamismus fokussiert, verdeckt, dass das Phänomen alle Merkmale einer Jugendbewegung aufweist. Hoffnung wird gespendet, wo Hoffnung auf allen notwendigen gesellschaftlichen Ebenen fehlt, beziehungsweise nicht mehr erfahrbar ist. Entsprechend verbreiteten Islamist*innen über die sozialen Netzwerke Filme und Posts ganz im Stil von Musikvideos oder Games wie Grand Theft Auto. Es werden starke Männer mit martialischen Waffen in karger Landschaft gezeigt und eine unbesiegbare große Gemeinschaft präsentiert, untermalt von Musik. Islamismus ist Pop. Lutz Hübner beschreibt es so: „Radical Chic mit dem Vorteil, dass die große Idee jegliches Handeln legitimiert. Der Markenkern des IS passt in einen Popsong: I want to be somebody. I wanna be loved. I wish I were a princess.”

Wir trafen Anfang 2015 die Entscheidung, dass wir eine Geschichte erzählen wollen, die sich mit Islamismus und Radikalisierung auseinandersetzt. In der Begegnung mit den Theatermachern Vibhawari Deshpande und Ranga Godbole aus Pune in Indien wurde deutlich, dass uns Phänomene von Radikalisierungstendenzen in unseren Gesellschaften gleichermaßen beschäftigen. Im indischen Norden flammte ein Kampf gegen Muslim*innen auf, wie aus den Medien bekannt und durch die Künstler*innen bestätigt: Auf offener Straße bespuckten und schlugen besonders fromme Hindus Muslim*innen. Bald wurden Muslim*innen strukturell benachteiligt, Ideen von Ausweisung aus dem Staat Indien wurden auf politischer Ebene besprochen, Gewalttaten geschahen auf offener Straße. Die Theater-Kollegen in Pune entwickelten das Stück „Y“, in dem ein junger Mann sich zu einer radikal-hinduistischen Gruppe hinbewegt und ein Attentat gegen Muslim*innen plant, das ein Zeichen setzen soll.

Entwicklung des Stücks „Paradies“

Gemeinsam mit Mina Salehpour und dem Komponisten Sandro Tajouri entsteht parallel dazu zu Beginn der Theatersaison 2017/2018 in Düsseldorf die Inszenierung „Paradies“. Es ist der Song des Lebens der fiktiven Figur Hamid, der unmittelbar vor der Ausführung eines islamistisch motivierten Attentats steht und der plötzlich zu zweifeln beginnt, als ihm Erinnerungen an seine Familie und Freundin kommen. Ein Kampf zwischen seinen neuen Freunden und seiner Familie beginnt in seinem Kopf zu wüten. Das Stück lässt die Zuschauer:innen über eine Stunde lang in seinen Kopf schauen. Regisseurin Mina Salehpour versetzt das Publikum mithilfe der „paradiesischen“ Ausstattung von Maria Anderski und einem durchgehenden Beat von Tajouri in einen Club, in dem alle gemeinsam sind. Es gibt keine Trennung zwischen Bühne und Zuschauer*innenraum; Clubpublikum und Attentäter hängen in dieser Situation zusammen.

„Paradies“ ist im Jungen Schauspiel / D’haus in Düsseldorf seit der Premiere 2017 meist ausverkauft gewesen – egal ob vormittags für Schulklassen oder abends im freien Verkauf, wenn sich Generationen, Schichten, Kulturen im Publikum mischen. Als bei Hamid die Zeit des Zweifelns vorüber ist und die Tat begangen werden soll, steigen die Schauspieler*innen nach einem dynamischen Ritt durch knapp zwei Jahrzehnte in Hamids Leben aus dem Spiel aus. Sie versammeln sich bei einem Picknick, einer von Hamids liebsten Kindheitserinnerungen, mitten im Publikum. Als Hamid fragt, was geschehe, stoppen sie, eine Musik setzt ein und das Ensemble beginnt zu tanzen. Wie in einem Club können alle Zuschauer*innen mittanzen. Und je nach Verfassung tun sie das auch. Dieser Tanz, das gemeinsame Ausatmen nach der Vorstellung, dauert an und geht in das Gespräch zwischen Publikum und Ensemble über. Immer, bei jeder Vorstellung.

Resonanz des Publikums

Bei einer der ersten Vorstellungen sind verschiedene Schulklassen verschiedener Schulen und Stadtteile dabei. Auf einer Seite steht eine Gruppe Mädchen mit und ohne Kopftuch, sie lachen häufig bei verschiedenen eisbrechenden Pointen. Ich spreche sie im Anschluss an die Vorstellung an. Sie sagen, sie seien so froh, dass dieses Thema endlich einmal nicht problematisierend behandelt würde, dass man endlich mal dazu lachen könne.

Im anschließenden Publikumsgespräch erzählen sie das allen laut. Plötzlich ruft ein Mädchen durch den Saal zu einer Gruppe blonder Jungen: „Warum habt ihr nicht gelacht, ihr habt die ganze Zeit so ernst geguckt.“ Die Jungen antworten, dass sie unsicher gewesen seien, ob sie bei dieser Thematik lachen dürften. Die Mädchen bekräftigen lauthals, dass man natürlich lachen dürfe. So vieles sei absurd und lächerlich an dem Thema. Die Jungen fragen, ob hier nicht der Islam angegriffen würde. Die Mädchen sagen, dass es ja gar nicht um den Islam gehe, sondern um Radikalismus. Um Terror, der eine ganze Religion instrumentalisiere.

An einem Samstagabend sind überwiegend Erwachsene anwesend. Ein Mann, sichtlich bewegt, fragt, wo denn das Zielpublikum sei. Ein Schweigen tritt ein. Ich frage, wer denn das Zielpublikum sei. Jugendliche, migrantische Jugendliche, so die überzeugte Antwort des Mannes. Wir entgegnen, dass das Publikum nicht immer gleich sei und dass wir glauben, dass „das Zielpublikum“ auch heute Abend anwesend sei. Erleichterung macht sich im Publikum breit, der Mann ist empört. Er glaubt nicht, dass er mit dem Stück erreicht werden müsse.

Immer mehr Menschen möchten das Stück sehen, sowohl Schulklassen als auch Einzelgäste. Nach einer Weile kommt ein Anruf vom Verfassungsschutz NRW. Die Abteilung Prävention hat ein kulturelles Programm verschiedener Künstler*innen und Institutionen aus Nordrhein-Westfalen zusammengestellt, das sie im Rahmen ihres Präventionsprogramms Schulen kostenlos zugänglich machen möchte. Das Programm wird gut von Lehrkräften angenommen. Alle scheinen die Kraft der Kunst in der Krise, vielleicht auch in der Sprachlosigkeit zu schätzen.

Auf eine Weise berührt uns dieses Vorhaben. Hier könnte ein Paradigmenwechsel in der Prävention stattfinden. Nicht die (potenziellen) Attentäter*innen allein werden als Ziel einer Prävention gesehen, sondern wir alle werden auf unsere Rolle in der Gemeinschaft aufmerksam gemacht.

Theater als Mittel der Prävention?

Ich bin hin- und hergerissen. Theater ist Kunst, erzählt Geschichten. Manches darin ist wiedererkennbar, manches vielleicht ganz fremd. Wenn ich Kunst genossen habe und sie sofort und nachhaltig vergesse – dann hat sie nichts bewirkt. Aber die Berührung durch ein Kunstwerk oder ein Kunstereignis kann mein Leben verändern. Vor allem – und dazu gibt es inzwischen einige internationale Studien – wirkt Kunst nachhaltig positiv, wenn sie regelmäßig genossen wird.

Das New Yorker New Victory Theatre hat dazu eine Vergleichsstudie angestellt (National Endowment for the Arts 2020). Zwei Schulklassen aus sozial schwierigen Verhältnissen wurden über fünf Jahre begleitet. Die eine kam mehrfach mit dem Theater in Berührung, hat viele Vorstellungen angesehen, aber auch partizipativ daran mitgearbeitet. Die andere Klasse hatte keine Kunstbegegnungen. In der erstgenannten Klasse mit den durch das Theater inspirierten Kindern stellte sich schnell ein besserer Notendurchschnitt ein. Vor allem aber gab es eine Entdeckung, die selbst die Wissenschaftler*innen überraschte: Die Kinder entwickelten etwas, das es seit Generationen in ihren Familien nicht mehr gegeben hatte – Hoffnung. Sie begannen, Visionen für ihr eigenes Leben zu entwickeln, für die es in ihrer Umgebung kaum Vorbilder gab.

Ende 2019 wurde die Langzeitstudie „The Art of Life and Death“ veröffentlicht (Fancourt und Steptoe 2019). Nahezu 7.000 ältere Erwachsene ab 49 Jahren wurden über 14 Jahre in ihrem Kulturverhalten begleitet. Ergebnis: Menschen, die mehr als zwei Mal pro Jahr an einem Kulturangebot teilnahmen, hatten eine 14 Prozent niedrigere Sterblichkeitsrate als Menschen, die nie ein kulturelles Ereignis besuchten. Wer häufiger Kultur rezipierte, hatte sogar ein 31 Prozent geringeres Sterberisiko. Es gibt viele Details, die den Zusammenhang zwischen Leben und Kulturgenuss begründen könnten. Die Forscher*innen beschreiben als deutlichste Erkenntnis, dass die Auseinandersetzung mit einem Kulturangebot zunächst das Gehirn fordert und so in Bewegung versetzt. Beobachten konnten sie, dass dies meistens auch eine körperliche Aktivität nach sich zog. Wer im Denken gefordert wird, wird im wörtlichen Sinne beweglich.

Zurück zum Thema Prävention. Wir bemerken unterschiedliche Stimmungen im Publikum, seit wir Teil des Präventionsprogramms des Landes NRW sind. Vorstellungen mit Publikum, das außerhalb des Präventionsprogramms zu uns gekommen ist, gleich ob Schüler*innen mit ihren Lehrkräften oder Einzelbesucher*innen, verlaufen konzentriert, gespannt und enden mit berührt-begeistertem Publikum.

Bei Gruppen, die über das Programm des Verfassungsschutzes zu uns kommen, ist hingegen häufiger folgendes zu beobachten: Eine Lehrkraft sieht ein Problem mit muslimischen Jugendlichen, fast immer mit Jungen, und findet keine Sprache, die Thematik gemeinsam anzugehen. Oft bestehen diese Gruppen aus Jugendlichen, die wiederholt versuchen, wenigstens irgendeinen Schulabschluss zu erreichen. Die Pädagog*innen buchen Karten für „Paradies“, und die Schüler*innen bringen für uns deutlich spürbar und nachvollziehbar das Gefühl der Stigmatisierung mit zur Vorstellung. Diese Vorstellungen werden häufig atmosphärisch schwierig.

Die Jungen können sich nicht einlassen, empfinden vieles als persönlichen Angriff und bekunden dies laut. Mitunter unterbrechen die Schauspieler*innen das Stück, sprechen die Situation kurz an und verweisen auf das Gespräch im Anschluss. Wir vom Theater kommen mit der Situation unter einem hohen Kraftaufwand zurecht. Die Jugendlichen begreifen, dass wir ein Thema auf die Bühne bringen, und nehmen dann den Gesprächsraum an. Doch haben sie zuvor in ihrem Leben nur ungenügend Raum erfahren, in dem sie sich willkommen fühlen und ein positives Selbstbewusstsein entwickeln können. Und nun „sollen“ sie ein Theaterstück ansehen, das sie emotional triggert und haben bislang noch keine Gelegenheit bekommen, Theater „lesen“ zu lernen.

Zahlreiche Kinder und Jugendliche aller Milieus und Schichten werden erstmals oder sogar ausschließlich durch die Schule mit Kulturangeboten in Berührung gebracht. Wir erleben im Rahmen des Präventionsprogrammes häufiger, dass Jugendliche ihren Erstkontakt mit Theater bei unserem Stück „Paradies“ haben. Theater als Auseinandersetzungszwang mit einem gesellschaftlich ungelösten Thema. Diese stigmatisierten Jugendlichen kommen nicht mit Lust, sondern mit einem am Morgen angelegten Panzer zu uns [1]. Es braucht häufig lange, bis sie verstehen, dass die Schauspieler*innen auf der Bühne nicht ihre persönliche Meinung vertreten, sondern eine Figur verkörpern.

Regisseurin Mina Salehpour äußert folgende Gedanken zum Theater: „Durch eine Parodie ein Thema offenzulegen und einer anderen Diskussion als einer politischen zuzuführen, ist ein schmaler Grat. Die Realität ist manchmal so nah an meinem eigenen Schicksal, dass es mich auch persönlich angreift. Und zwar so sehr, dass ich emotional wie ein Käfer auf dem Rücken liege und nichts mehr tue. Deswegen trete ich in meiner Arbeit nicht mit der Realität in Konkurrenz. Ich versuche, nicht politisch oder gesellschaftlich zu argumentieren, sondern künstlerisch. Ich habe keine falschen Hoffnungen, aber ich glaube, man muss die Balance finden zwischen Wissen und Tun. Nicht auf dem Rücken liegen, wie der Käfer, erdrückt vom vielen Leid in der Welt. Ich mache Theater, damit Menschen ins Gespräch kommen.“

Zuschauen und partizipieren

Und das tun wir: ins Gespräch kommen. Bei jeder einzelnen der zahlreichen Vorstellungen, mit immerhin 240 Zuschauer*innen pro Aufführung. Uns fällt auf: Menschen mit einem Zugang zum Islam und/oder einem gefestigten Glauben zeigten sich glücklich, dass die schmerzhafte Thematik mit viel Humor angegangen wird. Dies ist die größte Zuschauergruppe. Menschen ohne jegliche Berührungspunkte zum Islam waren irritiert und wussten nicht, ob sie in der Thematik eine Rolle spielen. Unsichere (meist männliche, junge) Menschen mit ungefestigtem muslimischem Glauben fühlten sich oft angegriffen.

In aller Regel begleiten wir unsere Stücke durch Materialien und Workshop-Angebote. Die künstlerischen Produkte auf der Bühne stehen dabei für sich. In weiterführenden Angeboten stehen Mitarbeitende aus Dramaturgie, Theaterpädagogik und Ensemble zur vertiefenden Auseinandersetzung zur Verfügung. Am D’haus gibt es auch zahlreiche Theaterklubs, die über jeweils ein Jahr laufen. Hier treffen sich Interessierte verschiedenen Alters einmal wöchentlich zum Theaterspielen zu verschiedenen Themen. In der Sparte Bürgerbühne werden außerdem Inszenierungen mit professionellem Team und Bürger*innen aller Altersgruppen entwickelt. Im „Café Eden“ finden empowernde künstlerische Workshop- und Diskursreihen zu öffentlichen Präsentationen statt. Darüber hinaus wird viel Theater rezipiert, wir zählen (unter Nicht-Pandemie-Bedingungen) über 220.000 Zuschauer*innen pro Saison im D’haus, davon um die 60.000 im Jungen Schauspiel. Rezeption und Partizipation betrachten wir als sich ergänzende Zugänge zur performativen Kunst.

Der Kraft der Kunst vertrauen

Wieviel Zeit hat eine Gesellschaft, um auf gefährliche, todbringende Bewegungen zu reagieren? In psychiatrischen Zusammenhängen heißt es, man benötige ebenso viel Zeit, eine Störung zu behandeln, wie es gekostet habe, bis sie sich so weit entwickelt habe. Und der Punkt, an dem ein Problem als solches erkannt wird, spielt eine Rolle. Wie lange lebt also das Wesen „Gesellschaft“, bis es ein Problem (als Teil von sich selbst) erkennen kann? Welche Teile der Gesellschaft sollten an Präventionsprogrammen teilnehmen? Wer sieht sich als Teil des Problems? In der Regel werden Menschen, die „uns“ angreifen ge-othered, als Andere, Fremde eingestuft. Meist kommen sie aber mitten aus unserer Gesellschaft.

Eines scheint deutlich: Kunst hat eine besondere Kraft, gerade in der Krise. Aber Kultur ist keine Kopfschmerztablette, die schnell Schmerzen stillt. Das wäre für eine Gesellschaft allerdings auch nicht hilfreich. Kopfschmerztabletten bekämpfen bekanntlich nicht die Ursache, sie unterdrücken nur die Symptome. Die Auseinandersetzung mit Kunst schafft Raum für Empathie: die Fähigkeit, mehrere – auch andere – Perspektiven einnehmen zu können. Kunst und vielleicht besonders das Theater kann Widersprüche erkennbar machen und lehrt, sie auszuhalten.

Internationale Studien zeigen, dass Kunstgenuss wirkt. Wir werden beweglicher, wir können Visionen für ein gutes Leben entwickeln. Dies gilt besonders für Kinder und Jugendliche, wie die bereits angesprochene New Yorker Studie „What Impact Performing Arts Have on Kids“ zeigt. Aber auch für Erwachsene ist das Theater ein gewinnbringender Begleiter, wenn es regelmäßig genossen wird, wie die britische Studie zeigt.

Wenn Kunst in einer Krise gesellschaftlich produzierte Probleme lösen soll, also wie eine Kopfschmerztablette angewandt wird, wird es wenig Aussicht auf Erfolg geben.

Kunst ist frei und unberechenbar. Sie ist keine Wissensvermittlung und ersetzt diese auch nicht. Aus der deutschen Geschichte heraus mit Blick auf die Rolle der Kunst als Propagandainstrument im Nationalsozialismus betrachtet, begründet sich, weshalb das so wichtig ist. Zielgerichtet eingesetzt, gefüllt mit spalterischen und menschenverachtenden Inhalten, kann sie jegliche Humanität zerstören und todbringend wirken. Nur in der Freiheit kann Kunst Erfahrungsräume öffnen.

Wollen wir wirklich eine Prävention betreiben, die zu einem demokratischen Miteinander führt, so müssen wir der Kunst vertrauen. In größtmöglicher Vielfalt müssen Genres und Sparten fest in Bildungs- und Lehrplänen verankert werden. Kulturpolitik als Ganzes muss Aufwertung erfahren. Kulturministerien sollten entscheidend in politische Willensbildungs- und Entscheidungsprozesse einbezogen werden. Bereits Kindern und Jugendlichen muss der Zugang zur Kunst und damit kultureller Teilhabe ermöglicht werden, wie es in §31 der UN-Kinderrechtskonvention festgehalten ist.

Regelmäßiger Kunstgenuss kann Folgen haben. Zu Risiken und Nebenwirkungen fragen Sie nach in New York, London, bei Kindern und Jugendlichen sowie bei Pädagog*innen, Eltern und bei Theater-für-junges-Publikum-Macher*innen Ihres Vertrauens.

Dieser Beitrag wurde zuerst veröffentlicht im Infodienst Radikalisierungsprävention der Bundeszentrale für politische Bildung unter Creative Commons Lizenz, Variante Namensnennung – nicht-kommerziell – keine Bearbeitungen, Version 3.0 (http://creativecommons.org/licenses/by-nc-nd/3.0/de/legalcode). Wir danken der Autorin und dem BpB Infodienst Radikalisierungsprävention, den Beitrag hier wieder veröffentlichen zu dürfen.


Anmerkung

[1] „Bisher“, schreibt Psychologe und Autor Ahmad Mansour zum Thema wiederholte Stigmatisierung in seinem Buch „Generation Allah“, „findet in Deutschland eine fehlgeleitete Ihr-wir-Debatte statt. ‚Wir‘ und ‚Ihr‘ werden kulturell oder ethnisch definiert. Solange Jugendliche mit Migrationshintergrund immer wieder das Gefühl vermittelt bekommen, dass sie mit ihrem kulturellen und religiösen Anderssein nicht Teil dieser Gesellschaft sind, werden sie alternative Identitäten suchen.“ Mansour 2015, S. 45.


Literatur

Fancourt, Daisy/Steptoe, Andrew (2019): The art of life and death: 14 year follow-up analyses of associations between arts engagement and mortality in the English Longitudinal Study of Ageing. In: The BMJ, auf: bmj.com, Abruf am 20.5.2021.

Mansour, Ahmad (2015): Generation Allah. Warum wir im Kampf gegen religiösen Extremismus umdenken müssen, Frankfurt a. M.

National Endowment for the Arts (2020): Envisioning the Future of Theater for Young Audiences. Auf: arts.gov, Abruf am 20.5.2021.

Skip to content