Palästinenser*innen in Deutschland: Staatsräson sticht Grundrechte
26. September 2023 | Demokratie und Partizipation, Diversität und Diskriminierung, Geschichte, Biografien und Erinnerung

Symbolbild; Bild: Montecruz Foto/ Wikimedia Commons

Im Mai jährte sich die Gründung Israels zum 75. Mal, auch in Deutschland wurde dieser Jahrestag offiziell begangen. Demonstrationen von Palästinenser*innen, die auf die Folgen der Staatsgründung für die palästinensische Bevölkerung aufmerksam machen wollten, wurden hingegen wiederholt verboten. Prof. Dr. Ralf Michaels zeichnet in seinem Beitrag aus grundrechtlicher Perspektive nach, welchen Hürden sich Palästinenser*innen in Deutschland in ihrer Auseinandersetzung mit der Situation in Israel und Palästina gegenübersehen. Er warnt vor einer Einschränkung von Grundrechten, die mit dem Kampf gegen Antisemitismus und der deutschen Staatsräson begründet wird.

Am 12. Mai 2023 wurde im Bundestag der 75. Jahrestag der Gründung des Staates Israel begangen – Ausdruck der besonderen Verantwortung Deutschlands gegenüber Israel, die aus der Verantwortung für den Holocaust herrührt und zur Staatsräson geworden ist. Unter den Blicken des israelischen Botschafters als Gast mahnten zwar einige Redner*innen mehr Schritte Israels zur Lösung des Konflikts mit den Palästinenser*innen an oder äußerten Besorgnis über die politische Orientierung der neuen Regierung. Insgesamt aber überwog, verständlicherweise, die Freude über die Tatsache, dass Jüdinnen und Juden nach Jahrhunderten antisemitischer Verfolgung in Europa und nach dem deutschen Genozid einen eigenen Staat erlangt hatten. Und selbst die moderate Kritik ging einigen zu weit. Ein Redner bemängelte konkret, dass in Deutschland dem Bekenntnis zu Israel immer öfter ein „aber“ folge; er stelle immer häufiger einen „Mangel an Empathie und Einfühlungsvermögen gegenüber Israel“ fest.

Ganz unrecht hat er nicht: Der Eifer, den einige Deutsche bei der Kritik Israels an den Tag legen, ist beklemmend. Freilich, mehr Empathie und Einfühlungsvermögen würden sich auch Palästinenser*innen wünschen. Für viele von ihnen ist der Jahrestag der Gründung Israels kein Feiertag, sondern der Tag, an dem sie ihrer Vertreibung gedenken, die mit der Gründung Israels zusammenfiel. Dass es zur Nakba keine Staatsfeier gibt, werden sie nicht kritisieren wollen. Dass indes die Berliner Polizei ihnen sogar untersagte, sich zu diesem Anlass zu versammeln, und eine zum Nakba-Tag angemeldete Demonstration kurzfristig verbot, dürfte ihnen sauer aufgestoßen sein. Staatsfeier auf der einen Seite, Versammlungsverbot auf der anderen, das ist doch ein erheblicher Unterschied.

Dieses Verbot der Demonstration zum Nakba-Tag entspricht einer härteren Gangart der Polizei in Berlin gegenüber propalästinensischen Demonstrationen. Schon im letzten Jahr wurde eine Demonstration zum Nakba-Tag wie auch zum Gedenken an die kurz vorher durch israelische Schüsse getötete Journalistin Shireen Abu Akleh untersagt. Seither ereilte ein ähnliches Schicksal weitere Demonstrationen. Im letzten Jahr wurde das Verbot sogar auf eine von einer jüdischen Organisation angemeldete Solidaritätsdemonstration ausgeweitet.

Unter Gewaltverdacht

Dass solche Versammlungsverbote gegen pro-palästinensische Demonstrationen bisher von den Gerichten in Berlin aufrechterhalten worden sind, ist auf den ersten Blick nicht ganz unplausibel. Denn bei ähnlichen Veranstaltungen kam es in der Vergangenheit gelegentlich zu Rufen, die als Volksverhetzung nach § 130 StGB betrachtet werden können. Auch gab es vereinzelte Gewalt gegen Polizist*innen oder Journalist*innen. Die Versammlungsfreiheit schützt nur das Recht, sich friedlich zu versammeln.

Indessen ist der Verdacht, dass Grundrechte in bedenklicher Weise eingeschränkt werden, nicht einfach von der Hand zu weisen. Die (sehr ausführlichen) polizeilichen Begründungen stützen ihre Gewaltprognosen oft auf Ereignisse bei vergangenen Demonstrationen anderer Organisatoren und in anderen Städten – als wären alle, die sich für Palästinenser*innen einsetzen, über einen Kamm zu scheren. Ein besonderes Risiko wird darin gesehen, dass die Demonstrant*innen durch Ereignisse in Israel und den besetzten palästinensischen Gebieten besonders emotionalisiert und daher gewaltbereit seien – als wäre eine solche Emotionalisierung nicht gerade ein typischer Grund zu demonstrieren. Und wenn die Polizei Palästinenser*innen und andere Menschen aus dem arabischen Raum als „diese Klientel“ bezeichnet, bei der „eine deutlich aggressive Grundhaltung“ vorherrsche, liegt der Rassismusverdacht nicht fern.

Zudem: Selbst wenn aus einer Demonstration heraus einzelne Straftaten begangen werden, ist das aus rechtlicher Sicht noch kein Grund, die ganze Demonstration zu verbieten oder aufzulösen. Denn dadurch würde die Versammlungsfreiheit derjenigen eingeschränkt, die sich friedlich verhalten. Wenn also ein einzelner Demonstrant „Juden den Tod“ wünscht, ist das strafbar und ein Grund, gegen ihn vorzugehen. Es ist aber kein Grund, die ganze Demonstration abzubrechen oder gar eine zukünftige Demonstration präventiv zu verbieten. Eingriffe in die Demonstration als Ganzes sind erst zulässig, wenn die Versammlung insgesamt gefährlich wird. Und auch in solchen Fällen ist der Staat gehalten, nach Möglichkeit das mildeste Mittel zu wählen. Das heißt im Zweifel: Eingriff erst in Reaktion auf konkrete Verstöße und Gefährdungen, nicht jedoch von vornherein; konkrete Auflagen und Eingriffe statt umfassendem Verbot oder Abbruch. Die vorherige Untersagung einer Demonstration ist im liberalen Rechtsstaat eigentlich die Ausnahme.

Einschränkung von Kunst- und Meinungsfreiheit

Der Verdacht, dass der Staat Palästinenser*innen und propalästinensische Stimmen stärker beschränkt als rechtlich erlaubt, drängt sich auch in anderen Bereichen auf. So ging die Stadt München durch drei Instanzen, nur um sich vom Bundesverwaltungsgericht sagen zu lassen, was eigentlich schon im dritten Semester gelehrt wird: Der Zugang zu öffentlichen Räumen muss gleich und unabhängig von der geäußerten Meinung gewährt werden. Deshalb haben auch BDS-Befürworter*innen einen Anspruch auf die Zurverfügungstellung von Räumen, die andere Gruppen nutzen dürfen. Das Gleiche gilt für den Musiker Roger Waters, der sich in einer Form für die Rechte von Palästinenser*innen einsetzt, die einige für antisemitisch halten. Der Versuch der Stadt Frankfurt, sein Konzert in einer städtischen Halle zu verbieten, hielt vor den Gerichten nicht stand.

Ähnliches gilt für die Kunstfreiheit. Wegen der Zurschaustellung von Kunstwerken mit Israel-Bezug, die im vergangenen Jahr auf der Kunstausstellung documenta in Kassel zu sehen waren, wurden mehrere Strafanzeigen gestellt. Die Kasseler Staatsanwaltschaft hat ausführlich begründet, warum sie kein Ermittlungsverfahren eröffnet. Umfassender hat der Verfassungsrechtler Christoph Möllers in einem Gutachten für das Kulturstaatsministerium dargelegt, warum selbst als antisemitisch erachtete Kunst im Zweifel von der Kunstfreiheit gedeckt ist. Schließlich ist auch die Meinungsfreiheit weitreichend geschützt. So entschied der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte 2022, dass private Aufrufe zum Boykott Israels vom Recht auf Meinungsfreiheit gedeckt sind. In Deutschland hat sich das noch nicht überall herumgesprochen.

So ergibt sich ein zweischneidiges Bild. Palästinenser*innen sind zwar grundsätzlich weitreichend von den Grundrechten geschützt. Es ist aber nicht immer leicht, diese geltend zu machen. Denn während die Gerichte im Großen und Ganzen recht stabil die Grundrechte durchsetzen, treten andere staatliche und nichtstaatliche Akteure repressiver auf. 2019 erließ der Bundestag die sogenannte Anti-BDS-Resolution, in der die BDS-Bewegung als antisemitisch eingeordnet und die Vergabe öffentlicher Räume an ihre Anhänger*innen für nicht wünschenswert erachtet wurde. Obwohl die Wissenschaftlichen Dienste des Bundestags selbst feststellten, dass die Resolution als Gesetz verfassungswidrig wäre und nur wegen ihres unverbindlichen Charakters bestehen bleiben könne, berufen sich staatliche Institutionen weiterhin regelmäßig auf sie. Eine Klage gegen die Resolution wurde in erster Instanz aus formalen Gründen abgewiesen; das Verfahren ist in der Berufung.

Journalist*innen unter Druck

Insbesondere im öffentlich-rechtlichen Rundfunk zeigen sich Einschränkungen. So wurde einer Journalistin, Nemi El-Hassan, eine Moderatorenstelle in einer Wissenschaftssendung beim WDR versagt, als sich herausstellte, dass sie viele Jahre zuvor (2014, während des Gaza-Krieges) am umstrittenen Al-Quds-Marsch teilgenommen hatte. Dem Moderator einer Kindersendung, Matondo Castlo, wurde vom Kinderkanal gekündigt, nachdem seine Teilnahme an einem Kinder- und Jugendfestival im Westjordanland publik geworden war – seine Beteuerung, vom politischen Charakter der Veranstaltung nichts gewusst zu haben, half ihm nichts. In beiden Fällen ging es um nichtpolitische Sendungen; in beiden Fällen beugten sich die Sender dem Druck der Bild-Zeitung, die die Fälle skandalisiert hatte.

Wo Journalist*innen zu Gericht gehen, bekommen sie nicht selten Recht – so im Fall mehrerer arabischer und arabischstämmiger Journalist*innen, denen die Deutsche Welle wegen angeblich antisemitischer Aktivitäten gekündigt hatte. Dies geschah häufig nicht aufgrund ihrer redaktionellen Arbeit, sondern aufgrund ihrer Beiträge auf privaten Social-Media-Kanälen. Auch hier hatte sich der Sender einem öffentlichen Druck gebeugt, wie Gerichte feststellten jedoch zu Unrecht. In der Presse wurde über die Kündigungen und Untersuchungen viel berichtet; von den Urteilen zugunsten der Journalist*innen liest man fast nichts.

Warum dieses restriktive, in Teilen rechtswidrige Vorgehen gegen Palästinenser*innen und ihre Sympathisant*innen? Häufig beruft man sich auf die besondere Verantwortung Deutschlands im Kampf gegen den Antisemitismus sowie darauf, dass die Existenz und Sicherheit Israels Teil der deutschen Staatsräson seien. Ganz abgesehen von der Frage, inwieweit gewisse Positionen, die von weiten Teilen der palästinensischen Bevölkerung geteilt werden, überhaupt als antisemitisch anzusehen sind, ist diese Erklärung nicht ganz schlüssig. Denn weder die besondere Verantwortung für den Kampf gegen Antisemitismus noch die Staatsräson sind geeignete Grundlagen, um Palästinenser*innen Grundrechte vorzuenthalten. Sie mögen den Staat und seine Institutionen binden, Einzelnen können sie im liberalen Staat jedoch nicht so einfach entgegengehalten werden.

Dialog ohne Meinungsäußerung?

Es ist viel davon die Rede, dass der Konflikt zwischen Israelis und Palästinenser*innen nur durch Verständigung zu lösen sei. Das entspricht dem demokratischen Grundverständnis des deutschen Staates, denn auch hier ist dieser Dialog ja wichtig. Damit ist es aber nicht vereinbar, wenn der Staat Palästinenser*innen daran hindert, zu demonstrieren und ihre Position deutlich zu machen. Denn gerade Menschen, die keinen Staat und keine staatlichen Vertreter*innen haben, sind darauf angewiesen, ihre Positionen in Versammlungen und Meinungsäußerungen zu Gehör bringen zu können. Es ist Aufgabe der Grundrechte – der Versammlungsfreiheit und der Meinungsfreiheit insbesondere – das zu ermöglichen. Auch Menschen, deren Ideologie der Staat mehrheitlich ablehnt, haben ein Recht auf Teilnahme an der politischen Meinungsbildung, haben ein Recht darauf, einer staatlich sanktionierten Position ihre eigene Meinung, ihre eigenen Interessen, entgegenzuhalten.

Wenn deutsche Staatsvertreter*innen im Konflikt zwischen Israel und Palästinensern eher die Seite Israels einnehmen, ist das eine politische Positionierung, zu der sie berechtigt sind und für die sie historische Gründe haben. Wenn sie aber Palästinenser*innen faktisch immer wieder die Möglichkeit nehmen, ihre eigene Position auch nur frei zu artikulieren, ohne dafür schon Sanktionen befürchten zu müssen, verlassen sie das System des Rechtsstaats und der demokratischen Meinungsbildung. Sie mögen es als Erfolg im Kampf gegen den Antisemitismus verbuchen wollen, wenn Palästinenser*innen davor zurückschrecken, sich öffentlich zu äußern, und wenn Kurator*innen das Risiko nicht eingehen, propalästinensische Künstler*innen einzuladen. In Wirklichkeit fallen sie damit in vordemokratische Muster politischer Auseinandersetzung zurück.

 

Wiederveröffentlichung des Beitrags

Dieser Beitrag erschien zuerst im medico-Rundschreiben 2/2023. Wir danken Medico International und dem Autoren für die Erlaubnis, den Beitrag hier wiederzuveröffentlichen.

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