Nur die eigene Blase sieht man nicht – ein (falscher) Einwurf zur Doppelmoral in Sachen WM in Katar
29. November 2022 | Demokratie und Partizipation
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Symbolbild. Bild: Lesly Juarez/ Unsplash

Sport und Politik sind nicht zu trennen. Das zeigen gerade die Diskussionen um die Fußball-WM in Katar, in denen gleich eine ganze Reihe postkolonialer Kontroversen aufscheinen. Die Debatte kommentiert Jochen Müller von ufuq.de.

Die eigene Blase ist nicht die Welt – sie fühlt sich nur so an. An diese schlichte  Weisheit erinnern die aktuellen Diskurse rund um die WM in Katar. Sehr zurecht werden darin vor allem in großen deutschen Medien die FIFA, die Vergabe der WM an Katar, die Arbeitsbedingungen in den zu erbauenden Stadien oder die LGBTQ-Feindlichkeit des ausrichtenden Regimes und seiner Repräsentanten ins Visier genommen. Allen voran die Bild, aber auch ARD und ZDF üben sich dabei in Sachen Empörung –  selbst die größten Fans boykottieren diese WM und die TV-Einschaltquoten fielen (bisher) wohl selten oder nie geringer aus. Das ist – bei aller berechtigter Kritik an FIFA und Katar – scheinheilig und doppelmoralisch.

Schließlich gibt es, wie jede*r weiß, in Deutschland keinen einzigen aktiven homosexuellen Bundesligaspieler bzw. keinen, der es gewagt hätte, sich zu outen [1]. Wenn sich also europäische Verbände darauf verständigen, dass ihre Kapitäne eine Binde in den Regenbogenfarben tragen sollen, dann ist das einerseits eine gute Geste für universelle Menschenrechte. Andererseits geht es bei der „guten Geste“, religiös gesprochen, in erster Linie um Absolution, weil man ja trotzdem mitmachen möchte. Vor diesem Hintergrund erwies sich am Ende die Macht des Weltfußballverbands größer als der europäische Wille zum Boykott.

Das gilt auch auf großpolitischer Ebene, wo das Regime in Katar, notgedrungen zwar, aber letztlich ganz selbstverständlich hofiert wird – etwa wenn es um Verbündete in der Region oder um Gaslieferungen geht, die gebraucht werden, damit im Winter möglichst wenige frieren müssen. Und wenn im Zuge der WM-Vergabe unisono und zurecht die Arbeitsbedingungen beim Stadienbau kritisiert werden verdrängen diese Stimmen meist gleichzeitig, dass es in erster Linie „unsere“ Lebensweise ist, die die Welt an den Rand des Abgrunds führt und Menschen in Pakistan und Bangladesch zwingt, sich auf Baustellen zu verdingen, in denen unser (fast) aller Lieblingsspiel gespielt werden soll [2]. So sind es auch am Ende vor allem die alten europäischen (Fußball)Mächte, die sich über den Austragungsort beklagen. Und darüber, dass bei der nächsten WM noch mehr Mannschaften – vor allem aus „dem Süden“ – teilnehmen werden, weil dies die fußballerische Qualität verwässere.

„Früher“ (also in der zweiten Hälfte des letzten Jahrhunderts) nannte man in kritischen Milieus das Denken und Sprechen in solchen Blasen „Ideologie“ oder „notwendig falsches Bewusstsein“, wobei Interessenlagen sowie gesellschaftliche und universelle Machtstrukturen selbstverständlich einbezogen wurden (= wer denkt was aus welchen Gründen). Heute sind es kaum zufällig häufig Menschen mit Migrationsgeschichte, die an ungleiche Machtverhältnisse erinnern und daran, dass alle Dinge mehr als eine Seite haben, die Welt also aus sehr unterschiedlichen Perspektiven betrachtet werden kann: In Stern-TV war es etwa der selbst in vielerlei Hinsicht umstrittene Comedian Serdar Somuncu, der fragte, warum nicht die olympischen Spiele in China oder die letzte WM in Russland ähnlich massiv infrage gestellt wurden und erklärte, dass ein Konkurrent von Katar bei der Bewerbung als WM-Austragungsort die USA gewesen seien, die ja Guantanamo zu verantworten hätten [3].

Wo fangen wir also an und wo hören wir auf mit „unserer“ Kritik, dem Boykott oder einer Intervention? Wie glaubwürdig ist es, sich im Namen des Guten zu empören – und dann trotzdem mitzumachen? Etwa so glaubhaft, wie im Namen von Menschenrechten in Kriege zu ziehen, in denen in erster Linie eigene Interessen verfolgt werden? In vielen Ländern sind westliche (?) universelle Ideale jedenfalls genau vor dem Hintergrund solcher Doppelmoral diskreditiert – für die im Übrigen gerade junge Menschen sehr sensibel sind. Um nicht missverstanden zu werden: Doppelmoral oder Widersprüchlichkeiten sind sowohl realpolitisch als auch in persönlichen Auseinandersetzungen nicht zu vermeiden –  aber zumindest der Widersprüchlichkeit eigener Positionen könnte sich jede*r bewusst sein und diese auch deutlich machen. Bloße Empörung dient in aller Regel dem eigenen Wohlbefinden.

Im britischen Sportmagazin „The Athletic“ (immerhin aufgegriffen vom deutschen „Kicker“) ist es der deutsche Kapitän Ilkay Gündogan, der auf weitere Perspektiven verweist, unter denen diese WM in Katar auch gesehen werden kann: Katar sei „sehr stolz darauf, die Weltmeisterschaft auszurichten – als erstes muslimisches Land“, erklärte Gündogan seinen Blickwinkel und betonte, dass er selbst „aus einer muslimischen Familie“ stamme, weshalb er eben auch diese Perspektive kenne: „Die muslimische Gemeinschaft ist stolz.“ [4].  Was heißt es nun für Kommunikation und Verständigung, wenn die einen aus mehr oder weniger guten Gründen „stolz“ auf etwas sind, was andere aus mehr oder weniger guten Gründen „verdammen“?

Das Gute an solchen und anderen postkolonial geprägten „Großkontroversen“, wie sie zuletzt auch im Rahmen der documenta 15 zu beobachten waren: Sie häufen sich, sie machen Perspektiven jenseits der eigenen Blasen sichtbar, die sehr unterschiedlich sein können – und im besten Fall stärken sie die Sensibilität für Ungleichheiten, Diskriminierungen und für die Stimmen von Betroffenen. Im Bereich von Schule und Bildung in der Migrationsgesellschaft hat der Soziologe Aladin El-Mafaalani solche Dynamiken auf den Begriff des „Integrationsparadoxes“ gebracht: Mehr Konflikte sind ein Zeichen zunehmender Integrationsbewegungen aller am Prozess Beteiligter. Gefordert wäre also im pädagogischen, im politischen wie im sportlichen Feld: weniger Selbstgerechtigkeit und etwas mehr Ambiguitätsbewusstsein.

 

Anmerkungen

[1] Auf die deutsche Doppelmoral in Sachen Homofeindlichkeit weist ausführlich ein Kommentar auf Spiegel Online hin.

[2] Ganz zu schweigen von den vielen Tausenden, die auf der Suche nach Lohn und Brot an den EU-Außengrenzen sterben: https://mediendienst-integration.de/migration/flucht-asyl/eu-asylpolitik.html

[3] www.instagram.com/reel/ClSsH0eqMDA/?utm_source=ig_web_button_share_sheet. Für viele Zuschauer*innen war eine von ihnen getragene Palästina-Armbinde wichtiger als die in den Regenbogenfarben – auch das ein kontroverser Ausdruck unterschiedlicher und unterschiedlich wahrgenommener Perspektiven und Bedeutungen.

[4] www.kicker.de/guendogan-die-zeit-der-politik-ist-vorbei-927567/artikel

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