Nasser#7Leben: Mut machen, um den Glauben an sich selbst nicht zu verlieren
6. Juli 2017 | Diversität und Diskriminierung, Gender und Sexualität, Jugendkulturen und Soziale Medien, Religion und Religiosität

Das Theaterstück „Nasser#7Leben“ verarbeitet die Lebensgeschichte von Nasser el Ahmad, einem jungen, schwulen Mann aus Berlin-Neukölln, der für sein Recht auf ein selbstbestimmtes Leben kämpft und dabei viele physische und psychische Verletzungen erlitt. Im Interview spricht das Team des Grips-Theaters, das das Stück auf die Bühne brachte, mit Mariam Puvogel von ufuq.de über die Herausforderung, eine Theaterdramaturgie über Nassers coming-of-age-Geschichte zu entwickeln, ohne dabei rassistische Stereotype über homophobe Muslim_innen zu bedienen.

Narben kann man hin und wieder betrachten. Die Augen zumachen und sich kurz daran erinnern, wie damals die Wunden entstanden sind, dann macht man die Augen wieder auf und sieht: ‚Hey, ich lebe gerade ein Leben, was mehr als herrlich ist.’“

Im Berliner Grips-Theater wird seit März mit großer Resonanz das Stück „Nasser#7Leben“ aufgeführt – fast alle Aufführungen waren bereits kurz nach der Uraufführung ausgebucht, im September wird es in eine zweite Spielzeit gehen. Das große Interesse an diesem Stück liegt nicht zuletzt an der Aktualität des Themas – denn wie das Thema Homosexualität in muslimischen Communities verhandelt wird, ist eine Frage, die in der Öffentlichkeit immer wieder kontrovers diskutiert wird. Seinen Erfolg verdankt das Stück aber darüber hinaus einer theaterpädagogischen Aufbereitung, die ohne gängige Stereotype über vermeintlich homophobe Muslim_innen auskommt. Dabei steht „Nasser#7Leben“ ganz in der Tradition des emanzipatorischen Kinder- und Jugendtheaters, für das das Grips bekannt ist. Wegen seiner sozialkritischen und partizipativen Stücke gilt es auch als „Mutmachtheater“.

Für die Entwicklung des Stoffes erarbeitete die Autorin Susanne Lipp über eineinhalb Jahre gemeinsam mit Nasser seine Geschichte. Diese enge Auseinandersetzung und Einbeziehung ist deutlich zu spüren. Dadurch schafft es das Grips mit „Nasser#7Leben“ eine Geschichte zu erzählen, in der die Ablehnung von Homosexualität, aber auch offene Gewalt und regressive Konzepte von „Familienehre“ angesprochen werden, ohne dabei in kulturalistische Erklärungsmuster über Muslim_innen zu verfallen.

Im Fokus des Stückes steht die ganz individuelle Entwicklung eines jungen Mannes, der sich durch weitaus mehr Aspekte als nur seine sexuelle Identität auszeichnet. Nasser ist nämlich nicht nur schwul, er ist außerdem ein junger Mann, der gerne tanzen geht, der seine Mutter liebt, der in Deutschland in einer migrantisch-muslimischen Community aufwächst, der seine Sneakers liebt, der es schafft, trotz aller Hindernisse seinen eigenen Weg zu gehen – und der beschließt, sich in seiner persönlichen Freiheit von niemandem einschränken zu lassen.

Auf die Frage, warum er sich trotz seiner Erfahrungen und der oft auch religiös begründeten Anfeindungen nach wie vor als gläubiger Muslim bezeichnet, antwortet Nasser ganz selbstbewusst: „Weil es für mich ganz normal ist, dass ich Muslim und schwul bin, wieso sollte ich das nicht mehr sein?“

Fragen an das Team von NASSER#7LEBEN

Was war der Grund für euch als Grips-Theater, nach Bekanntwerden von Nassers Geschichte zu entscheiden, dass ihr darüber gerne ein Stück für Jugendliche entwickeln würdet?

Unser künstlerischer Leiter Philipp Harpain hatte über Jugendliche von Nassers Geschichte und seinem Engagement für die LGBTQI-Community erfahren. Nasser ist ja damals ganz bewusst in die Öffentlichkeit gegangen und hat eine Demo gegen Homophobie in Neukölln organisiert. Der Mut und die Kraft, die Nasser dafür aufbrachte, zu seiner Identität zu stehen, hat Philipp stark beeindruckt. Ihm wurde klar, dass wir daraus ein Stück machen müssen und dass diese eine Geschichte auch für andere erzählt werden muss, die sich vielleicht in einer ähnlichen Lage befinden. In Nassers Geschichte stecken Themen, die universell sind und generell für viele Jugendliche gelten können: Das Hinterfragen von Autoritäten und den Werten der Eltern, der Wunsch nach Autonomie und das Verlangen, sich Freiräume zu schaffen und das Leben selbst in die Hand zu nehmen und zu gestalten. Für das GRIPS ist das Verhandeln von Themen aus der Lebensrealität junger Menschen ja schon immer ein wichtiges Anliegen gewesen. (Tobias Diekmann, Dramaturg)

Im Stück verarbeitet ihr ja sowohl die Hasskommentare, als auch die unterstützenden Nachrichten, die Nasser auf Facebook und Youtube nach seinem ‚coming out‘ bekam. Welche Rolle haben solche social media-Plattformen für Nassers Geschichte, und auch für euer Stück gespielt?

Nasser hat einen wahren Shitstorm erlebt, nachdem er auf seiner, damals noch öffentlichen, Facebook-Seite seine Geschichte sowie Links zu Interviews mit ihm in Zeitungen und TV gepostet hatte. Nichtsdestotrotz war die Mehrheit der Reaktionen positiv, was für ihn wichtig und unterstützend war. Im Stück behaupten wir Nasser als Youtuber, was er im echten Leben nicht ist. Diese Form hat sich für die theatrale Umsetzung aber sehr angeboten, da wir hier Kommentare als direkte Reaktion auf gespielte Szenen einsetzen konnten. Wir haben die originalen Kommentare als Grundlage genommen und für den Theatertext angepasst und verdichtet. Dass das Internet überhaupt und dann auch noch solch eine formgebende Rolle im Stück spielt, liegt daran, dass für den echten Nasser social-media-Plattformen ein wichtiges und viel besuchtes Medium darstellen. In unseren Gesprächen, die wir in der Recherchephase geführt haben, war sein Smartphone omnipräsent. Er hat ständig was darauf gezeigt, Fotos, Filme, Chatverläufe etc., so dass schnell klar war: Dieses Theaterstück braucht eine Erzählebene, in der es den Kommunikationsort Internet mit seinen Vorteilen und Abgründen gibt. (Susanne Lipp, Autorin)

Hattet ihr Sorge, in einer Zeit in der rechtspopulistische und antimuslimische Bilder Hochkonjunktur haben, die nicht selten mit dem Argument legitimiert werden, der Islam sei Frauen-, Homo*-,  oder Demokratiefeindlich, euer Stück könnte hier „Öl ins Feuer gießen“?

Ja, ich hatte sehr große Sorge deswegen! Ich habe aber verstanden, warum das GRIPS als aufklärerisches Kinder- und Jugendtheater diese (Berliner) Geschichte erzählen möchte und es ist auch eine Geschichte, die Mut macht, über Grenzen hinweg zu sich selbst zu stehen. Der Grad, auf dem wir uns bewegt haben, war dennoch sehr schmal. Es war ausschlaggebend, dass es die wahre Geschichte von Nasser El Ahmad war. Dass da ein junger Mann ist, der seine Geschichte erzählen will. Ich habe Nasser bei einem der ersten Treffen mit dem Theater kennengelernt und habe begriffen, dass er als Person jemand ist, der (junge) Menschen begeistern kann, der eine laute Stimme hat und diese auch nutzen möchte. Für Nasser war klar, dass das Theaterstück eine Fortführung seines politischen Engagements gegen Homophobie ist und wir eine Art Komplizenschaft eingehen, die auf starkem gegenseitigen Vertrauen beruht, gerade weil ich als weiße, christlich sozialisierte Frau nicht von islamophober Diskriminierung und Rassismus betroffen bin. Wir haben durch Recherche vor Probenbeginn und Inputs von Spezialistinnen während der Probezeit unser Wissen auf dem Gebiet Homosexualität und Islam erweitert, sodass wir den gängigen Klischees und Bildern über „schwulenhassende Muslime“ besser entgegentreten können. Es ist sehr deutlich geworden, wie verbreitet die Bilder tatsächlich sind und wie sie auch die queeren Communities allerorts zersetzen und spalten. Wir haben dann die Geschichte, die ja auf Interviews mit Nasser beruht, zum einen sehr deutlich als eine „Einzelgeschichte“ markiert, um die subjektive Perspektive zu stärken. Zum anderen haben wir immer wieder deutlich gemacht, dass Homophobie und Gewalt in allen Religionen, in allen Gesellschaftsschichten vorkommen können und vorkommen, eben in allen patriarchalen Gesellschaften!

Im Stück gibt es „Netz-Kommentare“ von anderen Jugendlichen, die diese Position deutlich machen und explizit die Position des Protagonisten (und auch anderer als muslimisch markierter Stimmen) hervorheben, die ein anderes Bild des Islams zeichnen, eines das nichts mit Gewalt und Menschenverachtung zu tun hat, sondern die Barmherzigkeit und Liebe als ihre höchsten Grundwerte hat. Durch die Form der Darstellung (Kostüme, Spiel, Sprache etc.) haben wir versucht, muslimischen Stereotypen keinen Platz zu geben bzw. in der Darstellung der Familie diese höchstens zu zitieren und gleichzeitig aber die emotionalen und allgemeingültigen Beweggründe der Figuren innerhalb des Familiensystems in den Vordergrund zu rücken. Ich hoffe sehr, dass sich dieser Aspekt auch für die jugendlichen Zuschauer*innen transportiert, so dass sie auch die Möglichkeit haben, ihre eigene Position und die ihrer Eltern (egal welcher Religionszugehörigkeit) besser reflektieren zu können. (Maria Lilith Umbach, Regisseurin)

Wie geht ihr mit Anfragen oder Kommentaren um, in denen deutlich wird, dass muslimische Jugendliche pauschal als besonders homophobe Problemgruppe gekennzeichnet werden?

Im Vorfeld der Premiere zu „NASSER #7Leben“ haben wir vor allem mit Lehrer*innen über das Stück gesprochen und es gab anfangs durchaus auch bei einigen wenigen Skepsis, ob sie mit ihren Schüler*innen in ein solches Stück gehen können. Viele seien aufgrund ihrer Religion homophob eingestellt, hieß es dann. Wir haben immer ermuntert, gerade dann in die Vorstellungen zu gehen, zumal wir stets daran geglaubt haben, diese Angst entkräften zu können. Und genau diese Erfahrung machen wir jetzt auch. Es ist jetzt so, dass bei den Publikumsgesprächen Besucher*innen jeden Alters oder backgrounds uns immer wieder spiegeln, wie wichtig und richtig es ist, diese Geschichte zu erzählen, gerade auch im Hinblick darauf, dass es viele junge muslimische Menschen gibt, die nicht homophob denken. Und die Jugendlichen selbst zeigen in den Nachgesprächen Nasser und seiner Geschichte gegenüber immer wieder den größten Respekt. (Tobias Diekmann, Dramaturg)

Worin seht ihr den Beitrag des Stückes für die pädagogische Praxis?

Uns war es einerseits wichtig, Nassers Geschichte zu erzählen, um Anstoß zum Austausch zu geben und auch Mut zu machen, den Glauben an sich selbst nicht zu verlieren. Gleichzeitig waren wir uns auch der Subjektivität von Nassers Geschichte sehr bewusst. Für uns geht es hier primär nicht um den Konflikt Sexualität und Religion, sondern um den Kampf gegen autoritäre Erwachsenenwelten, die einen mit physischer und psychischer Gewalt unterdrücken können. Religion oder Kultur werden hier als Rechtfertigung benutzt, auch auf diesen Missstand wollen wir hinweisen. Ähnliche Erfahrungen wie Nasser sie gemacht hat, passieren auch anderen jungen Menschen weltweit, aus ganz unterschiedlichen Ländern, Kulturkreisen, Hautfarben oder Religionszugehörigkeiten. Auch wenn Nasser nicht homosexuell wäre, hätte er an vielen anderen Punkten große Konflikte mit seinen Eltern austragen müssen. Es ist eher eine Inszenierung, die von Selbstbestimmung und Empowerment erzählt. Dass spiegeln uns auch viele Zuschauer*innen und vor allem junge Menschen in Gesprächen wieder. Und das sind alles Aspekte, die wir in unsere theaterpädagogischen Vor- oder Nachbereitungen zum Stück mit aufnehmen und verhandeln. (David Vogel, Theaterpädagoge)

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