Naschids – Der mitreißende Sound des Salafismus
6. Dezember 2016 | Radikalisierung und Prävention

Es sind heroische Lieder, deren schmissige Melodien sich ins Gedächtnis prägen: Naschids, die Hymnen der radikal-islamistischen Szene. Oft kommen sie in Kombination mit Propaganda-Videos: vermummte Kämpfer mit IS-Fahne bei Kampfhandlungen, bei Gräueltaten oder mit verklärten Blick in Richtung Sonnenaufgang. Verwundete Kinder, Kriegstrümmer. Es sind Videos, die aufwühlen – und die Musik trägt ihren Teil dazu bei. Der Islamwissenschaftler Behnam T. Said, der für den das Landesamt für Verfassungsschutz in Hamburg arbeitet, beschreibt in seinem Buch „Nashids – Hymnen des Jihad“ Ursprung, Idee und Wirkung der religiösen Songs. Im ufuq.de-Interview erklärt er, wie Lehrer_innen und Pädagog_innen reagieren sollten, wenn ihre Schüler_innen Naschids hören.

Herr Said, was sind eigentlich Naschids und wie funktionieren sie?

Es sind zunächst einmal religiöse Gesänge. Ursprünglich waren es keine islamistischen Kampflieder, sondern waren eher im Sufismus üblich. In den 70er Jahren wurden sie dann von der islamistischen Bewegung quasi gekapert. Im Grunde sind es politische Protestsongs. Sie entfalten ihre besondere Wirkung durch die Verbindung des religiösen Referenzrahmens mit politischen Inhalten. Musikalisch knüpfen sie an klassische religiöse Gesänge an.

Sind Naschids Teil der islamischen Tradition oder ist es ein modernes Phänomen?

Es ist eindeutig ein modernes Phänomen. Sie sind ein Produkt der islamistischen Bewegungen, die in der arabischen Welt in den 60er Jahren erstarkt ist. Parallel dazu ist auch eine spezielle Form der Dichtung entstanden. Es ist ja typisch für soziale Bewegungen, dass sie sowohl ihre eigene Kultur erzeugen als auch selbst Produkt einer bestimmten Kultur sind. Es ist hilfreich, die Islamisten auch zunächst einmal als soziale Bewegung zu betrachten. Eine Bewegung, an deren Rändern zwar militante Kräfte entstanden sind, die aber insgesamt wie eine soziale Bewegung agiert.

Warum sind die Naschids denn gerade jetzt so beliebt unter Jugendlichen?

Hier muss man unterscheiden: Was Motivation und Hintergrund angeht, unterscheidet sich hier die Bewegung in der arabischen Welt sehr stark von der in Europa. Wir interessieren uns aber ja in erster Linie für die Jugendlichen in Deutschland. Bei uns bilden sich schon seit Jahrzehnten immer wieder neue Subkulturen heraus. Rechtsrock ist da ein Beispiel. Jugendliche suchen sich ihre eigene Kultur oder Subkultur heraus. Sie haben eigene Codes, über die sie sich identifizieren. Sie grenzen sich von der Mainstreamkultur ab und zugleich auch von der Elterngeneration. Das spiegelt sich in den Liedern.

Naschids sind also ein Ausdruck einer deutschen Jugendprotestkultur?

Ja, die bisherigen Protestkulturen haben sich abgenutzt. Sie wurden zum Teil vom Mainstream aufgegriffen und haben dadurch ihr Protestpotential verloren. Naschids richten sich typischerweise nicht nur an die migrantische Gesellschaft. Auch andere Jugendliche hören Naschids. Der Salafismus spiegelt deutlich den multikulturellen Charakter unserer Gesellschaft. Es mag paradox scheinen, aber Salafismus kann auch als negativer Ausdruck fortschreitender Integrationsprozesse interpretiert werden. Daneben gibt es die militanten Kreise.  Da geht es dann nicht mehr nur um Identitäts- und Haltsuche, es wird vielmehr zum Kampf gegen die Gesellschaft mobilisiert, die als feindlich betrachtet wird.

Sie beschreiben in Ihrem Buch auch die Entstehung von deutschen Naschids. Was ist der Unterschied zum arabischen Original?

Deutsche Naschids unterscheiden sich hinsichtlich der Sprache. Das hört sich banal an, aber dahinter steckt mehr. Die arabischen Naschids folgen bestimmten klassischen Mustern der Dichtung. Das gibt den Naschids ihren besonderen Charakter und es lässt sich nicht so einfach in andere Sprachen übertragen. Oft hören sich arabische Naschids viel melancholischer an. Hinzukommt, dass die deutsche Szene noch sehr amateurhaft ist. Da zeigt sich schon im europäischen Vergleich: Die Naschids aus Frankreich sind viel anspruchsvoller. Das mag daran liegen, dass dort viel mehr Jugendliche rekrutiert wurden und dadurch die Wahrscheinlichkeit steigt, dass unter ihnen auch Talente sind.

Und wie sieht das Publikum die deutschen Naschids?

Sie gelten als authentisch und kommen deswegen gut an. Es ist wichtig für die Zielgruppe, dass man sich in der eigenen Sprache ausdrücken kann – und eben nicht auf Arabisch oder Paschtu oder Urdu. Das ist ja ein Grund, weshalb der Salafismus überhaupt attraktiv ist: Man spricht Deutsch.

Viele Naschids haben etwas sehr Ergreifendes. Können Sie noch etwas zur Wirkung dieser Musikform sagen?

Auf Deutsch finde ich die Lieder persönlich weniger ergreifend, aber sie tun ihre Wirkung. Sie dienen der Mobilisierung. Denn wie erreicht man junge Menschen? Einerseits werden sie durch Traktate und Aufrufe angesprochen. Doch ist immer nur ein Teil der Menschen durch so etwas ansprechbar. Viele andere erreicht man auf der emotionalen Ebene. Hierfür benötigt man eine spezielle Kultur, bzw. Subkultur. So beschreiben es übrigens nicht nur Wissenschaftler, die das Phänomen von außen betrachten. Sogar Anwar al-Awlaki, einer der wichtigsten Propagandisten von al-Qaida, der 2011 im Jemen getötet wurde, hatte dazu aufgerufen, Nashids in möglichst vielen Sprachen zu verfassen, um die Jugend weltweit anzusprechen. Diese Musik sind ein ganz wichtiger Bestandteil der dschihadistischen Kultur.

Was raten sie denn Lehrer_innen und Pädagog_innen: Wie sollen sie reagieren, wenn sie mitbekommen, dass Jugendliche Naschids hören und toll finden? Ist das ein Grund zur Besorgnis?

Da stellt sich zunächst die Frage, um welche Art Naschid es sich handelt. Sind es religiöse Songs oder wird zu Gewalt aufgerufen? Das sieht man oft leicht, denn zumeist werden die Naschids ja als Videos konsumiert. Wenn es sich nun um ein Naschid von al-Qaida oder so handelt, dann sollte etwas geschehen. Ich bin kein Pädagoge, aber ich würde es mit einem sehr offenen Gesprächsansatz probieren: Es geht darum herauszufinden, ob es sich um einen Jugendlichen handelt, der nur einmal hineinschnuppert oder ob er bereits ideologisch verfestigt ist und sich der dschihadistischen Szene angeschlossen hat. Zum Glück gibt es inzwischen in jedem Bundesland Beratungsstellen und Organisationen, die in solchen Fällen Hilfe leisten können. Vor allem ist es aber wichtig, dass die Lehrer_innen sich auf ihren gesunden Menschenverstand verlassen. Da kann hilfreich sein, die Parallele zum Rechtsradikalismus zu ziehen. Oft trauen sich Pädagog_innen in diesem Bereich eher ein Urteil zu. Auch ist emotionaler Abstand ganz wichtig. Eine Exotisierung ist wenig hilfreich, schließlich geht es erstmal um  eine jugendliche Protestkultur. Lehrer_innen sollten daher ihre eigenen Reaktionen reflektieren: Wenn ich alles abziehe, was mit Religion zu tun und nur das Politische lasse, halte ich es dann immer noch für gefährlich? Zudem kennen die Lehrer_innen ja die Jugendlichen und können einschätzen: Wie haben sie sich in den letzten Monaten entwickelt? Im Grunde können Lehrer_innen diese Situation am besten einschätzen. Sie dürfen sich nur nicht vom orientalischen Anschein ablenken lassen. Das ist nicht leicht, denn immerhin bringen die Jugendlichen damit deutlichen Protest gegenüber der Gesellschaft zum Ausdruck.

Zum Weiterlesen:

Naschids buch

Said, Behnam T.
Hymnen des Jihads
Naschids im Kontext jihadistischer Mobilisierung,
Ergon-Verlag, 2016
ISBN 978-3-95650-125-8

 

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