Nach Brüssel: Ist Religion eine Gefahr für die Gesellschaft?
30. März 2016 | Diversität und Diskriminierung, Radikalisierung und Prävention, Religion und Religiosität

Eine Mehrzahl der Deutschen sieht den Islam als Gefahr – auch, weil Muslimen pauschal anti-westliches Denken zugeschrieben wird. Doch das ist falsch, schreibt Yasemin El-Menouar, die bei der Bertelsmann-Stiftung für den Religionsmonitor verantwortlich ist.

Vor wenigen Tagen verübten Terroristen schreckliche Anschläge mit vielen Toten und Verletzten. Dabei beriefen sie sich auf den Islam. Wenn man jetzt die Frage stellt, ob eine  multireligiöse Gesellschaft eine Gefahr darstellt, haben viele Menschen eine vermeintlich einfache Antwort auf diese schwierige Frage. Aber wir sollten es uns nicht so einfach machen.

Deutschland ist – wie Belgien und der Rest Europas – ein vielfältiges und immer vielfältiger werdendes Land. Dass bei uns Menschen leben, die unterschiedlichen Religionen angehören oder gar nicht religiös sind, gehört zu den Wesensmerkmalen jeder modernen pluralen Gesellschaft. Die Jahrhunderte währende Verquickung von Politik und Religion ist in Europa schon lange beendet. Der moderne Staat ist säkular und somit Religionen und Weltanschauungen gegenüber zur Neutralität verpflichtet. Für ein friedliches Miteinander der Anhänger verschiedener Religionen und der Menschen, die nicht glauben, ist dies eine der Grundvoraussetzungen. Dabei muss Säkularität nicht zur Folge haben, dass Religion aus dem öffentlichen Leben verschwindet. Im Gegenteil, sie kann sogar Raum für religiöses Leben schaffen.

Eine Mehrzahl der Deutschen sieht den Islam als Bedrohung und glaubt, er passe nicht zur westlichen Welt.

In Deutschland lebende Muslime sagen oft, dass sie ihre Religion hier freier ausleben können als in ihren Herkunftsländern. Im Vergleich zur nichtmuslimischen Bevölkerung in Deutschland sind sie überdurchschnittlich gläubig und machen daraus auch keinen Hehl. Sie machen ihren Glauben in einer vom Bedeutungsverlust der Religion betroffenen Gesellschaft sichtbar. Die Debatten um das muslimische Kopftuch oder den Bau von Moscheen zeigen, dass dies von vielen in Deutschland lebenden Menschen nicht nur abgelehnt wird, sondern ihnen teilweise auch Angst macht.

Eine Sonderauswertung des Religionsmonitors der Bertelsmann Stiftung zum Islam zeigte im vergangenen Jahr, dass 57 Prozent der Deutschen im Islam eine Bedrohung sehen; über 60 Prozent sind der Meinung, der Islam passe nicht in die westliche Welt. Zwei Jahre zuvor waren die Werte noch deutlich niedriger. Die Studie zeigte jedoch auch, dass zwischen dem negativen Islambild in der Bevölkerung und den Lebenswirklichkeiten der in Deutschland beheimateten Muslime eine große Kluft besteht.

Eine Mehrzahl der hochreligiösen sunnitischen Muslime steht zur Demokratie und begrüßt die multi-religiöse Gesellschaft.

So stimmen 90 Prozent der hochreligiösen in Deutschland lebenden sunnitischen Muslime der Aussage zu, dass die Demokratie eine gute Regierungsform sei. Zudem sind sie für religiöse Vielfalt grundsätzlich offen, erkennen andere Religionen in hohem Maße an und pflegen umfangreiche Kontakte zu Nicht-Muslimen. Die zunehmende religiöse Vielfalt in Deutschland empfinden 68 Prozent der hochreligiösen Sunniten in Deutschland als Bereicherung. Der weitverbreiteten These muslimischer Parallelgesellschaften wird durch die Ergebnisse der Studie also weitestgehend die Grundlage entzogen. Aber warum klaffen Realität und Wahrnehmung in Sachen Islam so weit auseinander?

Durch die starke Berichterstattung über eine Minderheit extremistischer Muslime entsteht ein Zerrbild.

Eine Rolle spielen die Medien. In den medialen Debatten der letzten 15 Jahren hat sich ein Problemfokus auf den Islam etabliert. Eine kleine Minderheit extremistischer Muslime dominiert seit langer Zeit den öffentlichen Diskurs über die Religion. Die große Mehrheit der Muslime und die breite Vielfalt des Islams bleiben hingegen so gut wie unsichtbar. Denn wenn über des Islam berichtet wird, dann – wie auch jetzt wieder – überwiegend in Zusammenhang mit Terror, Frauenfeindlichkeit, Demokratiedistanz, Parallelgesellschaften und Kriminalität.

Rechtspopulisten greifen auf diesen „gefühlten Wissensbestand“ zurück. Spätestens seit den Vorfällen in der Silvesternacht in Köln werden gesellschaftliche Probleme wie sexuelle Gewalt gegenüber Frauen oft mit dem „Islam-Etikett“ versehen. Von vielen Menschen wird dies kaum noch hinterfragt. Gerade in der aktuellen Flüchtlingsdebatte wird besonders oft auf dieses negativ besetzte Islam-Narrativ zurückgegriffen. Gleichzeitig wird es im Zuwanderungskontext aktualisiert. Die Rechtspopulisten der „Alternative für Deutschland“ (AfD) machen sich dies zunutze und sind – wie die Ergebnisse der letzten Landtagswahlen zeigen – damit äußerst erfolgreich.

Was bedeutet das für die Zukunft der multireligiösen Gesellschaft? Wie kann ein friedliches Zusammenleben trotz der skizzierten Probleme gelingen?

Dazu brauchen wir vor allem eine sachliche und ehrliche Debatte über den Islam und die religiöse Vielfalt in Deutschland. Wir müssen besser erklären, dass es ein entscheidendes und unumkehrbares Merkmal unserer modernen Gesellschaft ist, dass hier Menschen leben, die unterschiedlichen Religionen angehören oder gar nicht religiös sind. Dabei muss stets klar sein, dass die Religions- und Weltanschauungsfreiheit dort aufhört, wo die Freiheit des Anderen beginnt. An die in Deutschland geltenden Gesetze müssen sich alle halten.

Die Wissensvermittlung über die religiöse Vielfalt und die Dialog- und Begegnungsmöglichkeiten müssen gefördert werden.

Um mehr Verständnis füreinander aufbringen zu können, müssen wir mehr übereinander erfahren und uns besser kennenlernen. Die Wissensvermittlung über die religiöse Vielfalt und die Dialog- und Begegnungsmöglichkeiten müssen deshalb gefördert werden. Wissen übereinander und Kontakt miteinander sind die besten Mittel um, Stereotype und Vorurteile abzubauen.

Wir müssen nicht alle Religionen und alle religiösen Positionen gut finden. Aber wir sollten versuchen, die Vielfalt auszuhalten. Anhänger verschiedener Religionen und areligiöse Menschen sollten in der Lage sein, sich miteinander auseinanderzusetzen und von einander zu lernen. Wenn uns das gelingt, kann die multireligiöse Gesellschaft das sein, was sie aus- und stark macht: eine dynamische und entwicklungsfähige Gesellschaft.

Dieser Kommentar erschien ursprünglich im Online-Debattenmagazin Tagesspiegel Causa. Wir danken der Autorin und den Herausgeber_innen für die Erlaubnis, den Beitrag hier zu veröffentlichen. Lesen Sie auch eine Gegenposition, der Historiker Michael Wolffsohn sagt: Das Verhältnis der Deutschen zum Islam hat das Potential zum Kulturkampf.

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