„Muslimisches Leben in Ostdeutschland prägt eine andere Geschichte als in Westdeutschland“
12. April 2022 | Geschichte, Biografien und Erinnerung, Religion und Religiosität

800x400_Gärten der Welt_maud-bocquillod-unsplash
Die Universität Leipzig versammelt in einem digital zugänglichen Sammelband unterschiedliche Perspektiven auf muslimisches Leben in Ostdeutschland. Thy Le von ufuq.de hat Mitherausgeberin Leonie Stenske zu den wichtigsten Erkenntnissen und Überraschungen des Sammelbandes befragt.

Die Publikation „Muslimisches Leben in Ostdeutschland“ (2021) können Sie hier kostenlos herunterladen.

 

Thy Le (ufuq.de):

Liebe Leonie, gemeinsam mit deinem ehemaligen Kollegen Tom Bioly hast du den Band „Muslimisches Leben in Ostdeutschland“ herausgegeben, der von der Universitätsbibliothek Leipzig gefördert wurde. Wie ist der Band zustande gekommen und was möchtet ihr mit dem Projekt erreichen?

Leonie Stenske:

Die Idee zu dieser Publikation ist 2019 geboren. Wir am Orientalischen Institut der Universität Leipzig haben gemerkt, dass es viele Abschlussarbeiten oder Hausarbeiten gibt, die nicht veröffentlicht werden, sondern in der Institutsbibliothek verschwinden – was ziemlich schade ist, weil in diesen Arbeiten oft originelle Forschung geleistet wird. Die empirische Datenlage zu Muslim*innen in Ostdeutschland ist sehr gering.

Also haben wir eine Publikation konzipiert, die die aktuelle Forschung präsentiert und online zugänglich ist. Der digitale und öffentliche Zugang zur Publikation war mir sehr wichtig, weil viele akademische Texte nicht frei zugänglich sind. Wir hatten so etwas noch nie gemacht und auch für die Autor*innen war es oftmals das erste Mal, dass sie etwas veröffentlichten. Wir wollten außerdem Muslim*innen in Ostdeutschland sichtbarer machen und den doch sehr dominanten Narrativen von muslimischem Leben in Westdeutschland entgegenwirken. Die Erfahrungen der Menschen, die sich als Muslim*innen identifizieren und in Ostdeutschland leben, werden in der Regel nicht mitgedacht. Der Sammelband bietet Einblicke aus verschiedenen Perspektiven auf muslimisches Leben in Ostdeutschland. Wir wollen damit keine grundlegenden Fragen beantworten, sondern wollen das Thema erst einmal auf die Bildfläche bringen.

Le:

Oft heißt es, dass in Ostdeutschland nicht viele Muslim*innen leben. Stimmt das?

Stenske:

Das stimmt, wenn man die Zahlen mit Westdeutschland vergleicht. 2021 ist eine neue Studie „Muslimisches Leben in Deutschland 2020“ vom Bundesministerium Migration und Flüchtlinge herausgekommen. Darin heißt es, dass 3,5 Prozent der muslimischen Bevölkerung Deutschlands in den Neuen Bundesländern leben. In der Studie selbst gibt es keine absoluten Zahlen. Ich habe das hochgerechnet: Es gibt 5,3 bis 5,6 Millionen Muslim*innen, die in Deutschland leben, also müssten ca. 185.500 bis 196.000 Personen aus dieser Gruppe in Ostdeutschland leben. Was deutlich ist: Die Tendenz steigt, durch die seit 2015 angestiegenen Migrationsbewegungen.

Le:

Welche Unterschiede gibt es zwischen muslimischem Leben in Ost- und Westdeutschland?

Stenske:

Muslimisches Leben in Ostdeutschland prägt eine andere Geschichte als in Westdeutschland. Damit unterscheidet sich auch die Zusammensetzung der muslimischen Bevölkerung in Ost und West. Erstere sind häufig im Zuge von erzwungener Migration und Flucht nach Deutschland gekommen, letztere blicken auf eine Migrationsstruktur besonders geprägt durch Anwerbeabkommen zurück. Auch das organisierte religiöse Leben unterscheidet sich: Muslimische Dachverbände sind in Ostdeutschland in deutlich geringerer Zahl vertreten. Auch Anlaufstellen für von Rassismus betroffene Menschen sind in Ostdeutschland weniger zu finden. Es gibt in den Neuen Bundesländern keinen islamischen Religionsunterricht. Christoph Gümmer beschäftigt sich in seinem Beitrag dezidiert mit einzelnen Gemeinden in Leipzig und Martin Zabel mit einer Gemeinde in Rostock. Beide stellen fest, dass Muslim*innen zwar bereits in der DDR ihre Religion öffentlich praktiziert haben und dabei vom Staat auch geduldet wurden. Es handelte sich dabei aber um Einzelfälle, in der Regel wurden keine Selbstorganisationen wie in Westdeutschland gegründet. Das ist ein Grund, weshalb heute deutlich weniger Gemeinden in Ostdeutschland in Besitz von eigenen Räumen sind. Moscheegemeinden in Ostdeutschland müssen im Gegensatz zu vielen Gemeinden in Westdeutschland ihre Räume mieten. Ayşe Almıla Akca hat in ihrem Beitrag einen guten Überblick über einige dieser Aspekte geschrieben.

Es gibt natürlich sowohl in Ost- als auch in Westdeutschland Unterschiede zwischen Stadt und Land. Auf dem Land findet man generell eine geringere Dichte an Angeboten wie Frauentreffpunkten, Jugendtreffs oder auch anderen infrastrukturellen Einrichtungen wie regionalspezifischen Einkaufsläden, in denen man bestimmte Lebensmittel kaufen kann, vor.

Le:

Welche Einstellungen gegenüber Islam und Muslim*innen findet man in der ostdeutschen Bevölkerung?

Stenske:

Wir haben uns nicht dezidiert mit dieser Frage befasst, denn wir wollten nicht die nicht-muslimische ostdeutsche Bevölkerung, sondern das religiöse Leben in den Fokus nehmen. Dennoch kann das eine nicht isoliert von dem anderen betrachtet werden. In den einzelnen Beiträgen kommt diese Frage auch immer wieder zum Vorschein. Tarek El-Sourani und Salim Nasereddeen haben zum Beispiel für ihren Beitrag eine Familie in einem kleinen Dorf in Brandenburg besucht, die zum Islam konvertiert ist. Wie ist es, als sichtbar muslimische Familie in diesem Dorf zu leben? Diese Familie beschreibt auf der einen Seite einen großen Zusammenhalt innerhalb des Dorfes, aber auch Diskriminierung. Auf der anderen Seite haben Emanuel Schröder und Dorothea Schmidt Berater*innen und Sozialarbeiter*innen befragt, die in Sachsen-Anhalt in Beratungsstellen für von Rassismus betroffene Menschen arbeiten. Sie berichten aus ihrer Arbeit und von den Erfahrungen ihrer Klient*innen und bestätigen, dass rassistische Anfeindungen und Übergriffe für diese Menschen Alltag sind.

Sophie Bärtlein und Carlotta Gissler beschäftigen sich in ihrem Beitrag mit dem „Halbmondlager“, einem Gefangenenlager in Wünsdorf, in dem während des Ersten Weltkriegs Kriegsgefangene interniert wurden, die als ‚muslimisch‘ galten. Sie beschreiben, wie dieses Lager erinnert und vergessen wurde und berichten, dass sich auf dem Stück Land, auf dem sich das Kriegsgefangenenlager befand, jetzt eine Erstaufnahmeunterkunft für Geflüchtete befindet. Die Autor*innen beschreiben die Reaktionen der Stadtbevölkerung auf diese neue Einrichtung: Da gibt es sowohl Unterstützer*innen als auch Gegner*innen.

Le:

Der Band nimmt also auch eine historische Perspektive ein, bis zurück zum Ersten Weltkrieg. Welche geschichtlichen Kontinuitäten im Umgang mit muslimischen Leben konntest du erkennen? Und wie prägen diese die heutigen Bilder?

Stenske:

Was mich tatsächlich sehr überrascht hat, kommt in dem Beitrag von Anna Hampel und Nike Löble gut zur Geltung. Auch sie befassen sich mit dem „Halbmondlager“ in Wünsdorf und betrachten die Islampolitik im Kaiserreich und in der DDR im Vergleich. Im Kaiserreich wurde der Islam als Ressource gesehen. Das unterscheidet sich von einzelnen Stimmen der Gegenwart, die den Islam als zu beherrschende Gefahr sehen. Zu Zeiten des Kaiserreiches dachte man, Muslim*innen instrumentalisieren zu können. Das waren meistens Menschen aus den Kolonien auf dem afrikanischen Kontinent, Indien oder arabisch-sprachigen Gebieten, die von der britischen und der französischen Armee als Soldaten zum Kämpfen nach Europa beordert wurden. Sie gerieten dann in deutsche Kriegsgefangenschaft und wurden von den Deutschen in Wünsdorf in einem eigens für Muslime errichtetes Lager interniert. In diesem Lager wurde zum Beispiel auch die erste Moschee in Deutschland errichtet. Es wurden Versuche unternommen, Muslime davon zu überzeugen, dass sie in den kolonisierten Gebieten gegen die kolonialen Gegnermächte revoltieren sollten. Die Idee des Dschihads also des Heiligen Krieges, wurde dafür instrumentalisiert. Die deutsche Kolonialmacht dachte, dass alle Muslim*innen auf der Welt die kolonialen Gegnermächte stürzen. Das hat nicht funktioniert.

Hierin wird die Idee des*r formbaren und manipulierbaren Muslim*in deutlich. Dem liegt eine Vorstellung vom Islam als primitiver Religion zugrunde, die auf einfachen Grundsätzen von Freund/Feind beruht. Wie wurde nun der Islam in der DDR gesehen? Auch in der DDR wurde eine Minderwertigkeit des Islams konstruiert – es hieß, dass der Sozialismus in Ländern wie Ägypten über die Religion triumphiert habe. Dieses Narrativ änderte sich erst in den 1970er-80er Jahren, als der Islam plötzlich als Gefahr wahrgenommen wurde. Dies hängt mit politischen Entwicklungen wie z.B. der Iranischen Revolution zusammen.

Le:

Welche Erkenntnisse haben dich überrascht?

Stenske:

Ich finde es immer wieder erschreckend, mit welcher Skrupellosigkeit das deutsche Kaiserreich damals bei der Planung und Ausführung dieses Kriegsgefangenenlagers vorgegangen ist. Es gibt kaum Wissen dazu in der deutschen Gesellschaft. Wie im Ersten Weltkrieg versucht wurde, Muslim*innen zu instrumentalisieren, um den Krieg zu gewinnen, fehlt im kollektiven Gedächtnis. Dabei war das Kriegsgefangenenlager nicht unweit von Berlin. Wünsdorf wird heute hauptsächlich aufgrund der großen Bunker aus der Zeit des Nationalsozialismus und der DDR besucht – aber an diesem Ort stand noch davor die erste Moschee Deutschlands.

Ähnliche Beiträge
Weiterlesen
Skip to content