In Diskursen über Jugendliche mit Migrationsgeschichte werden diese oft stereotyp als problembeladen dargestellt. Wenn die Ursachensuche dann zu einer bloßen Islamdebatte wird, geraten soziale Hintergründe aus dem Blick: Wie werden gesellschaftliche Gruppen benachteiligt und mit welchen Strategien begegnen Betroffene gesellschaftlicher Ausgrenzung?
Wenn in der Öffentlichkeit von „muslimischen“ Jungen oder jungen Männern gesprochen wird, werden diese oft als „kleine Machos“ oder „kleine Prinzen“ beschrieben. Es heißt, sie würden im Kontext der Familie nicht nur verwöhnt, sondern auch zu Gewalttätern und Frauenwächtern erzogen. Bei der Suche nach Gründen dafür wird oft der Islam herangezogen, der die Unterdrückung der Frau religiös legitimiere – so die Zuschreibung seitens vieler Medien und der Mehrheitsgesellschaft. Dadurch wird ein Feindbild geschaffen, in dem muslimische Jugendliche als Bedrohung für die eigene Kultur und die Errungenschaften der Emanzipation erscheinen. Während Teile der Politik, Medien und Wissenschaft sich in der Vergangenheit wenig trauten, Kritik am Islam und an Muslimen zu artikulieren, weil sie nicht der Ausländerfeindlichkeit bezichtigt werden wollten, hat sich das Bild spätestens seit den späten 1990er Jahren gewandelt. Ausgangspunkt war hier eine öffentliche Diskussion über Zwangsheirat, Gewalt und Ehrenmorde, die vielfach durch Migrantinnen und Migranten selbst angestoßen wurde.
Die Debatte wirkt oft pauschalisierend, weil sie den Islam als Ursache für Gewaltanwendung und Unterdrückung der Frau annimmt oder als rückständige Religion betrachtet. Die konkreten Lebens- und Sozialisationsbedingungen werden dabei ebenso wenig berücksichtigt wie die wirtschaftlichen, sozialen und Bildungsressourcen. Der öffentliche Tenor geht in eine fatale Richtung: Über die Etikettierung „Islam“ erfolgt eine Stigmatisierung und Segregation, die letztlich die angeblich erwünschte Partizipation der „Muslime“ erschwert. Die Jungen und jungen Männer, die nicht in dieses Raster passen, werden dabei kaum wahrgenommen. Vor allem wird übersehen, dass die etwa vier Millionen starke muslimische Bevölkerung in Deutschland in sich alles andere als homogen und ihre Auslegung des Islam uneinheitlich ist.
Für eine treffende Analyse der Lebensbedingungen arabisch- oder türkeistämmiger Jungen sowie für die tatsächliche Relevanz religiöser Einflüsse auf sie muss das monokausale Raster vom „muslimischen Jugendlichen“ beiseite gelegt werden. Religion ist nur ein Aspekt im Ensemble der Einflüsse, unter denen diese Jugendlichen stehen. Allerdings sollte das Ausmaß der Re-Islamisierung, insbesondere bei der dritten türkei- und arabischstämmigen Generation, wenn deren soziale und wirtschaftliche Partizipation in die hiesige Gesellschaft nicht erfolgreich ist, nicht verharmlost werden.
Familie versus Schule
Kinder und Jugendliche haben im Wesentlichen vier Lebensbezugspunkte: Familie, Schule, Peergroup und Medien. Diese vier Lebenswelten stellen Jugendliche türkeistämmiger und arabischer Herkunft vor besonders widersprüchliche Erwartungen. Die Nachkommen der Arbeitsmigrant_innen sind im deutschen Schulsystem nachweislich benachteiligt. Das liegt neben der selektiven Schulstruktur und wenig lernförderlichen Unterrichtsformen auch daran, dass in der Schule Werte wie Selbstständigkeit, Selbstdisziplin und Selbstreflexion (zu Recht) eine besondere Rolle spielen, allerdings (und hier ist das Problem) häufig vorausgesetzt werden. Doch viele dieser Jugendlichen wachsen, vor dem Hintergrund ihrer häufig ländlichen und Unterschichten-Herkunft, in autoritären Familienstrukturen auf, in denen Gehorsam, Unterordnung und nicht selten auch Gewalt den Alltag dominieren. Daher bringen sie eine deutlich geringere Affinität zu Selbstständigkeit mit.
Die Widersprüchlichkeiten im Verhältnis von Schule und Familie werden dadurch verschärft, dass die Eltern sowohl Loyalität gegenüber den traditionellen Werten als auch Erfolg in Schule und Beruf erwarten. Insbesondere für Jugendliche ergeben sich dadurch Konflikte zwischen schulischer und familialer Lebenswelt. Sie fühlen sich weder als „Deutsche“ noch als „Türken“ oder „Araber“. Sie suchen nach Orientierungspunkten, die Sicherheit bieten und Identität stiften. Genau dieser Effekt wird durch das Kollektiv der Peers mit ähnlicher Geschichte ermöglicht. Die Herausbildung der Hauptschule als „Restschule“ hat dazu geführt, dass sich dort junge Männer mit Zuwanderungsgeschichte konzentrieren, denen Anerkennung kaum ohne Gewaltanwendung zu verwirklichen ist. Sie finden mit einigen Freunden eine Art Ersatzfamilie, die füreinander fast alles tun. Es werden „eigene“ Anerkennungsformen geschaffen, die sowohl aus traditionellen Denkmustern als auch aus Privatfernsehsendungen und Internetseiten, die diese Jugendlichen erreichen, ableiten.
Sind ihre Sozialisationsbedingungen ungünstig, so identifizieren sich viele Jugendliche nicht mehr über eine erfolgreiche Schul- und Berufsausbildung, sondern legen beispielsweise Wert auf ein ausgeprägtes Männerbild, das mit religiösen Vorstellungen angereichert wird. Nach der Untersuchung „Kinder und Jugendliche in Deutschland“ (Dirk Baier et al.) schätzen 59,2 Prozent der „muslimischen“ Jugendlichen die Bedeutung der Religion für ihren Alltag als hoch ein, weshalb auch der Einfluss der Imame als religiöse Vorbilder sehr wichtig bleibt.
Bedingungslose Freundschaft
Andere Untersuchungen in den letzten Jahren belegen, dass gut ausgebildete junge Männer, die einen angesehenen sozialen Status haben, zum Beispiel keinen besonderen Wert auf Jungfräulichkeit der zukünftigen Ehefrau oder eigene ausgeprägte Männlichkeit legen. Die auffälligen oder gewalttätigen Jugendlichen betonen dagegen ihre Männlichkeit und wollen unbedingt eine Frau heiraten, die ihre Jungfräulichkeit bewahrt hat. Ehre und Männlichkeit spielen für sie eine wichtige Rolle. Diese Anerkennungsformen gehören dann zu den komplexen Ursachen für eine erhöhte Auffälligkeit „muslimischer“ Jugendlicher. Insbesondere in der dritten und vierten Migrantengeneration etabliert sich ein Werte- und Normenkodex, über den sie ihre Identität definieren. So rechtfertigen straffällige Jungen ihre Vergehen häufig mit ihrem Begriff der Ehre. Dazu gehört ein bedingungsloses Verständnis von Freundschaft. Sie setzen sich für den Freund ein, ohne den Zusammenhang zu hinterfragen. Ansonsten stünde nicht nur die Freundschaft, sondern auch die Ehre und Männlichkeit zur Disposition. Ehre und Männlichkeit sind Konstruktionen, die Orientierung schaffen und das Selbstwertgefühl stabilisieren.
Der Begriff Ehre klärt traditionell die Beziehung zwischen Mann und Frau sowie die Grenzen nach innen und außen. Ein Mann gilt als ehrlos, wenn seine Frau oder Freundin beleidigt oder belästigt wird und er nicht entschieden und empfindlich darauf reagiert. Dagegen gelten Männer als ehrenhaft, die Stärke und Selbstbewusstsein zeigen und die äußere Sicherheit seiner Familie garantierten. Der Begriff der Männlichkeit leitet sich also aus dem Verständnis von Ehre ab. Traditionell werden viele muslimische Jungen zu körperlicher und geistiger Stärke, Dominanz und selbstbewusstem Auftreten erzogen. Bereits im Kindesalter werden Jungen zum Ringen, Boxen und anderen Kampfsportarten ermutigt, während dies bei Mädchen kategorisch abgelehnt wird. Selbstbewusstes Auftreten wird jedoch nur in bestimmten Grenzen gefördert, denn auch volljährigen Männern wird der Wunsch verwehrt, das Elternhaus zu verlassen – es sei denn, sie heiraten.
Religion als Stolperstein?
Was bei der Betrachtung dieser Gruppe immer berücksichtigt werden muss, sind die schichtspezifischen und kulturellen „Hindernisse“. Grundsätzlich ist gesellschaftliche Etablierung für sozial Benachteiligte erschwert. Sozialer Aufstieg ist in der Regel mit der Distanzierung vom Herkunftsmilieu verbunden. Das fühlen Jugendliche mit Migrationshintergrund in besonderer Weise, da sie sich nicht nur vom sozialen Milieu, sondern auch von der Herkunftskultur entfernen. Für sie ist dies eine zusätzliche Schwierigkeit, da ihr Männlichkeitskonzept einerseits ein Risikofaktor ist, aber andererseits Orientierung stiftet.
Das Bild von „Muslimen“ in der Öffentlichkeit bleibt dabei selektiv. Das Verhalten des oben beschriebenen Milieus wird auf alle „muslimischen“ Jugendlichen projiziert. Die integrierten, unauffälligen und erfolgreichen jungen Männer werden nicht wahrgenommen. Es gibt durchaus eine große Gruppe junger Männer, die die traditionellen Werte anders interpretieren, ablehnen oder Patchwork-Identitäten annehmen. Die gängige Sichtweise in der deutschen Öffentlichkeit, der Islam sei per se fremdartig, blendet das aus. Gewalt ist daher weniger mit dem Islam als mit patriarchalischen Strukturen zu erklären, die die Eltern aus ländlichen Gebieten der Herkunftsländer übertragen haben und nicht sofort ablegen können.
Nicht auf gleicher Augenhöhe
Auch integrationspolitisch wird mit dem Feindbild Islam wenig erreicht. Vielmehr müssen auf gleicher Augenhöhe die Rahmenbedingungen für Integration verbessert werden. Immer noch werden in der öffentlichen Debatte Migranten als defizitär dargestellt. Auf ihre Kosten werden Wahlen bestritten und Stimmung gemacht, wie der Wahlkampf der hessischen CDU gegen die doppelte Staatsbürgerschaft 1999, die Beitrittsverhandlungen der EU mit der Türkei 2004, der Gesinnungstest für Muslime bei der Einbürgerung in Baden-Württemberg 2006, die kampagnenartige Diskussion um die deutsche Sprachpflicht auf Schulhöfen oder jene über so genannte Deutschenfeindlichkeit 2010 zeigen. Wenn darüber hinaus die Partizipation der muslimischen Heranwachsenden in das Schul- und Berufssystem, in die Arbeitswelt und in die Gesellschaft nicht optimal erfolgt, werden der Rückzug in die eigene Community und die Hinwendung zu extremen Weltanschauungen wahrscheinlich. Bevormundende Integrationspolitik, Benachteiligung und Pauschalurteile deuten muslimische Migranten dahingehend, dass sie nicht willkommen sind und als Belastung, defizitär und rückschrittlich wahrgenommen werden – was den Rückzug auf tradierte Wertvorstellungen und Identitätskonzepte weiter befördert.