Der Islam spielt für viele Jugendliche eine wichtige Rolle. Dennoch tun sich viele Pädagog_innen schwer damit, religiöse Themen aufzugreifen. Schließlich verbindet sich mit Bildungsarbeit auch der Anspruch, „religiös neutrales“ Wissen zu fördern und Jugendliche unabhängig von ihrer Religionszugehörigkeit anzusprechen. In diesem Artikel geht Dr. Sabine Achour der Frage nach, ob und inwiefern junge Muslim_innen eine „besondere“ Zielgruppe der politischen Bildung darstellen – und weshalb es sinnvoll sein kann, auch solche Themen aufzugreifen, die im Lehrplan nicht berücksichtigt werden.
„Der eine ist Muslim, weil es seine Eltern schon gewesen sind. Der nächste hat sich dem Islam zugewandt, weil seine Eltern keine oder nur in unzureichender Weise Muslime sind. Ein Fußballer erklärt mir, der Islam gehöre einfach dazu, wenn man ein Ausländer in Wilhelmsburg (Hamburg) ist (…). Ein Lehrling, der gern deutscher Beamter des Bundesgrenzschutzes wäre, ist Muslim, weil er nach eigener Aussage ein Türke ist. Sein Freund hingegen, mit dem er in derselben Fußballmannschaft spielt, hofft als Muslim den Christen gleichgestellt zu sein, anstatt ständig als ‚Türke‘ betrachtet zu werden“. [1]
Warum sich Jugendliche selbst als muslimisch bezeichnen, hat unterschiedliche und vielfältige Gründe. Häufig spielen die Beziehungen zu Freunden, Familie, Klasse und der Gesellschaft insgesamt eine Rolle, entweder um dazu zu gehören oder sich abzugrenzen. Es geht oft um Fragen von Anerkennung, Möglichkeiten von Empowerment oder aber auch um den Versuch, Marginalisierungsgefühlen etwas Eigenes, Autochthones entgegen zu setzen.
Für viele Jugendliche ist die Zugehörigkeit zum Islam eine Selbstverständlichkeit, wenn sie in einem – wie auch immer – muslimisch sozialisierten Umfeld leben. Nur ein geringer Teil von ihnen distanziert sich bewusst vom Islam – anders als im Christentum, in dem die Zugehörigkeit zumindest in der deutschen Gesellschaft eher als eine individuelle Entscheidung erfolgt.
Hybride und transnationale Identitäten
Für viele Jugendliche spielen Islam und Religion, Bezüge zu türkischen, arabischen, maghrebinischen, iranischen und anderen Gesellschaften häufig eine nicht unerhebliche Rolle bei der Identitätsfindung. Migrationserfahrungen in der Familie sowie weiterhin bestehende soziale, transnationale Netzwerke und die globale Mobilität halten – so die Ergebnisse der Migrationsforschung – „ethnische Ressourcen“ [2] lebendig. Dies sind z. B. Sprachkompetenzen und Musikstile, aber auch jegliche andere Dimensionen von Kultur und Religion. Lange ging man davon aus, dass die Bedeutung so genannter ethnischer Ressourcen im Generationenverlauf abnehmen würde. Stattdessen lässt sich der Aufbau von hybriden, transnationalen Identitätskonzepten beobachten, wobei die Individuen Lebens- und Kleidungsstile, Sprachen, Kommunikationsformen, religiöse und kulturelle Aspekte mischen. Durch soziale Netzwerke können sogar neue, transnationale Jugendkulturen und Identitätskonzepte wie der „Pop-Islam“ entstehen.[3]
Für die pädagogische Arbeit bedeutet das, dass sich muslimische Jugendliche nicht als homogene Zielgruppe bestimmen lassen. Vielmehr geht es im Sinne der Subjekt- und Adressatenorientierung darum, dem Thema Islam als einer möglichen Ressource vermehrt Aufmerksamkeit zu schenken.
Wenn an die 90% der Muslime Religion als wichtig erachten[4], scheint der Islam eine besonders zentrale Ressourcenquelle für den Aufbau von Identitäten darzustellen. Entscheidend für das Entstehen von positiven, hybriden, muslimisch angebundenen Identitätskonstrukten sind entsprechende Islamdeutungen. Diskriminierungs- und Marginalisierungsgefühle aufgrund von antimuslimischem Rassismus wie die Gleichsetzung von Islam mit Demokratieferne oder Radikalität und verwehrte Teilhabechancen stehen dem hinderlich gegenüber. Sie lassen einen Teufelskreis gesamtgesellschaftlicher negativer Deutungen um das Verhältnis von Islam – Demokratie – Gesellschaft entstehen.
Unvereinbarkeit von Islam und Demokratie?
75% der Deutschen meinen, der Islam passe nicht in die westliche Welt[5], er sei nicht vereinbar mit Menschenrechten, Rechtsstaatlichkeit, Grundwerten. Entsprechende Vorurteile, Stereotype und Kategorisierungen verengen sich zu einem Topos der Unvereinbarkeit von Islam und Demokratie[6].
Diese Vorstellung einer Unvereinbarkeit können auch Jugendliche empfinden, die sich als Muslime, „Türken“ oder „Araber“ von Teilhabemöglichkeiten in Deutschland, in dessen Demokratie, Rechtsstaat und von seinen Grundrechten ausgeschlossen fühlen. Der Nahostkonflikt steht für viele exemplarisch für die Marginalisierung der Muslime im Rahmen internationaler Beziehungen. Auf der Basis dieses Topos können so genannte „islamische Defensivkulturen“ aufgebaut werden. Extreme Beispiele sind der Salafismus oder der IS, deren Propaganda zentral von der Deutung der Unvereinbarkeit bzw. gar der „Feindschaft“ von Islam und westlicher Gesellschaft gespeist werden. Die angebotenen Identitätskonzepte stellen teilweise nicht unattraktive Angebote dar. Sie sind äußerst simpel mit klaren Freund-Feind-Schemata und einfachen Regeln. Sie bieten schnelle Erklärungen und belasten nicht mit kontroversen Diskussionen zu Geschlechterrollen, Teilhabemöglichkeiten und politischen Lösungsentwürfen.
Ihre Überzeugungskraft ist insbesondere deshalb stark, weil Jugendliche selbst selten Islamexperten sind. Salafistische Propaganda z. B. stößt auf ein umfassendes Wissensvakuum. Die Jugendlichen kann sie so in Faszination, die (politischen) Bildner/-innen in pädagogische Hilflosigkeit versetzen.
Werden in der Bildungsarbeit aber z.B. kontinuierlich gesellschaftliche Themen aufgegriffen, die auch aus muslimischen Perspektiven kontrovers diskutiert werden, können Deutungsalternativen angeboten und scheinbar einfache Lösungen, die die Freiheit und die Menschenrechte anderer verletzen, als solche möglicherweise demaskiert werden. Die Scharia mit Körperstrafen und Steinigungen gleich zu setzen[7] oder die Vorstellung, dass der Islamische Staat sich auf ein koranisches Gesellschaftskonzept berufen könne, sind häufig verkürzte Deutungen des politischen, teils extremistischen Islamismus. Die besondere Bedeutung der Scharia für viele Muslime liegt hingegen v.a. in ihrem ethischen Charakter in Bezug zu Grundwerten wie Gerechtigkeit und Solidarität bzw. in der Regelung der Glaubenspraxis: Fasten, Anzahl der Gebete, Wallfahrt, Almosen etc. All dies ist durch das Grundgesetz (Religionsfreiheit) geschützt, es widerspricht ihm nicht. Der Koran selbst gibt kein Gesellschaftskonzept vor, prinzipiell lässt er sich mit unterschiedlichen Systemen vereinbaren, z. B. mit der Demokratie. Wie dies aussehen kann, wird innermuslimisch seit Jahrzehnten diskutiert.
Für solche emanzipatorischen Deutungen müssen (politische) Bildnerinnen und Bildner allerdings auch aufgeschlossen sein. So weist Yasemin Karakaşoğlu darauf hin, dass der Islam von vielen Pädagog/innen als Widerspruch zu ihren pädagogischen Zielsetzungen empfunden wird[7]. Soziale Konflikte werden häufig religiös interpretiert, der Islam als ursächliches Problem für die Gleichstellung der Geschlechter, Emanzipation, Individualismus, Aufklärung und demokratisches Miteinander gesehen. Ein positives Islambild stellt eine Seltenheit dar.
Religion, Islam? „Heiße Eisen“ in der (politischen) Bildung
Insgesamt tut sich die (politische) Bildung schwer, überhaupt religiöse Aspekte aufzugreifen. In den Politik-, Sozial- und Erziehungswissenschaften herrscht in weiten Teilen so etwas wie eine Säkularisierungsgewissheit. Religion habe mit Moderne und Aufklärung nicht mehr viel zu tun, sie verliere an Bedeutung. Aber gerade Migrationsprozesse führen dazu, dass auch in westlichen, stärker säkularisierten Gesellschaften Religion wieder sichtbarer wird. Besonders in den Städten gibt es ein Nebeneinander von individualisierten, alternativen sowie traditionellen, orthodox religiösen Lebensformen. Die Herausforderung besteht langfristig darin, gemeinsam eine offene Gesellschaft zu gestalten – bei vergleichbaren Teilhabechancen.
So wie sich christliche, jüdische und humanistische Interessengruppen in gesellschaftlichen Diskursen wie z.B. zur Legalisierung der Sterbehilfe oder zur Flüchtlingspolitik positionieren, tun dies mittlerweile auch muslimische Verbände. Das ist ein positives Zeichen für einen funktionierenden Pluralismus. Allerdings ist die gesellschaftliche Anerkennung und Förderung einer dazu gehörenden „islamischen Infrastruktur“ (z. B. Religionsunterricht, islamische Theologie an den Universitäten, arabische und türkische Europaschulen etc.) in der Öffentlichkeit umstritten bzw. werden sogar abgelehnt. PEGIDA ist dafür zumindest ein Beispiel: Der Islam ist noch nicht wirklich in der Mitte der Gesellschaft angekommen ist.
Bildungsarbeit mit Jugendlichen beinhaltet die Chance, die nachwachsenden Generationen, muslimische wie nichtmuslimische Jugendliche, für gesellschaftliche Diversität, Buntheit und Offenheit zu sensibilisieren. Das beinhaltet hier konkret auch, einem negativen Islambild emanzipatorische Deutungskonzepte als Ressourcenquelle alternativ gegenüberzustellen. Nach Axel Honneth bedeutet gesellschaftliche Anerkennung eben nicht nur, dass bestimmte Eigenschaften toleriert werden, sondern dass eine Person in diesen (z.B. als Muslim/-in) auch positiv bestätigt wird.
Anmerkungen
[1] Tietze, Nikola (2003): Muslimische Identitäten. In: Bukow, Wolf-Dietrich; Yildiz, Erol (Hg.): Islam und Bildung, Opladen, S. 83.
[2] Berry, John W.; Phinney, Jean S.; Sam, David L.; Vedder, Paul (Hg.) (2006): Immigrant Youth in Cultural Transition. Acculturation, Identity, and Adaption Across National Contexts, Mahwah, New Jersey.
[3] Gerlach, Julia (2006): Zwischen Pop und Dschihad. Muslimische Jugendliche in Deutschland, Berlin.
[4] Pollack, Detlef; Müller, Olaf (2013): Religionsmonitor. Verstehen, was verbindet. Religiosität und Zusammenhalt in Deutschland, Gütersloh, S. 17.
[5] Ebenda, S. 40.
[6] Achour, Sabine (2013): Bürger muslimischen Glaubens. Politische Bildung im Kontext von Migration, Integration und Islam, Schwalbach/ Ts.
[7] Karakasoglu, Yasemin (2009): Islam als Störfaktor in der Schule. Anmerkungen zum pädagogischen Umgang mit orthodoxen Positionen und Alltagskonflikten, in: Schneiders, Thorsten Gerald (Hg.) (2009): Islamfeindlichkeit. Wenn die Grenzen der Kritik verschwimmen, Wiesbaden, S. 295