Digitale Spiele sind Bestandteil unserer Kultur und eignen sich damit auch als Medium der politischen Bildung. Das ist der Leitgedanke, der dem Beitrag von Dr. Kathrin Trattner zugrunde liegt, in dem sie Anregungen für die Nutzung von digitalen Spielen in der Auseinandersetzung mit den Themen Migration und Flucht gibt. Anhand von drei Spielen stellt sie unterschiedliche Zugänge vor, die sich auch in der Bildungsarbeit aufgreifen lassen.
Digitale Spiele eignen sich auf besondere Art und Weise, um andere Perspektiven auf bekannte Themen zu ermöglichen. Das hängt vor allem mit der Funktionsweise des Mediums zusammen: Spieler*innen sind schließlich nicht nur passiv Zusehende, sondern sie haben die (je nach Genre unterschiedlich stark ausgeprägte) Möglichkeit, den Fortgang des Geschehens zu beeinflussen oder zumindest aktiv voranzutreiben. Damit sind sie direkt in die Erzählung eingebunden, wie es zum Beispiel im Film nicht möglich ist. In der Spieleforschung spricht man hier von Immersion – vom Eintauchen in das Spielgeschehen, das Spielende selbst zum aktiven Teil der Erfahrung macht [1]. Diese unmittelbare Erfahrbarkeit unterschiedlicher Rollen und Perspektiven fördert Empathie für unterschiedliche Menschen und Gruppen und schärft ein Bewusstsein für gesellschaftliche Probleme [2]. Digitale Spiele eignen sich damit auch, um komplexe und auch schwierige gesellschaftliche Themen zu verhandeln und zu diskutieren. In den vergangenen Jahren wurde dabei zunehmend auch der Themenkomplex Migration und Flucht zum Gegenstand digitaler Spiele unterschiedlichster Genres.
Digitale Spiele gehören heute im globalen Rahmen zu den wichtigsten Medien, in denen das Thema Migration aufgegriffen und damit verbundene politische, soziale und kulturelle Fragen verhandelt werden [3]. Dies gilt gerade für Produktionen abseits des Mainstreams der Spielebranche. Hier lohnt sich nicht nur ein Blick auf die große Bandbreite an Serious Games – also Spielen, deren dezidierter Zweck es ist, nicht zur zu unterhalten, sondern vor allem Inhalte zu vermitteln und Reflexionsprozesse anzuregen – sondern auch auf sogenannte Indie Games, also kommerzielle Spiele, die durch unabhängige Entwickler*innen abseits großer Studios produziert werden.
Auch mit Blick auf Stile und Genres findet sich hier eine große Bandbreite, die deutlich macht, auf welch unterschiedliche Art und Weise Themen rund um Migration in digitalen Spielen verarbeitet werden. Eine gängige Strategie ist, dass Spielende die Rolle von Migrant*innen einnehmen, um deren Erfahrungen zu simulieren und folglich Empathie zu fördern [4]. Dies geschieht nicht nur über das Nacherzählen von Migrationsgeschichten, sondern über die direkte Interaktion. Wie der Spieleforscher Ian Bogost erklärt, zeichnen sich digitale Spiele vor allem durch deren Regeln aus, welche die Handlungsmöglichkeiten der Spielenden festlegen und begrenzen [5]. Über eben diese Eingrenzungen der Handlungsmöglichkeiten können Spiele soziale und politische Aussagen treffen und so Bedeutung schaffen. Im Falle eines Spiels, das sich mit Migration beschäftigt, kann dies zum Beispiel bedeuten, dass die eingeschränkte Handlungsmacht von Migrant*innen in bestimmten Situationen durch die Regeln eines Spiels simuliert und so für Spielende unmittelbar erfahrbar gemacht wird [6]. Dies war etwa der Fall bei Last Exit Flucht [7], einem 2012 vom UNHCR produzierten kostenlosen Browserspiel, in dem Spielende die Rolle eines/einer Geflüchteten einnahmen und wiederholt vor schwierige Entscheidungen gestellt wurden. Es gibt jedoch auch Beispiele für digitale Spiele, die sich dem Thema auf wesentlich abstraktere Weise nähern, wie etwa der spielbare Blogpost Parable of the Polygons. Durch das Verschieben geometrischer Formen mit begleitenden Erklärungen zeigt der Simulator auf, wie kleine, individuelle Vorurteile zu großen, gesellschaftlichen Vorurteilen werden können.
Im Folgenden werden drei besonders gelungene digitale Spiele vorgestellt, die das Thema Migration und Flucht aufgreifen und unterschiedliche pädagogische und didaktische Nutzungsmöglichkeiten bieten.
“Come on, we don’t have camels in the street!” – Path Out
Path Out ist ein 2017 erschienenes autobiografisches Adventure-Spiel des österreichischen Studios Causa Creations, das mit seiner Pixelgrafik stark an japanische Retro-Rollenspiele erinnert. Spielende schlüpfen dabei in die Rolle Abdullah Karams, eines jungen syrischen Künstlers, der 2014 im Alter von 18 Jahren aus seiner Heimat geflohen ist und selbst maßgeblich an der Produktion des Spiels beteiligt war. Im Comicstil zeichnet Path Out seine Flucht von den Anfängen in seiner Heimatstadt Hama bis zur türkischen Grenze nach. Zu Beginn des Spiels steht dabei vor allem sein Leben vor dem Krieg im Vordergrund. So wird der junge Abdullah beim Zocken in seinem Jugendzimmer gezeigt, bis die syrische Regierung den Strom abstellt. Wie er in einem Interview verrät, war es Karam vor allem ein Anliegen, aufzuzeigen, dass syrische Jugendliche vieles mit europäischen Jugendlichen verbindet, wie etwa die Liebe zu Computerspielen, und er vor dem Krieg auch ein ganz normales Leben geführt hat [8]. Im weiteren Verlauf von Path Out lernen Spielende auch Karams Familie kennen und nehmen Teil an der Entscheidung zu seiner Flucht nach Europa sowie am Abschied von seinen Eltern. Eine Besonderheit an Path Out ist, dass das Spielgeschehen immer wieder durch kurze Videosequenzen unterbrochen wird, in denen Abdullah Karam die Geschehnisse direkt kommentiert – auf teils unerwartet humorvolle Art und Weise.
So konfrontiert er die Spielenden auch mit Stereotypen gegenüber Geflüchteten und deren Herkunft, etwa als er ein auf der Straße herumstehendes Kamel ironisch kommentiert. Path Out schafft es besonders durch dieses Durchbrechen der sogenannten „vierten Wand“, eine persönliche Verbindung der Spielenden zu Abdullah Karams Geschichte herzustellen und der pixeligen Spielfigur ein Gesicht zu verleihen. Im pädagogischen Einsatz eignet sich das Spiel, um Verständnis und Empathie für Geflüchtete und deren persönliche Geschichten zu fördern und kulturelle Stereotype kritisch zu reflektieren. Path Out dauert ca. 30-45 Minuten und ist kostenlos auf Steam und Itch.io erhältlich. Zusätzliche Anregungen zum pädagogischen Einsatz von Path Out finden sich auf der Plattform Digitale Spielewelten.
Flucht mit dem Smartphone – Begrabe mich, mein Schatz
Ein ähnlicher thematischer Hintergrund, jedoch eine vollkommen andere stilistische Umsetzung, wurde beim Instant-Messaging-Spiel Begrabe mich, mein Schatz gewählt. Das 2017 in Kooperation mit ARTE entwickelte Spiel wird am besten auf dem Smartphone gespielt. Der Titel ist die wörtliche Übersetzung einer syrischen Redewendung, die vor allem zum Abschied gebraucht wird. Spielende begleiten in der Rolle von Majd dessen Frau Nour über einen Instant-Messaging-Dienst, der optisch an WhatsApp erinnert, auf ihrer Flucht von Syrien nach Europa. Über Benachrichtigungen erhalten Spielende in Echtzeit immer wieder Updates von Nour und werden mitunter vor schwierige Entscheidungen gestellt. Soll Nour den vom Schmuggler verlangten Aufschlag zahlen? Oder soll sie doch lieber kurzfristig ihre Route ändern? Die Ratschläge, die man als Spieler*in über den simulierten Messenger-Dienst schickt, können den Spielverlauf nachhaltig verändern. Insgesamt sind 19 unterschiedliche Enden des Spiels möglich.
Die Rolle, die von den Spielenden hier eingenommen wird, nämlich jene eines Angehörigen, ist besonders interessant, da es sich dabei um eine Perspektive handelt, die in digitalen Spielen zum Thema Migration und Flucht nur selten beleuchtet wird. Durch den Stil und Aufbau als klassischer Messenger-Dienst, der den Spielenden aus dem eigenen Alltag bekannt ist, wird die Grenze zwischen Spiel und Realität aufgeweicht. So bricht Nours Geschichte in den Alltag der Spielenden hinein, wodurch die Identifikation mit ihrem Mann Majd zusätzlich verstärkt wird. Begrabe mich, mein Schatz zeigt die schwierigen Entscheidungen, vor denen Geflüchtete stehen, detailreich und auf überaus persönlicher Ebene. Dabei bietet das Spiel auch Informationen über die unterschiedlichen Stationen auf Nours Reise. Aufgrund der vielen unterschiedlichen Szenarien, die das Spiel bietet, wäre eine Möglichkeit für den pädagogischen Einsatz, Spielende untereinander verschiedene Entscheidungen und Enden miteinander vergleichen und diskutieren zu lassen. Ausführliche Anregungen für den pädagogischen Einsatz von Begrabe mich, mein Schatz finden sich beispielsweise in einem Online-Kurs des Mahatma Gandhi Institute of Education for Peace and Sustainable Development (MGIEP) der UNESCO (auf Englisch).
Papers, Please – Ein dystopischer Dokumenten-Thriller
„Herzlichen Glückwunsch. Die Arbeitslotterie des Monats Oktober ist abgeschlossen, und Ihr Name wurde gezogen. Melden Sie sich umgehend zum Arbeitseinsatz beim Ministerium für Grenzschutz am Grenzübergang Grestin. […] Es lebe Arstotzka.“ So beginnt Papers, Please, ein 2014 erschienenes Indie-Game. Das mit zahlreichen Preisen ausgezeichnete Spiel zeigt eine andere, wesentlich abstraktere Annäherung an das Thema Migration als die ersten beiden Beispiele. Spielende übernehmen darin die Rolle eines Grenzbeamten im fiktiven Staat Arstotzka. Die Aufgabe besteht darin, die Dokumente all jener zu kontrollieren, die die Grenze passieren wollen. Dabei ändern sich die einzuhaltenden Vorschriften täglich. Das monotone Prüfen, Abgleichen und Stempeln von unzähligen Papieren muss zudem unter erheblichem Zeitdruck geschehen. Übersieht man dabei einen Fehler, wie etwa ein gefälschtes Siegel oder einen abgelaufenen Reisepass, werden Credits abgezogen. Diese braucht man jedoch, um Miete, Heizung und Essen für die Familie bezahlen zu können. Wie Karolina Kaczmarczyk vom Spieleratgeber NRW festhält: „Das Besondere an dem Newsgame ist nicht der Spaß, sondern das Ziel, den Spieler durch die monoton und eintönig dargestellten Spielinhalte mit einem unguten Gefühl zu entlassen. Hierdurch soll die Wichtigkeit der angesprochenen Themen betont werden.“ [9]
Der monotone Trott des Dokumente-Prüfens wird immer wieder durch Einzelschicksale von Migrant*innen unterbrochen. So werden Spielende in Papers, Please oft mit moralisch schwierigen Entscheidungen konfrontiert: Winkt man die verfolgte Frau trotz eines fehlenden Dokumentes durch? Oder weist man sie ab und schickt sie zurück in ihren sicheren Tod, um keinen Credit-Abzug zu riskieren? Abgesehen von den Risiken für die Spielfigur selbst – es sind insgesamt 20 unterschiedliche Enden möglich, viele davon im Gefängnis – wird Spielenden jedoch auch schnell klar, dass die Ungerechtigkeit in Papers, Please kaum durch individuelle Entscheidungen beeinflusst werden kann, sondern letztlich vom bürokratischen System und der Willkür des Staates an sich abhängt. Insgesamt bietet Papers, Please als Impuls reichlich Anregungen für Diskussionen über Grenzregime und Migration [10]. Durch die starke Abstraktion und das fiktive Setting ist es weniger konkret verortet und lässt sich dadurch auf unterschiedliche Zusammenhänge und Kontexte übertragen. Da das Spiel einerseits vom Gameplay her komplex ist und andererseits schwierige Themen auf sehr provokante Art und Weise verarbeitet, eignet es sich in der pädagogischen Arbeit insbesondere für Jugendliche ab 14 Jahren. Zusätzliche Impulse für die pädagogische Nutzung von Papers, Please findet man unter anderem auf der Plattform Games im Unterricht.
Hinweise und Anregungen für die pädagogische Arbeit
Digitale Spiele sind zentraler Bestandteil unserer Kultur. In ihnen kommen gesellschaftliche Diskurse und Werte zum Ausdruck, werden direkt oder indirekt durch sie verhandelt. Auch wenn ernsthafte Auseinandersetzungen mit Themen wie Migration und Flucht vor allem abseits der Mainstream-Spieleindustrie zu finden sind, gibt es zahlreiche Beispiele für gelungene Annäherungen an das Thema, die nicht nur als Impulsgeber für vertiefende Diskussionen dienen, sondern durch einen gezielten Perspektivwechsel sogar Empathie und Verständnis fördern können. Die drei vorgestellten Beispiele stellen nur einen kleinen Ausschnitt aus der großen Vielfalt an unterschiedlichen spielerischen Annäherungen an den Themenkomplex Migration dar, zeigen jedoch bereits die Bandbreite unterschiedlicher stilistischer Zugänge. Unabhängig von der Frage, welches digitale Spiel in einem pädagogischen Setting für welche Zielgruppe und welchen Zweck eingesetzt wird, seien abschließend noch einige wenige grundsätzliche Hinweise für die Nutzung digitaler Spiele im pädagogischen Kontext erwähnt.
Kontextualisierung: Wie beim pädagogischen Einsatz anderer Medien wie Film oder Literatur, ist es auch bei digitalen Spielen wichtig, den Entstehungskontext des jeweiligen Spiels vorab zu klären und zu diskutieren. Gerade bei Spielen, die sich kritisch mit gesellschaftspolitischen Themen auseinandersetzen, lohnt es sich, vorab nach Interviews mit den jeweiligen Entwickler*innen zu suchen, um die Intentionen des Spiels besser nachvollziehen zu können.
Themengeleitetes Spielen: Die Nutzung von Spielen im pädagogischen Kontext sollte durch einen thematischen Fokus geleitet sein, auf den die Aufmerksamkeit beim Spielen gerichtet ist. Je nach Spiel kann es sinnvoll sein, allein oder auch in Gruppen zu spielen.
Nachbereitung: Gerade wenn Spiele über einen längeren Zeitraum hinweg gespielt werden, ist es sinnvoll, Spielende ihre Erfahrungen laufend dokumentieren zu lassen, beispielsweise in Form eines Spieletagebuchs. Ein solches Spieletagebuch, das die subjektiven Eindrücke und Erfahrungen der Spielenden sammelt, kann später als Grundlage für Diskussionen in Gruppen oder für Präsentationen durch einzelne Spielende dienen.
Ressourcen nutzen: Das Potenzial digitaler Spiele, insbesondere im Kontext politischer Bildung, ist mittlerweile anerkannt. Dementsprechend gibt es einige überaus hilfreiche Ressourcen, über die pädagogisch wertvolle Spiele für unterschiedliche Zusammenhänge gesucht werden können oder allgemein Hinweise für eine pädagogische Nutzung von Spielen bereitgestellt werden. Hilfreiche Quellen dafür sind: Games for Change, Stiftung digitale Spielekultur, Spieleratgeber NRW, Digitale Spielewelten, spielbar.de oder Games im Unterricht.
Anmerkungen
[1] Laura Ermi und Frans Mäyrä, „Fundamental Components of the Gameplay Experience: Analysing Immersion.“ In DiGRA ’05 – Proceedings of the 2005 DiGRA International Conference: Changing Views: Worlds in Play, hrsg. von DiGRA, 1–15 (2005). http://www.digra.org/wp-content/uploads/digital-library/06276.41516.pdf (letzter Zugriff: 11. Oktober 2021).
[2] E. Shliakhovchuk, „Using Video Games in Intercultural, Diversity and Inclusive Education.“ In ICERI2018 Proceedings, hrsg. von L. Gómez Chova, A. López Martínez und I. Candel Torres, 10326–10337 (Sevilla, 2018), 10326.
[3] Esther Chin und Dan Golding, „Cultivating Transcultural Understanding through Migration-related Videogames.“ Asia Pacific Media Educator 26, Nr. 1 (2016): 83–98, 84.
[4] Sonja Gabriel, „Serious games: How do they try to make players think about immigration issues?“ Journal of Comparative Research in Anthropology and Sociology 6, Nr. 1 (2015): 100.
[5] Ian Bogost, „The Rhetoric of Video Games.“ In The Ecology of Games: Connecting Youth, Games, and Learning, hrsg. von Katie Salen, 117–140 (Cambridge, Mass.: MIT Press, 2008).
[6] Chin und Golding, „Cultivating Transcultural Understanding through Migration-related Videogames“, 88.
[7] Last Exit Flucht ist mittlerweile leider nicht mehr verfügbar.
[8] Martina Gassner, „«Path Out» macht die Flucht aus Syrien zum Spiel.“ SRF, 24. August 2017. https://www.srf.ch/radio-srf-virus/games/path-out-macht-die-flucht-aus-syrien-zum-spiel (letzter Zugriff: 16. Oktober 2021).
[9] Karolina Kaczmarczyk, „Papers, Please.“. https://www.spieleratgeber-nrw.de/Test.4377.de.1.html (letzter Zugriff: 15. Oktober 2021).
[10] In einer Studie zu Forumsdiskussionen über das Spiel stellt McKernan beispielsweise fest, dass Papers, Please Spielende dazu anregt, von sich aus ohne Anleitung öffentlich gesellschaftspolitische Themen wie Migration zu diskutieren, was ansonsten generell sehr selten in derartigen Foren stattfindet. Vgl. hierzu Brian McKernan, „Digital Texts and Moral Questions About Immigration: Papers, Please and the Capacity for a Video Game to Stimulate Sociopolitical Discussion.“ Games and Culture 16, Nr. 4 (2021): 383–406.