Was bedeutet „Nie wieder!“ im 21. Jahrhundert? Migration, Sozialisation und Erinnerung in Westdeutschland
30. Juni 2022 | Diversität und Diskriminierung, Geschichte, Biografien und Erinnerung

Ausschnitt aus dem Plakat „Kein Vergessen. Todesopfer rechter Gewalt in Deutschland nach 1945“. Illustration: moteus. Zu beziehen unter keinvergessen@posteo.de

Die deutsche Erinnerungspolitik muss sich aktuell fragen lassen: Was bedeutet „Nie wieder!“ im 21. Jahrhundert? Die rassistischen Attentate von Halle und Hanau lassen eine ideologische Nähe von antisemitischen und islamfeindlichen Tätern erkennen; die zarten Bänder jüdisch-muslimischer Solidarität stehen aufgrund von Antisemitismusvorwürfen unter Druck. Dr. Sonja Hegasy fragt in ihrem Beitrag: Sind wir Deutschen heute in der Lage, die Entmenschlichung unserer Nachbarn rechtzeitig zu erkennen?

Die deutsche Erinnerungspolitik gilt vielen als ‚Goldstandard‘ für die Aufarbeitung von Gewalt und Genozid weltweit. Die vielfältigen Formen der Erinnerung in Deutschland müssten auch ein Testfall für die Überprüfung des gern gebrauchten Postulats „Nie wieder Auschwitz!“ sein: Wird die deutsche Gesellschaft nun vor der Wiederkehr von Pogromen in besonderem Maße gefeit sein? Wird sie die Entmenschlichung ihrer Nachbar*innen diesmal rechtzeitig erkennen? Was machen die Deutschen aus ihrem „Wer sich nicht erinnert, ist verdammt, zu wiederholen“ im 20. und 21. Jahrhundert? Diese Fragen drängen sich hierzulande vielen Neuzugezogenen wie auch Menschen mit Migrationshintergrund der zweiten und dritten Generation auf, angesichts des Marschs der aggressiven Rechtspopulist*innen durch die Institutionen und der öffentlichen Attacken auf Jüd*innen wie Muslim*innen. Die Wirkung des deutschen Diktums wird im Kontext des Kriegs von Russland gegen die Ukraine nun plötzlich breit in der Gesellschaft diskutiert. Die Kriterien zur Beurteilung des „Nie wieder!“ sind nicht nur für die Partei Bündnis 90/Die Grünen in der Regierungsverantwortung ein moralisches Dilemma.
Henryk Broder schrieb einmal, die Deutschen verständen den Satz des Holocaustüberlebenden Hermann Langbein „Nie wieder Auschwitz!“ auf spezifische Weise, dass nämlich die Vernichtung in den Lagern von Auschwitz nie wieder passieren dürfe. Er insinuierte, dass die Deutschen wohl nicht in der Lage seien, sich Ausschwitz an anderen Orten und in anderen Ausmaßen vorzustellen – den Holocaust also zu vergleichen – und so gegebenenfalls gar nicht in der Lage wären, ein „Nie wieder!“ umzusetzen.

Westdeutsche Erinnerung

Breite Teile der westdeutschen Gesellschaft begannen ab 1979, mit Ausstrahlung der US-Serie Holocaust – die Geschichte der Familie Weiss, sich mit Opfern und Tätern des Nationalsozialismus auseinanderzusetzen. Zu dieser Zeit sah auch die deutsch-ägyptische Autorin dieses Beitrags im Alter von zwölf Jahren den Vierteiler und las eine Vielzahl von Jugendbüchern wie Als Hitler das rosa Kaninchen stahl (deutsch erschienen 1973), Damals war es Friedrich (10. Auflage von 1979), Ich bin David (4. Auflage von 1979) wie natürlich auch das Das Tagebuch der Anne Frank (47. Auflage von 1979). Seit den 1980er Jahren setzte sich also ein Großteil der westdeutschen Nachkriegsgesellschaft – und mit ihr der migrantische Teil – in Wissenschaft, Kultur und Politik mit dem Aufstieg des Faschismus, der Entwertung menschlichen Lebens und der Shoa auseinander. Der deutsch-ägyptische Journalist Karim El-Gawhary hängte einmal in seinem Büro die Fotos seiner beiden Großväter auf: Fez als Kopfbedeckung auf dem einen Foto, Uniform der Wehrmacht auf dem anderen. Diese Gleichzeitigkeit kann durchaus eine Art doppelte Implikation bedeuten, die sich weder gegenseitig ausschließt noch in einem Konflikt zueinander steht, sondern eine deutsche Realität ist.

Man kann erwarten, dass Migrant*innen, die sich in Deutschland niederlassen, sich intensiver mit der deutschen Geschichte und dem Holocaust beschäftigen. Sensibilität für den individuellen Bildungshintergrund und abgestimmte Bildungsangebote sind gleichwohl vonnöten und gibt es zunehmend auch. Man kann sich in diesem Zusammenhang aber auch sehr gut vorstellen, dass Nicht-Europäer*innen, die hier zum ersten Mal Bilder aus einem NS-Konzentrationslager sehen, Angst bekommen. Dies ist keine Schande oder Bildungslücke. Möglicherweise erleben sie Flashbacks, die die eigenen Gewalterfahrungen aktualisieren. Und sie fragen sich: Welche Kontinuitäten gibt es in Deutschland? Wie sind NSU, AfD, Naziaufmärsche und Alltagsrassismus vor eben dieser Geschichte einzuordnen und wären ähnliche Exzesse heute noch möglich? Schließlich fragen dies auch Vertreter*innen der deutschen Politik. Welche Garantien der Nicht-Wiederholung haben Menschen mit Migrationshintergrund und andere Minoritäten? Sind sie nur besonders dünnhäutig, wenn sie sich der deutschen Vergangenheit bewusst werden?

Halle und Hanau

In Hanau erschoss ein Täter am 19. Februar 2020 gezielt Menschen mit Migrationshintergrund in einer Shisha-Bar. Am 9. Oktober 2019 versuchte ein schwer bewaffneter Rechtsextremist an Yom Kippur mit Gewalt in die Synagoge von Halle einzudringen. Als ihm dies nicht gelang, erschoss er eine unbeteiligte Fußgängerin, fuhr zu einem türkischen Imbiss und erschoss dort einen weiteren Menschen. Im Heute Journal fragte Claus Kleber an diesem Tag den Rechtsextremismus-Forscher Hajo Funke zu den zwei Zielen – erst eine Synagoge, dann ein Döner-Imbiss. „Das wirkt ziellos und irre zunächst,“ so Kleber. An jenem 9. Oktober 2019 saß ich vor dem Fernseher und fand das gar nicht ziellos, sondern ziemlich glasklar und in sich geschlossen. Auf die deutlich qualifizierter gestellte Nachfrage von Pinar Atalay in den kurz darauf folgenden ARD-Tagesthemen, ob die Wahl des türkischen Imbisses, nachdem der Täter an der Synagoge scheiterte, zufällig gewesen sei, antwortet der Terrorismusexperte Georg Mascolo: Ja, er sei wohl wie viele Terroristen „nichts anderes als ein gemeiner Mörder“, der sich „einfach wahllos andere Opfer gesucht hat und diese ermordet hat.“

Der ideologische Überbau, der Antisemitismus und Islamophobie seit über 20 Jahren verzahnt, wird von diesen Experten in erstaunlicher Weise ausgeblendet. Erkenntnisse über die ideologische Nähe von antisemitischen und islamfeindlichen Tätern werden immer noch ignoriert. Dabei müsste das geübte deutsche Ohr bei der pauschalen Stigmatisierung einer Religion, ihrer Anhänger*innen und religiösen Praktiken sowie der Unterstellung, ihren wahren Glauben zu verheimlichen, aufhorchen. Insbesondere da diese Stigmatisierung all jene umfasst, die sprachlich, religiös und politisch vollkommen assimiliert in Deutschland leben (aber möglicherweise noch einen muslimisch klingenden Namen tragen). Wolfgang Benz fasste im Jahrbuch für Antisemitismusforschung von 2008 zusammen: „[D]as Phänomen der Islamfeindlichkeit [ist] deshalb interessant, weil weithin mit Stereotypen argumentiert wird, die aus der Antisemitismusforschung bekannt sind, etwa der Behauptung, die jüdische bzw. die islamische Religion sei bösartig inhuman und verlange von ihren Anhängern unmoralische Verhaltensweisen gegenüber Andersgläubigen.“ Wie in Radio- und TV-Sendungen dokumentiert, gibt es immer mehr Menschen in Deutschland, die sich nicht schämen, zu behaupten, „der Islam“ sei eine „Gewalt-“ und/oder „Hassreligion“.

Zielscheibe jüdische Solidarität

Die Solidarität des Zentralrats der Juden in Deutschland mit Opfern von islamo- und arabophoben Übergriffen ist in diesem Klima aus meiner Sicht von nicht zu unterschätzender Bedeutung. Während deutsche Medien etwa 2009 das rassistische Motiv beim Mord an der ägyptischen Pharmazeutin Marwa al-Sherbini in einem Dresdener Gerichtssaal – sie war Zeugin in einem Berufungsverfahren – verkannten, fuhr Stephan Kramer, der damalige Generalsekretär des Zentralrats, als Geste der Trauer und Betroffenheit nach Dresden. Der Tagesspiegel bemerkte erst rückblickend, anlässlich des Gedenkens zehn Jahre später: „[D]ie Tat [wurde] in Deutschland vergleichsweise wenig beachtet. Obwohl ihr Fall der erste war, der klar islamophob motiviert war – die NSU-Mordserie wurde erst zwei Jahre später durch die Selbstenttarnung dreier Täter des rechtsextremen Netzes bekannt –, gab es wenig Berichterstattung und kaum Stellungnahmen des offiziellen Deutschlands.“

Stephan Kramer aber schrieb schon wenige Tage nach dem Mord: „Ich bin nicht nach Dresden gefahren, weil ich als Jude Angehöriger einer Minderheit bin. Ich unternahm die Reise, weil ich als Jude weiß: Wer einen Menschen wegen dessen Rassen-, Volks- oder Religionszugehörigkeit angreift, greift nicht nur die Minderheit, sondern die demokratische Gesellschaft als Ganzes an. Deshalb ist nicht die Frage relevant, warum ein Vertreter der jüdischen Gemeinschaft Elwi Ali Okaz seine Trauer und Solidarität bekundete, sondern die, warum es nicht auch einen massiven Besucherstrom oder Solidaritätsadressen von Vertreter*innen der deutschen Mehrheitsgesellschaft gab? […] Es scheint, dass die deutsche Gesellschaft die Tragweite des Dresdner Anschlags nicht erkannt hat. Es fehlt die Erkenntnis, dass der Mord an Marwa al-Sherbini ganz offensichtlich das Ergebnis der beinahe ungehinderten Hasspropaganda gegen Muslime von den extremistischen Rändern der Gesellschaft bis hin in deren Mitte ist.“

Nie war ich dankbarerer für eine öffentliche Solidaritätsbekundung, für die man in meinen Augen schon damals Zivilcourage benötigte. Sie hat in mir ein Fundament gelegt, wie ich mir ein „Nie wieder!“ in Deutschland vorstelle. Es ist die jüdische Solidarität in Deutschland, die mich besonders berührt, mir Mut gibt, und die in meinen Vorstellungen von diversen Bedrohungsszenarien in der Zukunft eine wesentliche Rolle spielt. Ich weiß, dass auch andere Freund*innen mit Migrationshintergrund solche Bedrohungsszenarien im Kopf durchspielen. In meiner Schulzeit habe ich gehört: „Hegasy–Vergas’ sie.“ Man wäre daher ein Tor, vor dem Hintergrund der erlernten Geschichte, des eigenen Erlebens und des neu-alten Rechtsextremismus nicht über zukünftige Entwicklungen nachzudenken. Ich tue dies nicht jeden Tag. Aber es gibt eine korrelierende Befindlichkeit, die sich in meinem Leben in wichtigen Entscheidungssituationen bemerkbar gemacht hat und zu besonderer Vorsicht führt.

Gefährdete Solidarität

In jüdischen Kreisen gibt es inzwischen die Befürchtung, dass die Debatte um die wissenschaftliche Einbettung des Holocausts in den europäischen Kolonialismus sozusagen als Vulgärthese dazu genutzt wird, um den disponiblen Antisemitismus in neuem Gewand zu aktualisieren und das Geschehen des Holocausts zu verharmlosen. Gleichzeitig fällt auf, dass das Urteil ‚Antisemit*in‘ nun jüdische Intellektuelle trifft, die die israelische Politik gegenüber den Palästinenser*innen und die Besatzung der Westbank kritisieren. In dem Versuch, alle friedlichen Kommunikationskanäle zur Beilegung des Konflikts zwischen Israelis und Palästinenser*innen zu schließen, werden selbst Nachfahren von Holocaustüberlebenden als Holocaust-Relativierer*innen verunglimpft – eine für Deutschland ungewöhnliche Volte. Es wird kein Mittel gescheut, diese Stimmen zu verleumden. Heute scheint es für einige Deutsche Sinn zu machen, jüdisch-arabische Verbindungen zu kappen, Mitgefühl zu verhindern, und die Opposition zum status quo in Israel und den besetzten Gebieten zu diskreditieren. Plötzlich wird auf eine judeo-christliche Tradition rekurriert, die die dritte abrahamitische Religion bewusst außen vorlässt. „Das ist ein bemerkenswerter Vorgang“, so Heribert Prantl 2010 in der Süddeutschen Zeitung, „weil die nun beschworene Gemeinsamkeit über Jahrhunderte hin die Gemeinsamkeit von Tätern und Opfern war.“

In Reden dieser Art soll eine Solidarität erstickt werden, die im Nahen Osten schon erstickt wurde. Dies sind einerseits Solidaritäts- und Empathiebande zwischen jüdischen, christlichen und muslimischen Araber*innen über die israelische Grenze hinweg. Und andererseits – historisch – die Solidarität von Verfolgten in der Region, die in ihrer Not den Zusicherungen der Kolonialmächte folgten. Diese jüdisch-muslimische Solidarität der Verfolgten gab es (auch in der NS-Zeit, siehe bspw. die Arbeiten von Gerhard Höpp, Robert Satloff und Ronen Steinke) – und es gibt sie wieder. Zum Beispiel in den von Max Czollek 2020 kuratierten ‚Tagen der jüdisch-muslimischen Leitkultur‘ mit 40 Einzelveranstaltungen im deutschsprachigen Raum. Dem Autor wurde danach von Maxim Biller, einem zentralen Protagonisten im „Historikerstreit 2.0“ das Jüdisch-Sein abgesprochen. Ich stelle hier zunächst nur die Chronologie fest. Czolleks Jüdisch-Sein wurde nicht vorher bestritten.

Wer keine Kommunikation – und das heißt mit Blick auf Israel: keine Zweistaaten- und keine Einstaatenlösung – will, dem bleibt nur der status quo, d.h. die Besatzung der Westbank und die Abriegelung des Gazastreifens. Man kann Solidarität mit Israel aber auch anders denken: Sie bedeutet, sich weiterhin für eine Lösung des Israel-Palästina-Konflikts einzusetzen. Sich für eine friedliche Lösung einzusetzen, bedeutet das Leiden beider Seiten zu thematisieren, ein Gespür für aktuelle Formen von Entmenschlichung zu entwickeln und ihnen entgegenzutreten. Wir „Mischlinge“ lassen uns diese Israel-Solidarität nicht absprechen.

Plakat „Kein Vergessen. Todesopfer rechter Gewalt in Deutschland nach 1945“

Für die Bebilderung dieses Artikels haben wir einen Ausschnitt aus dem Plakat „Kein Vergessen. Todesopfer rechter Gewalt in Deutschland nach 1945“ verwendet. Illustration: moteus. Zu beziehen unter keinvergessen@posteo.de. Das Buch „Kein Vergessen. Todesopfer rechter Gewalt in Deutschland nach 1945“ von Thomas Billstein ist erhältlich beim Unrast Verlag.

Wiederveröffentlichung des Beitrags

Dieser Beitrag erschien zuerst auf der Plattform „Geschichte der Gegenwart“. Wir danken den Herausgeber*innen und der Autorin für die Erlaubnis, den Beitrag hier wiederveröffentlichen zu dürfen.

Die Beiträge im Portal dieser Webseite erscheinen als Angebot von ufuq.de im Rahmen des Kompetenznetzwerkes „Islamistischer Extremismus“ (KN:IX)
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