Neu vom Medienprojekt Wuppertal: eine Filmreihe über religiös begründeten Extremismus bei Jugendlichen
25. Februar 2020 | Radikalisierung und Prävention

Das Medienprojekt Wuppertal, eine der größten und ambitioniertesten Jugendfilmproduktionen Deutschlands, hat eine Reihe von Kurzfilmen zum Thema „religiös begründeter Extremismus“ bei Jugendlichen veröffentlicht. Was genau wird angeboten, und inwiefern eignen sich die Kurzfilme und Interviews, um das Thema als pädagogische Fachkraft mit Jugendlichen zu behandeln? ufuq.de-Mitarbeiterin Sakina Abushi hat sich die Filme angesehen.

Die DVD „Grenzgänger“ enthält fünf kurze Filme zum Thema religiös begründete Radikalisierung. Der Film „Der Gefährder aus der 10b“, der durchgängig von jugendlichen Darsteller*innen getragen wird, erzählt die fiktive Geschichte des 17-jährigen David, der zum Islam konvertiert und damit bei seinen Mitschüler*innen auf Unverständnis und Befremden stößt. „Machst du jetzt einen auf Muslim?“, fragt ein Mitschüler David. Als der Jugendliche auf dem Schulflur islamistische Flugblätter verteilt, kommt es zu einer Schlägerei mit einem muslimischen Mitschüler, der ihm vorwirft, die Religion in den Dreck zu ziehen. David entfremdet sich zunehmend von Freunden und seiner Familie und entschließt sich, sein Zuhause zu verlassen und seinen neuen „Brüdern“ in ein islamistisches Ausbildungscamp zu folgen. In letzter Sekunde hält seine Freundin Aylin ihn davon ab, es bleibt aber offen, wie sich Davids Geschichte weiter entwickelt.

Es gelingt dem Kurzfilm gut, Davids Suche nach Anerkennung und Orientierung darzustellen. Dabei verlieren die Protagonist*innen nicht unbedingt viele Worte – gelungene Kameraeinstellungen verdeutlichen die Fragen und Emotionen, die David beschäftigen.

In dem ebenfalls auf der DVD enthaltenen Dokumentarfilm „Dominic wurde Musa wurde Dominic“ erzählt Dominic Schmitz denselben Jugendlichen, die in „Der Gefährder aus der 10b“ spielen, von seiner eigenen Konversion zum Islam im Alter von 17 Jahren und seiner anschließenden Radikalisierung. Der Schritt in diese neue Welt habe ihm Kraft und seinem Leben einen Sinn gegeben. In einem langjährigen Prozess löste er sich von der salafistischen Szene und betreibt heute Aufklärungsarbeit. Originalaufnahmen aus dieser Zeit, die ihn im Gespräch mit dem salafistischen Prediger Pierre Vogel zeigen, verdeutlichen den Wandel, den er vollzogen hat.

Beiden Filmen gelingt es, die Gründe der beiden Protagonisten für ihre Radikalisierung nachvollziehbar zu machen: Einsamkeit, Sinnsuche und die Sehnsucht nach Anerkennung sowie ein mangelndes Selbstwertgefühl. Leider zeichnen die beiden ersten Filme der DVD dabei ein generell sehr negatives Bild von Konversion, die ausschließlich in den Zusammenhang von Extremismus und Gewalt gestellt wird. Sinnvoll wäre es gewesen, auch „ganz normale“ Konversionsverläufe darzustellen sowie zu verdeutlichen, dass die Radikalisierung von Konvertit*innen nur einen kleinen Teil des Spektrums von Radikalisierungsverläufen abbildet.

Das Medienprojekt Wuppertal konzipiert und realisiert seit 1992 erfolgreich Modellprojekte aktiver Jugendvideoarbeit unter dem Motto „das bestmögliche Video für das größtmögliche Publikum.“ Jugendliche und junge Erwachsene im Alter von 14 bis 28 Jahren werden bei ihren eigenen Videoproduktionen unterstützt. Die Videos werden im Kino, in Schulen und Jugendeinrichtungen in Wuppertal präsentiert und als Bildungsmittel bundesweit vertrieben.

Im Film „Jeder ist anders“ der DVD sprechen die Schüler*innen, die für die beiden ersten Filme der DVD vor der Kamera gestanden haben, in Einzelinterviews über ihre Bezüge zur Religion. Was glauben sie, wie leben sie ihre Religiosität und wie gehen sie mit Religion im Schulalltag um? Die kurzen Interviewsequenzen zeichnen ein vielfältiges Bild gelebter Religiosität und sind ein guter Aufhänger, um mit Schüler*innen über ihre eigene Haltung zu sprechen: Und wie hältst du es mit der Religion?

Die DVD beinhaltet auch zwei Interviews mit Expert*innen. Dr. Michael Kiefer, Islamwissenschaftler und Publizist, beschreibt Radikalisierungsverläufe und gibt Hinweise zu Prävention und Intervention. Pädagog*innen können von Kiefers Expertise zu den Gründen für Radikalisierung profitieren. Kiefer liefert auch Anhaltspunkte zu schwierigen Fragen: Wie unterscheide ich zwischen legitimer Religionsausübung und problematischem, vielleicht schon radikalem Verhalten? Welche Rolle kann religiöse Bildung bei der Prävention spielen? Kiefer schildert eindrücklich, welche Rolle Emotionen wie Zorn, Scham, Empörung und das Gefühl, im Alltag nicht respektiert zu werden, für Radikalisierungsprozesse spielen können.

Rabeya Müller, Islamwissenschaftlerin und Religionspädagogin, weist auf den in ihren Augen dramatisch angestiegenen antimuslimischen Rassismus in der Gesellschaft hin und bietet Einblicke in pädagogische Ansätze zur Prävention von Radikalisierung – sowohl innerhalb muslimischer als auch in nichtmuslimischen Communitys. Müller hält eine umfassendere Thematisierung des Islams jenseits negativer Zuschreibungen im Unterricht für sinnvoll, um Islamfeindlichkeit vorzubeugen. Interessant sind ihre Thesen zu Tradition und Religion: So hätten muslimische Schüler*innen Schwierigkeiten, zwischen Tradition und Religion zu unterscheiden. Eltern gäben oft unkritisch tradiertes Wissen weiter und vermittelten problematische soziale Regeln wie das Verbot einer Freundschaft oder romantischen Beziehung zwischen Muslim*innen und Nichtmuslim*innen. Es müsse der Mut zu kritischer Auseinandersetzung mit überliefertem religiösem Wissen und ein eigener Zugang zu den religiösen Quellen, aber auch eine offene Diskussionskultur innerhalb muslimischer Gruppen gefördert werden, fordert sie.

Müller rekurriert hier auf den Topos der Notwendigkeit einer innerislamischen Reform, der eine lange Tradition hat und auch heute von einer Vielzahl an islamischen Denker*innen und Intellektuellen vertreten wird. Sie spricht aus der Perspektive einer gläubigen Person, die sich in die Tradition dieses Diskurses stellt und ihre Mitgläubigen zu kritischem Denken auffordert. Trotzdem ist ihre These der Notwendigkeit religiöser Reform zur Prävention religiösen Extremismus diskussionswürdig. Lehrer*innen sollten die Idee, dass „der Islam“ reformbedürftig ist, nicht einfach übernehmen, sondern mit Schüler*innen offen darüber sprechen, ob eine klare Unterscheidung zwischen „Tradition“ und „Religion“ überhaupt so einfach vorzunehmen ist: War und ist Religion nicht immer eine Vielzahl gelebter Praktiken, also nichts anderes als „Tradition“?  Teilen die Schüler*innen Müllers Beobachtungen zu Beziehungen zwischen Muslim*innen und Nichtmuslim*innen? Wie erleben sie selbst das Verhältnis von religiöser Autorität und gelebter Religiosität?

Insgesamt handelt es sich bei der Filmreihe um eine gelungene Zusammenstellung verschiedener Stimmen, die Pädagog*innen die Thematisierung des Phänomens religiös begründeter Radikalisierung mit Jugendlichen ermöglicht. Dabei sollten einzelne Aussagen, wie die eines Zusammenhangs von Konversion und Radikalisierung, oder der Notwendigkeit innerislamischer Reform, mit Schüler*innen gemeinsam kritisch betrachtet und eingeordnet werden.

Die DVD „Grenzgänger“ kann über das Medienprojekt Wuppertal gekauft oder gegen Gebühr ausgeliehen, heruntergeladen oder gestreamt werden.

Kontakt:

Medienprojekt Wuppertal
Hofaue 59, 42103 Wuppertal
Tel.: 0202/ 563 26 47
Mail: info@medienprojekt-wuppertal.de

www.medienprojekt-wuppertal.de

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