„Loyalitäten sind kein Nullsummenspiel“ – Anregungen für die pädagogische Arbeit nach dem Referendum in der Türkei
14. April 2017 | Diversität und Diskriminierung, Geschichte, Biografien und Erinnerung, Religion und Religiosität

Wie geht es weiter nach dem Referendum in der Türkei? Diese Frage ist noch offen. Klar ist jedoch, dass das Thema auch weiterhin in Schulen in Deutschland eine große Rolle spielen wird: bei türkischstämmigen Schüler_innen, aber auch bei vielen herkunftsdeutschen Mitschüler_innen und ihren Lehrer_innen. In diesem Beitrag geht es nicht um türkische Politik. Der Beitrag gibt vielmehr Anregungen, wie sich eine Anteilnahme am Geschehen in der Türkei mit einer Zugehörigkeit zur Gesellschaft in Deutschland zusammen denken lassen.

„Loyalitäten und Identifikationen sind kein Nullsummenspiel“, erklärt Haci-Halil Uslucan in einem Artikel, in dem er das Verhältnis von Deutschtürk_innen zu Deutschland untersucht. Der Leiter der Stiftung Zentrum für Türkeistudien und Integrationsforschung warnt vor der verbreiteten Annahme, das große Interesse vieler Deutschtürk_innen am politischen Geschehen in der Türkei sei gleichbedeutend mit einer fehlenden Identifikation mit der hiesigen Gesellschaft. Viele Deutschtürk_innen fühlten sich sowohl Deutschland als auch der Türkei verbunden, ohne dass dies als Widerspruch wahrgenommen werde.

Zugleich betont Uslucan die Unterschiede und Konfliktlinien, die auch unter Deutschtürk_innen zu beobachten sind. „Auf der einen Seite gibt es eine starke religiös-konservative Orientierung, die den Islamisierungstendenzen in der Türkei zumindest wohlwollend gegenübersteht, aber (in Deutschland) die stärksten Ausgrenzungserlebnisse macht und zu Recht mehr Teilhabe und Gleichberechtigung einfordert“, schreibt Uslucan. „Auf der anderen Seite gibt es (unter den Deutschtürk_innen) eine linksliberale Orientierung, die den politischen Entwicklungen in der Türkei höchst kritisch gegenübersteht, zugleich aber auch skeptisch ist, was ein stärkeres Empowerment von Muslimen in Deutschland betrifft, weil sie diese als ‚rückständig’ und ‚vormodern’ deutet.“

Neben der Religiosität und der eigenen wirtschaftlichen Lage macht Uslucan auch Erfahrungen mit rassistischen Diskriminierungen als wichtigen Faktor aus, der das Gefühl der Verbundenheit mit der hiesigen Gesellschaft beeinträchtigt. Dies gelte gerade für Angehörige der dritten Generation, die sich – im Vergleich zur zweiten Generation – häufiger mit der Türkei und seltener mit Deutschland verbunden fühlen. Zu erklären sei dies damit, dass Angehörige der dritten Generation „deutlich sensibler gegenüber gesellschaftlicher Diskriminierung und verweigerter Zugehörigkeit sind. Sie verfolgen die zum Teil gehässig verlaufenden Diskurse zur Erwünschtheit und Integration von Zuwanderern aufmerksamer und haben die Gleichheitsgrundsätze wesentlich stärker verinnerlicht – weshalb sie auf Erfahrungen der Ungleichbehandlung mit einem ‚ethnischen Rückzug’ und der Aktualisierung herkunftskultureller Identitätsdimensionen reagieren.“

Das Referendum und die Frage, wie es in der Türkei weitergeht, spielt unter Schüler_innen eine große Rolle und ist ein Thema, das auch im Klassenzimmer diskutiert wird. Im Gespräch über dieses Thema sollten Jugendliche mit türkischer Migrationsgeschichte nicht in eine Expertenrolle über die Türkei gedrängt werden. Im Mittelpunkt steht das Ziel, die Vereinbarkeit einer gleichzeitigen Verbundenheit mit der Türkei und Deutschland deutlich zu machen.

Denn Identitäten sind vielschichtig: Eine Facette meiner Identität kann mir in einer bestimmten Situation besonders wichtig sein, während sie in einer anderen Situation kaum eine Rolle spielt. Als Tourist in Ägypten stellt man sich vielleicht als „Deutscher“ oder als „Christ“ vor, während dies im Alltag in Duisburg oder in München nicht unbedingt die ersten Begriffe wären, mit denen man sich selbst beschreiben würde. Ein gutes Beispiel für die Vielschichtigkeit von Identitäten formulierte jüngst der Bürgermeister von London, Sadiq Khan. In einem Interview nach seiner Wahl im Mai 2016 erklärte er: „Ich bin Londoner, ich bin Europäer, ich bin britisch, ich bin englisch, ich bin islamischen Glaubens, asiatischer Abstammung, pakistanischer Abstammung, ein Vater, ein Ehemann.“

Wenn es gelingt, Jugendlichen – unabhängig von Herkunft und Religiosität – ein solch reflektiertes Verständnis von Identität zu vermitteln, wäre in vielen Klassenzimmern viel gewonnen. Das bedeutet auch, auf Fremdzuschreibungen („Du bist doch Türke, wie siehst Du das denn mit Erdogan?!“, „Du bist doch Muslim, wie ist Du das denn mit dem Ramadan?“) zu verzichten und Jugendliche selbst formulieren zu lassen, was sie ausmacht und was ihnen wichtig ist.

Dies ist gerade vor dem Hintergrund der aktuellen Debatten um die Türkei und das Referendum von Bedeutung. Schließlich gibt es viele Menschen mit türkischer Migrationsgeschichte, die sich nicht mit der türkischen Politik identifizieren. Viele von ihnen empfinden Ansprachen als Türkei-Expert_innen als stigmatisierend. So berichtet die Bloggerin Esim Karakuyu auf ihrem Weblog, wie genervt sie davon sei, ständig auf Erdogan angesprochen zu werden: „Als ich letztens auf einer Rap-Seite die AfD kritisiert habe, haben andere LeserInnen mich darüber aufgeklärt, dass ich als ‚Türkin‘ doch erst mal Erdogan anschauen sollte. Man spricht mir und anderen in Deutschland und Österreich lebenden Menschen das Recht ab, in unserem Land, also DE und AT partizipieren zu dürfen! (…). Ich möchte eine Sache klarstellen: Erdogan ist nicht mein Vater, nicht mein Bruder, nicht mein Mann. Erdogan ist nicht mit mir verwandt oder verschwägert. Wir sind auch keine Blutsgeschwister, ganz romantisch gesehen. Ich hatte noch nie Kontakt mit ihm, ich habe nicht einmal einen Wikipediaartikel über ihn gelesen. Ich interessiere mich einfach nicht für ihn!“

Diese Aussagen sind durchaus typisch: Jugendliche in unseren ufuq.de-Workshops berichten häufig von ähnlichen Situationen, in denen sie dazu gedrängt werden, sich zu Erdogan zu positionieren. Oft wird dies als Distanzierungsaufforderung verstanden. Was das für einen Eindruck hinterlassen kann, beschreibt der Publizist Eren Güvercin sehr eindrücklich. Es bliebe oft nur die Wahl, sich als Erdogan-Fan zu outen oder sich um Differenzierung zu bemühen: “Aber die Differenzierung stellt die Leute leider nicht zufrieden, die vermuten dann dass man Erdogan eben doch ein kleines bisschen gut findet. Sie erwarten, dass wir Deutschtürken uns klar von Erdogan distanzieren. Viele Deutschtürken fragen sich aber: Warum muss ich mich überhaupt dazu positionieren? Und manche sagen dann eben: ‚Wenn wir hier so grenzenlos kritisiert werden, dann werde ich doch mit Ja stimmen – aus Trotz!‘ So sollte es eigentlich nicht sein.“

Auf humoristische Art beschäftigt sich auch der Kabaretist Abdelkarim mit diesem Thema:

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Im Folgenden haben wir einige Zitate von Deutschtürk_innen zusammengestellt, die sich für den Einstieg in ein Gespräch eignen. Sie geben einen Einblick in die verschiedenen Positionen, die von Blogger_innen, Wissenschaftler_innen und Künstler_innen vertreten werden und dienen als Anregung, um entsprechende Argumente und Perspektiven im Unterricht aufzugreifen:

Das Referendum in Deutschland

Betül (21) aus Aachen:Ich finde es erschreckend, dass Deutsch-Türken mit doppelter Staatsbürgerschaft die Wahl im April entscheiden könnten. Die Gruppe von Menschen, die am wenigsten von den Wahlergebnissen betroffen sein wird, könnte entscheiden, was in diesem Land passiert!“ (bento.de, 9. März 2017)

Samet (22) aus Berlin: „In den Medien werden die Auftritte türkischer Politiker diskutiert und meistens sind alle der Meinung, dass man diesen Politikern hier keinen Raum geben sollte. Klar, das ist kontrovers. Aber Pegida-Anhänger dürfen hier doch auch ihre Meinung kundtun – warum dann nicht auch Erdogan-Anhänger?“ (bento.de, 9. März 2017)

Eren Güvercin (Publizist): „Ich weiß nicht, ob Erdogan und seiner Lobbyorganisation hier in Deutschland bewusst ist, was sie damit hier anrichten. Dieser Populismus hat heftige Auswirkungen auf die hier lebenden türkischstämmigen Jugendlichen. Sie entwickeln Ressentiments gegenüber der Gesellschaft in der sie leben, sie werden von ihr entfremdet. Das ist ein Scherbenhaufen, mit dem wir Deutschtürken am Ende klarkommen müssen, während die AKP-Politiker und ihre Lobby wieder in Ankara sind und ihren Geschäften nachgehen. Das ist unverantwortlich. Und leider auch eine willkommene Vorlage für Rechtspopulisten und Fremdenfeinde, die jetzt schon diesen Populismus dankend aufnehmen und Stimmung machen gegen alles Türkische und Muslimische.“ (br.de, 28. März 2017)

Zur Mehrschichtigkeit von Identitäten

Hilal (19) aus Münster: „Viele Menschen denken immer, dass die doppelte Staatsangehörigkeit die Integration der Deutsch-Türken hemmt. Ich finde das nicht. Wir sind schon so weit, dass wir hier mit doppelter Staatsbürgerschaft leben können, in Vielfalt und ganz ohne Stress. Die Deutsch-Türken wachsen zwischen verschiedenen Kulturen auf, sehen zwei Länder als ihre Heimat an und fühlen sich beiden Ländern verbunden. Es wäre nur integrationshemmend, wenn man Menschen dazu zwingt, sich für die eine Kultur zu entscheiden – oder wenn man sie nur in der einen Kultur wählen ließe.“ (bento.de, 9. März 2017)

Feridun Zaimoglu (Autor): „Die letzten Tage waren geprägt durch widerwärtige Angriffe aus der Türkei, vom Gebell der Demagogen. (…) Mit dieser Türkei gibt es keinerlei Verständigung. Es sind mehr als 100 Journalisten eingesperrt und jetzt ja auch der ‚Welt’-Reporter Deniz Yücel – da fehlen einem wirklich die Worte. Der Größenwahn Erdogans, dieser neue Osmanismus, ist gefährlich. Es mag besserwisserisch klingen, aber die Sichtweise der Multikulturalisten in diesem Land zeugte immer schon von Verblendung. Friedliche Koexistenz der vielen Speisekarten in den Vierteln – die gab es so nie. Dass Deutschtürken heute so begeistert Fähnchen schwenken und augenscheinlich Erdogan hinterherlaufen, der mit ihrem Leben in Deutschland doch eigentlich gar nichts zu tun hat, kommt für mich nicht überraschend. Es ist ja immer mal wieder in Mode, Deutschland für alles verantwortlich zu machen, aber die Desinte­gration geht oft von der türkischen Minderheit selbst aus. Und auch, wenn das jetzt harte Worte sind: An der Erdogan-Begeisterung sieht man, wie blind und taub viele hier durchs Leben taumeln wollen.“ (Abendblatt.de, 11. März 2017)

Öğünç Kardelen (Sänger der KölnerBand Kent Coda): „Ob man Kulturen so verbinden kann, weiß ich nicht. Was wir machen ist, eine Leichtigkeit in die Kommunikation zu bringen. Im kulturellen Austausch ist alles so geregelt und formal und wir kommen auf die Bühne und machen unsere Sache: Ich mache Ansagen mit meinem gebrochenen Deutsch und wir sagen: „Hey, es gibt keinen Halay-Tanz oder deutschen Volkstanz“. Und alle machen das, was sie wollen. Diese Leichtigkeit ist glaube ich das, was die Leute zwischen diesen ganzen formalen Dingen wie Integration und Sprachkursen vermissen. Musik hat natürlich eine verbindende Wirkung und die Leute freuen sich wohl, wenn auf unseren Konzerten Türken neben Kurden und Deutschen zusammen tanzen. Aber wir sind eine ganz normale Band, wir machen das nicht, um Kulturen zu verbinden. Wir machen einfach unsere Musik und alle sind willkommen.“ (kukue.de)

Spannungen unter jungen Muslim_innen

Weblog Freitagsworte.de: „Wir Muslime in Deutschland thematisieren in regelmäßigen Abständen die mangelnde gesellschaftliche und politische Anerkennung in diesem Land, in dem viele von uns geboren und aufgewachsen sind. (…) Anerkennung ist nicht nur ein Thema, wenn es um gesellschaftliche Anerkennung geht. Anerkennung ist zuallererst ein Thema unter uns Muslimen. Mangelnde Akzeptanz und Anerkennung unter uns Muslimen ist der Hauptgrund für unsere Lethargie, mehr als die mangelnde politische oder gesellschaftliche Anerkennung. (…) Das ständige Klagen über eine mangelhafte gesellschaftliche Anerkennung (…) hat zur Konsequenz, dass andere, uns Muslime betreffende Grundsatzfragen in den Hintergrund geraten. (…) Dies schließt auch das Phänomen mit ein, dass man gerade in dieser aufgebrachten Atmosphäre zwar von Brüderlichkeit pausenlos redet, aber sich sehr genau überlegt, mit welchem Muslim man sich solidarisch zeigt und mit welchem bewusst nicht. Die fehlende Anerkennung in der Gesellschaft, die wir immer beklagen, spiegelt sich in der mangelnden Anerkennung unter uns Muslimen.“ (freitagsworte.de, 31. März 2017)

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