Lernen in der (Post-)Migrationsgesellschaft. Rassismuskritische Ansätze und Materialien
14. Februar 2024 | Demokratie und Partizipation, Diversität und Diskriminierung

Symbolbild; Bild: Angelina Bambina/iStock

Die zunehmende Pluralisierung der (post-)migrantischen Gesellschaft erfordert auch eine Neugestaltung des Lernens, die die Vielfalt von Geschichten, Interessen, Lebensentwürfen und -erfahrungen berücksichtigt. Ausgehend von rassismuskritischen Ansätzen gibt der Beitrag Hinweise darauf, wie sich das Lernen in der (Post-)migrationsgesellschaft gestalten lässt.

Eine Migrationsgesellschaft spiegelt sich in einer zunehmenden Vielfalt von Geschichten, Interessen, Lebensentwürfen und -erfahrungen. Diese Pluralisierung macht es notwendig, Lernziele und -inhalte auf Einseitigkeiten, Machtverhältnisse, Kontinuitäten und Leerstellen zu befragen sowie zu untersuchen, wie die gesellschaftliche Vielfalt in Lehr- und Lernkontexten angemessen repräsentiert werden kann. Anhand der bisherigen Erkenntnisse der Antisemitismus- und Rassismusforschung lässt sich feststellen: Gesellschaftlich verbreitete Normalitätsvorstellungen, strukturelle Diskriminierungen sowie zunehmende antisemitische und rassistische Gewalttaten deuten auf Kontinuitäten des (deutschen) Kolonialismus und der NS-Ideologie im mehrheitsgesellschaftlichen Denken und Handeln hin. Zugleich weisen sie einen Mangel an Anerkennung und Akzeptanz der migrationsgesellschaftlichen Vielfalt auf.

Im Folgenden wird anhand eines kurzen Überblicks aufgezeigt, dass die demokratische Gestaltung des Lernens in der (Post-)Migrationsgesellschaft nicht nur eine kritische Analyse von Antisemitismus, Antiziganismus und Rassismus beinhaltet, sondern die Erfahrungen und Perspektiven von BIPoC[1] als Ausgangspunkt nehmen sollte. Dabei werden auch Ansätze vorgestellt, die sich dieser kritischen Auseinandersetzung widmen und auf weitere pädagogisch relevante Themenschwerpunkte wie z. B. Rassismus und Sprache, Rassismuserfahrungen, Prävention und Intervention im Bildungskontext eingehen.

Migrationsgesellschaft im kontinuierlichen Wandel

Eine migrationsgesellschaftliche Professionalisierung von Pädagog*innen hat die Etablierung eines rassismuskritischen Bewusstseins von Lehrer*innen zur Voraussetzung (vgl. Messerschmidt 2021, S. 106). Messerschmidt definiert das Präfix ‚post‘ als die „Unmöglichkeit von ‚prä‘“ (2009, S. 62) – es gebe kein Zurück „zu einem gesellschaftlichen und kulturellen Zustand“ (ebd.) davor. Das Präfix ‚post‘ in der ‚postkolonialen und postnationalsozialistischen‘ Gesellschaft impliziert also nicht einfach eine Zeit danach. Es beinhaltet vielmehr die gesellschaftlichen Nachwirkungen und ‚neuen‘ Erscheinungsformen (wie z. B. Neokolonialismus) bis in die Gegenwart und macht dadurch „die wechselseitige Durchdringung und historische Verstrickung von unterschiedlichen Machtverhältnissen“ (Nghi Ha 2011, S. 183) sichtbar (vgl. auch Castro Varela 2016).

Die althergebrachten Konstruktionen des ‚Fremden‘ bzw. des ‚Nicht-Dazugehörigen‘ wirken in der (Post-)Migrationsgesellschaft weiterhin nach, rufen aber auch Gegendiskurse und Widerstand hervor. Eine ‚(Post-)Migrationsgesellschaft‘ bezeichnet dementsprechend nicht nur eine Gesellschaft nach der Migration als eine klar abgrenzbare zeitliche Epoche. Sie deutet auch darauf hin, dass sich die Migrationsgesellschaft unter jeweiligen historischen Bedingungen (wie z. B. des deutschen Kolonialismus und der NS-Zeit) kontinuierlich im Wandel befindet und eigene Dynamiken und Herausforderungen des Umgangs mit Vielfalt sowie mit ‚Kultur‘ und ‚Nation‘ als Differenzkategorien erzeugt.

‚Kultur‘ und ‚Nation‘ in der ‚deutschen‘ (Post-)Migrationsgesellschaft

Die Konstruktion von vermeintlich sich ‚im Wesen‘ unterscheidenden Kulturen spielte im europäischen und deutschen Kolonialismus/Kolonialrassismus eine besondere Rolle. Die Imagination  homogener kollektiver Eigenschaften von Menschengruppen bzw. deren Hierarchisierung fungierte als Legitimation kolonialer Machtansprüche. Während im französischen und britischen Kolonialismus die Assimilation und/oder Adaptation der Kolonisierten im Rahmen des kolonialen Projektes angestrebt wurden, zielten die deutschen Kolonisatoren[2]  auf eine ‚rassengemäße‘ Kolonialerziehung ab, die die Kolonisierten in ihrer vermeintlichen ‚Eigenart‘ in ihren Ländern ‚bewahrte‘ und dadurch die weiße Vorherrschaft sicherte (vgl. Kaya 2017). Auch in der NS-Kolonialpropaganda herrschte dieses Selbstbild über die vermeintliche Fähigkeit zum Kolonisieren, die eine strikte räumliche und rassistische Trennung zwischen Kolonisierenden und Kolonisierten vorsah, während gleichzeitig mehrere tausend Schwarze Menschen vom NS-Regime verfolgt und ermordet wurden (siehe etwa KZ-Gedenkstätte Neuengamme 2019). Im NS-spezifischen Antisemitismus war der Vorwurf einer vermeintlichen ‚Kulturzersetzung‘ durch Jüdinnen*Juden ein zentrales Propagandaelement, das sich durch die antisemitische Zuschreibung einer jüdischen Übermacht vom NS-Rassismus unterschied. Die Verfolgung und Ermordung von Schwarzen Menschen im NS-Deutschland wurde mit völkisch-rassistischen Reinheitsfantasien ‚begründet‘ (etwa mit der sog. ‚Rassenschande‘, vgl. ebd.). Dabei wurden auch antisemitische und rassistische Feindbilder zusammengeführt, indem beispielsweise behauptet wurde, Jüdinnen*Juden unterstützten und lenkten bewusst antikoloniale Bewegungen in Afrika, mit dem vermeintlichen Ziel, die weiße Vorherrschaft zu zerstören (vgl. etwa Kaya 2017, S. 398).

Eine besondere Kontinuität liegt sowohl darin, dass rassistische, antiziganistische und antisemitische Gewalt bis heute fortdauern (siehe etwa Begriffe wie ‚Zweite Schuld‘, ‚Zweite Verfolgung‘ und ‚koloniale Amnesie‘, vgl. Kaya 2022) als auch darin, dass kulturelle Vielfalt als Gefahr für die (deutsche) Kultur und Gesellschaft konstruiert wird. Ausgehend von der Behauptung einer besonderen kulturellen und geistigen Leistungsfähigkeit der ‚Deutschen‘, zu der ‚Nicht-Deutsche‘ nicht fähig seien, wird der Schutz und die Bewahrung des ‚Deutschen‘ vor ‚fremdem‘ Einfluss propagiert. Dabei geht die Vorstellung homogener Gemeinschaften, welche insbesondere in rechten Ideologien prominent ist, bis in die Kolonialzeit und die NS-Zeit zurück (vgl. Sturm 2016).

Das bedeutet nicht, dass der ‚kulturelle‘ Rassismus argumentativ ganz ohne ‚Rassen‘ funktioniert. Biologistische Vorstellungen prägen den Diskurs nach wie vor mit. Wie May Ayim 1993 in einem Gedicht zur Wiedervereinigung schrieb, feiert Deutschland immer noch „ohne Immigrantinnen Schwarze und Jüdische Menschen, es feiert in intimem Kreis, es feiert in weiß“ (Ayim 2005, S. 82) und markiert Bevölkerungsgruppen (sowohl Migrant*innen als auch andere Minderheiten wie die jüdische Bevölkerung und Sinti*zze und Rom*nja) dabei als nicht dazugehörig. Zu rassistisch aufgeladenen kulturellen Zuschreibungen kommen positive Identitätskonstruktionen hinzu, durch Verharmlosung der Geschichte und Abwehr einer kritischen Auseinandersetzung mit dieser (vgl. etwa Salzborn 2020). Diese vielschichtigen Erscheinungen und Verschränkungen des Rassismus erfordern eine Begriffsdiskussion.

Rassismus: Zur Definition und Funktion

Trotz zahlreicher unterschiedlicher Definitionen von Rassismus, gibt es einige Merkmale, über die Einigkeit besteht: Beim Rassismus geht es um die „verallgemeinerte und verabsolutierte Wertung tatsächlicher oder fiktiver biologischer Unterschiede“ (Memmi 2006, S. 45). Als ideologischer Diskurs basiert Rassismus auf einer „binäre[n] Unterscheidung zw. einem sozial konstruierten natio-ethno-kulturellen Wir und einem Nicht-Wir“ (Scharathow/Melter et al. 2009, S. 11). Von ideologischem Diskurs lässt sich deshalb sprechen, weil die (Re-)produktion des ‚rassistischen Wissens‘ mit Machtverhältnissen unmittelbar verwoben ist und dazu dient, „bestimmte Gruppen vom Zugang zu kulturellen und symbolischen Ressourcen auszuschließen.“ (Hall 2000, S. 7f.) Als ein soziales Konstrukt kommt „Rassismus […] nicht von ‚Rasse‘, sondern diese ist ein Produkt des Rassismus“ (Hund 2006, S. 14). Rassistische Denkweisen konstruieren nicht nur ‚Fremdbilder‘, sondern auch (positive) Selbstbilder. Diese fortwährende binäre Identitätskonstruktion interpretiert soziale Ungleichheiten als naturgegeben, indem sie beispielsweise behauptet, dass ‚die Anderen‘ für die soziale Ungleichheit verantwortlich seien. Dementsprechend verändern sich die rassistisch diskriminierten Personengruppen sowie die Sagbarkeit(en) des gesellschaftlichen Diskurses je nach Epoche. Solche rassistisch aufgeladenen Erklärungen haben zudem eine Stabilisierung- und Legitimationsfunktion für bestehende Machverhältnisse bzw. sie entfalten soziale Wirkung.

Für rassismuskritische Ansätze bedeutet dies, dass auch die Frage nach den Zielen und Zielgruppen eine wichtige Rolle spielt: Für wen und von wem soll Kritik ausgeübt werden und besteht auch bei einer kritischen Intention der Analyse die Gefahr der Reproduktion? Einerseits ist die Sichtbarmachung und kritische Auseinandersetzung mit Rassismus im medial-politischen sowie alltäglichen Diskurs (siehe etwa aktuelle Debatten um das N-Wort in Kinder- und Jugendmedien sowie Schulbüchern) notwendig. Andererseits fehlt in rassismuskritischen Texten oftmals eine ‚Triggerwarnung‘ oder Begründung für die ausgewählten Begriffe und/oder Schreibweisen. Diese Hinweise und Erläuterungen sind deshalb notwendig, weil ungeachtet der jeweiligen Absicht Reproduktionen rassistischer Welt- und Menschenbilder die Gefahr bergen, rassistisch diskriminierte Menschen zu verletzen oder zu (re-)traumatisieren sowie rassistische Begriffe weiter zu verfestigen. Darüber hinaus stellt sich mit Blick auf die heterogenen Zielgruppen einer Migrationsgesellschaft die Frage, welche Zugänge für wen verfügbar sind und wer de-/privilegiert und von den geschilderten rassistischen Denk- und Verhaltensweisen sowie Benachteiligungen unmittelbar betroffen ist. Dabei ist es wesentlich, dass sich pädagogisch Tätige mit dem Thema Rassismus kritisch und selbstreflexiv auseinandersetzen.

Rassismuskritik in der Bildung

Rassismuskritische Forschung stellt unterschiedliche interdisziplinäre Zugänge zum Wissen über die Geschichte und Gegenwart des Rassismus zur Verfügung. Historisch-politische Bildung bildet dabei einen Bestandteil vieler pädagogischer Ansätze. Mithilfe historischer Ansätze lassen sich Entstehungsbedingungen und Erscheinungsformen des Rassismus sowie die gesellschaftlichen Mechanismen analysieren, die rassistische Diskurse (re-)produzieren und rassistische Gewalt propagieren und legitimieren. Solche Ansätze können laut Adorno auch „einem Vergessen entgegenarbeiten, das nur allzu leicht mit der Rechtfertigung des Vergessenen sich zusammenfindet.“ (Adorno 1971, S. 24) Daher spielt die Vermittlung eines fundierten historischen Wissens eine zentrale Rolle in der rassismuskritischen Bildung und kann zur kritischen Selbstreflexion und Solidarität (mit und unter Betroffenen) führen. Wissen und Engagement von anderen Betroffenen kann die (individuelle und gemeinsame) Handlungsfähigkeit stärken. Gleichzeitig kann die Kritik selbst empowernd wirken, indem Vorurteilen und Zuschreibungen widersprochen und Rassismus ‚beim Namen genannt‘ wird. Pädagogische Fachkräfte sind dazu aufgefordert, sich klar zu positionieren und Betroffenen Unterstützung anzubieten, wenn rassistische Aussagen getätigt werden, die nicht selten einen unmittelbaren Zusammenhang zur deutschen Kolonial- und NS-Geschichte haben. Katharina Reinhardt fordert in einem Interview im Hinblick auf Antiziganismus sehr prägnant: „Irgendwann muss doch auch mal Schluss sein mit der Diskriminierung.“[3]

Selbtsbildkonstruktionen spielen dabei eine besondere Rolle. Dazu zählen beispielsweise die Selbstbildkonstruktion als ‚Opfer der (eigenen) Geschichte‘ bzw. der Auseinandersetzung mit dieser Geschichte, als ‚Opfer der Opfer‘ (Täter-Opfer-Umkehr) und der Vorwurf der ‚Deutschenfeindlichkeit‘. Die gesellschaftliche Abwehr zeigt sich bis heute insbesondere in Erinnerungsdiskursen: Sie beinhaltet beispielsweise Vorwürfe wie die vermeintliche Instrumentalisierung der Erinnerung für Eigeninteressen (vgl. etwa Kaya 2022, S. 241) und die Verharmlosung des geschehenen Unrechts im NS als „bloße Einbildung“ (Adorno 1971, S. 12) von Betroffenen oder im Kolonialismus, z. B. durch den Vergleich mit den anderen ehemaligen europäischen Kolonialmächten. Die Schuldfrage bezüglich der eigenen Vergangenheit ist dabei kein neues Phänomen. Spätestens seit dem Verlust der ehemaligen Kolonien 1919 im Zuge des im Versailler Vertrag erhobenen Vorwurfes der Brutalität, werden geschichtliche Verbrechen geleugnet und verharmlost. „Das Selbstbild, beschuldigt und angeklagt zu werden und einem Tribunal politischer Korrektheit ausgesetzt zu sein, bildet eine Ressource zur Abwehr von Kritik“ (Messerschmidt 2008, S. 51) bis in die Gegenwart.

Diese Abwehr zeigt sich gegenwärtig in der Abneigung gegenüber rassismuskritischer Überprüfungen und Überarbeitungen der ‚eigenen Sprache‘. Sprachwissenschaftlerin Susan Arndt konstatiert in ihrem Buch „Rassistisches Erbe“, dass die Geschichte des N-Wortes „nichts anderes […] als Rassismus“ (2022, S.61) enthalte und dieses eine fortdauernde „rassistische Wirkmacht“ (ebd.) besitze. Jedoch werde oft „die Notwendigkeit von kritischem Sprachwandel selbst […] diskreditiert“ (ebd.) oder den Betroffenen vorgeworfen, „viel zu sensibel und emotional [zu sein], um objektiv einzuschätzen, ob etwas rassistisch ist.“ (ebd.) Arndt konstatiert, dass „das Festhalten an tradierten rassistischen Begriffen […]diese nicht nur [schütze]. Es erlaub[…][e] dem Rassismus, neue Wörter im alten Stil zu prägen.“ (ebd., S. 62) Daher sei der kritische Umgang mit Rassismus in der Sprache ein „integraler Bestandteil antirassistischer Arbeit“ (S. 63). Zur Überprüfung der Frage, ob ein Wort rassistisch sei, führt Arndt folgende Kriterien an: (Koloniale) Wortherkunft, darin enthaltene Vorstellung(en) von ‚Rassen‘, dadurch aufgerufene Assoziationen und ‚Bilder‘ sowie mithilfe dessen entstandene Ausgrenzung von Menschen (vgl. ebd. S. 68). Im kolonialen Kontext wurden sowohl neue Wörter erfunden als auch Begriffe aus der Natur auf kolonisierte Menschen übertragen (vgl. Arndt 2011, S. 121f.). Folglich spielte Sprache eine bedeutende Rolle darin, ein vermeintlich überlegenes koloniales Selbstbild im Hinblick auf Gegensätze wie Natur-Kultur zu konstruieren. Kulturtheoretiker reproduzierten zu Beginn des 20. Jahrhunderts weiterhin diese kolonialen Konstruktionen, wie etwa Oswald Spengler, der allen Kulturen, außer der ‚abendländischen‘ Kultur, den Subjektstatus in der Weltgeschichte absprach (vgl. Kaya 2017, S. 82).

Solche Denkweisen prägen auch heute noch die Alltagssprache sowie institutionelle und politische Diskurse. Die Thematisierung von Rassismuserfahrungen wird durch das Beharren auf rassistische Begrifflichkeiten und Redewendungen in der deutschen Sprache abgewehrt, die „neben Exotik auch Abwertung, Unterwürfigkeit, Dummheit und Infantilität“[4] suggerieren. Insofern ist die kritische Auseinandersetzung mit (rassistisch geprägter) Sprache neben solidarischem Handeln mit Betroffenen eine zentrale Forderung rassismuskritischer (Bildungs-)Arbeit (siehe etwa Marmer/Sow 2015).

Rassismuserfahrungen in der (Post-)Migrationsgesellschaft

Migrationserfahrungen sind unmittelbar mit Rassismuserfahrungen verbunden, sofern tatsächliche Migrant*innen oder als Migrant*innen markierte Menschen als ‚fremd‘‚ nicht-weiß‘ und ‚nicht-deutsch‘ wahrgenommen werden. Begriffe wie z. B. ‚Menschen mit Migrationshintergrund‘ bezeichnen daher „im realen und aktuellen Sprachgebrauch nicht diejenigen Menschen […], die über tatsächliche Migrationserfahrungen verfügen, sondern alle PoC. Und zwar zeitlos“ (Utlu 2011, S. 444). Messerschmidt sieht darin ein Abstammungsdispositiv hinsichtlich des Deutschseins, welches sich über die Entsprechung zu „einem bestimmten nordeuropäischen Phänotyp“ definiert (Messerschmidt 2021, S. 112). Dieses Dispositiv ist vor allem in rechten Ideologien, wie z.B. im Ethnopluralismus, weit verbreitet. Als Bedrohung gelten dabei nicht nur ‚Migrant*innen‘ (mit tatsächlicher Migrationserfahrung), sondern auch die Bevölkerungsgruppen, die der Vorstellung von ‚natio-ethno-kultureller‘ Gemeinschaft nicht entsprechen. Die „Gemeinsamkeit von Geschichte, Kultur und Abstammung“ (zit. in Sturm 2016, S. 125) werde vermeintlich durch Migration bedroht. Dabei wird verschwörungstheoretisch (und dadurch impliziert oder offen judenfeindlich) eine.fremdbestimmte oder bewusst nach Deutschland gelenkte Migration behauptet. Die ‚Kultur‘ wird in diesem ideologisch-diskursiven Rahmen zu einem Instrument der Grenzziehung, welches dazu dient, ‚unsere‘ Kultur von der Kultur der ‚Anderen‘ abzugrenzen und aufzuwerten. Wenn die konstruierte Bedrohung der sog. ‚Überfremdung‘ artikuliert wird, wird bewusst oder unbewusst auch auf rassistische Parolen aus den 1990er Jahren (wie z.B. ‚Deutschland den Deutschen‘) rekurriert.

Rassismus kann daher „nur durch eine maßgebliche Beteiligung und Ermächtigung rassistisch Diskriminierter bearbeitet, verstanden und damit vermieden werden“ (Nduka-Agwu und Hornscheidt 2010, S. 11). Denn rassistische Identifizierungen werden oft als kulturelle Unterschiede, Randerscheinungen oder ‚vergangene‘ Phänomene dargestellt: „Entnormalisierung und Distanzierung schützen das Selbstbild und blockieren die Analyse und Kritik des gegenwärtigen normalisierten Rassismus“ (Messerschmidt 2010, S. 55). Es ist daher notwendig, aufzuzeigen, dass Rassismus allgegenwärtig ist. Darüber hinaus müssen solidarische Räume geschaffen werden, in denen Erfahrungen ausgetauscht und Umgangsstrategien entwickelt werden können.

Fazit und Ausblick: (Pädagogische) Gegendiskurse

Im Hinblick auf aktuelle Debatten etwa zur Verwendung von offen rassistischen Begriffen in Lehr- und Lernmaterialien und im Unterricht[5] wird klar, dass eine Aufgabe der rassismuskritischen Bildung in der (Post-)Migrationsgesellschaft in der Aufklärung über die Geschichte und Gegenwart des Rassismus liegt. Dadurch können die Kontinuitäten von völkisch-nationalistisch-rassistischen Welt- und Menschenbildern aus der kolonialen Zeit und der NS-Zeit sichtbar gemacht werden. Um der Heterogenität der Zielgruppen einer Migrationsgesellschaft Rechnung zu tragen, sollten angemessene Bildungsangebote entwickelt werden, die unterschiedliche Zugänge zu der Geschichte schaffen sowie Zeitzeug*innen, Betroffenenperspektiven und -erfahrungen thematisieren.[6] Zum selbstkritischen Lernen in der (Post-)Migrationgesellschaft ist es notwendig, dass sich Pädagogisch Tätige bereits in ihrem Studium mit Fragen des Antisemitismus, Rassismus und Antiziganismus beschäftigen, und dass diese Themen als Realität der (Post-)Migrationsgesellschaft anerkannt und in den Curricula fest verankert werden.

 

Fußnoten

[1] BIPoC: Abkürzung für die (politische) Selbstbezeichnung von Black, Indigenous and People of Color.

[2] An dieser Stelle wird nicht gegendert, da es sich bei den deutschen Kolonialpädagogen und ‚deutsche[n] Kolonisatoren‘ hauptsächlich um Männer handelt, auch wenn deutsche Kolonisatorinnen ebenfalls eine wichtige Rolle spielten. – Vf.in.

[3] Siehe das Interview mit Wilhelm Reinhardt und Katharina Reinhardt in: Jellonek, Fabian: Alltag von Sinti und Roma: Hakenkreuze an der Hauswand in der taz vom 28.07.2011 unter https://taz.de/Alltag-von-Sinti-und-Roma/!5115400/?goMobile2=1562025600042 [19.10.2023]

[4] Moctar Kamara, Vorsitzender des Zentralrats der afrikanischen Gemeinde in Deutschland in einem Offenen Brief 2015. Aufrufbar unter: http://decolonize-mitte.de/?p=163 [19.10.2023]

[5] Siehe beispielsweise die Dokumentation „Wenn SchülerInnen klüger sind und eine Lehrerin plus Schulleiter eindeutig im Unrecht sind: Gegen das N-Wort“ (Ortmeyer 2023) unter: https://benjaminortmeyer.de/2023/01/01/gegen-das-n-wort/ [19.10.2023] Siehe zur Debatte auch den Artikel „N-Wort im Unterricht. ‚Es gibt keine Schule ohne Rassismus‘ (Schulze 2023) unter: https://www.faz.net/aktuell/rhein-main/frankfurt/palmer-eklat-schueler-und-paedagogen-diskutieren-ueber-n-wort-18881605.html [19.10.2023]

[6] In der Vortragsreihe wurden einige rassismuskritische Ansätze und pädagogische Materialien vorgestellt, aufrufbar unter: https://geschichten-in-bewegung.hosting.uni-hildesheim.de ; https://www.zwischentoene.info/themen ; https://www.migration-lab.net und https://www.vielfalt-mediathek.de/wissenspool/rassismuskritischer-leitfaden [19.10.2023]

 

Literaturverzeichnis

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Bildnachweis: © Angelina Bambina/ Titel: „Menge junger und älterer Männer und Frauen in trendigen Hipster-Kleidern“/ istock.com

 

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