Kopftuchverbot an Grundschulen: ein kritischer Kommentar aus Österreich
4. September 2019 | Diversität und Diskriminierung, Gender und Sexualität, Religion und Religiosität

Seit die Organisation Terre des Femmes im März 2019 die Petition „Den Kopf frei haben!“ startete, wird in Deutschland über ein Kopftuchverbot für Minderjährige an Schulen diskutiert. Unser Nachbarland Österreich ist da schon einen Schritt weiter: Mit den Stimmen der konservativen Österreichischen Volkspartei (ÖVP) und der rechtspopulistischen Freiheitlichen Partei Österreichs (FPÖ) hat Österreichs Parlament im Mai 2019 ein Kopftuchverbot für Grundschülerinnen beschlossen. Seitdem wird das Gesetz intensiv diskutiert, nicht nur in muslimischen Communitys, sondern auch in der Opposition, die scharfe Kritik daran übt. Im neuen Wahlprogramm der ÖVP anlässlich der Nationalratswahl am 29. September 2019 fordert die Partei sogar eine Ausweitung des Verbots auf Mädchen bis 14 Jahre und auf Lehrerinnen. Zeit für Rami Ali, Politologe und Islamwissenschaftler aus Wien, einen Schritt zurückzutreten und die Debatte noch einmal in den Blick zu nehmen.

Die Vorgeschichte des Verbots

Verfolgte man die Debatten rund um das Kopftuch in Österreich, so war der Beschluss eines Kopftuchverbots an Grundschulen, der auf das Verbot in Kindergärten folgte, wenig überraschend. Rechtspopulistische und rechtsextreme Parteien in Europa instrumentalisieren das Kopftuch schon seit etlichen Jahren für ihre Überfremdungsfantasien. Nicht anders war es in Österreich, wo die FPÖ unter Heinz-Christian Strache schon seit Jahren ein Verbot des Kopftuchs in Universitäten, Schulen und dem öffentlichen Dienst vorbereitete und ihre Forderung oft mit rassistischen und tendenziösen Argumentationen untermauerte. Besonders erfolgreich war sie damit jedoch nicht. Das änderte sich, als Sebastian Kurz, Obmann der konservativen und (mittlerweile) rechtspopulistischen ÖVP, die Forderung übernahm. Die ÖVP argumentierte jedoch von Beginn an deutlich klüger und weniger aggressiv als die FPÖ und konnte sich damit durchsetzen.

Im medialen Diskurs fand die Debatte ihren Anstoß durch die sogenannte „Kindergartenstudie“ des Islamwissenschaftlers Ednan Aslan. Diese war von der ÖVP in Auftrag gegeben worden und kritisierte „Fehlentwicklungen“ und „Abschottungstendenzen“ in muslimischen Kindergärten in Wien. Die Studie wurde massiv kritisiert; nachdem die Wochenzeitung Falter den Vorwurf erhob, die Beamten Sebastian Kurz‘ hätten die Studie umgeschrieben und Aussagen dramatisiert,[1] bemängelte eine externe Prüfungskommission die Güte der Studie und befand einen deutlichen Einfluss des Außen- und Integrationsministeriums auf ihre Ergebnisse.[2]

Tatsächlich wurden die Weichen für die politische Umsetzung eines Kopftuchverbots – wenn man sich die Themensetzung ÖVP-naher Organisationen wie des Österreichischen Integrationsfonds (ÖIF) betrachtet – lange im Vorfeld gestellt. In den letzten Jahren lag der Fokus der Veranstaltungen des ÖIF fast ausschließlich auf den Themen Islam, politischer Islam und Integration. Die zu Vorträgen und Podien eingeladenen Gäste waren oft dieselben, der Ausgang der Diskussionen demnach programmiert, und der Tenor lautete meist: „Das Kopftuch ist Kindesmissbrauch“, „Das Kopftuch ist Ausdruck des politischen Islams“, oder „Das Kopftuch ist Symbol islamistischer Unterdrückung“. All diese Meinungen sind zweifelsfrei legitim. Problematisch wird es dann, wenn diese Positionen so verabsolutiert werden, dass plötzlich all jene, die diese Ansichten nicht vertreten, als reaktionär oder fundamentalistisch gebrandmarkt werden. Problematisch ist auch, wenn dieses Framing, zu dem man aktiv beigetragen hat, auf politischer Ebene zur Gesetzesformulierung genutzt und das Kopftuch zum „Extremismusmarker“ umgedeutet wird.

Die Kommunikation des Verbots

Dass die damalige Regierung Kurz aus ÖVP und FPÖ mit dem Kopftuchverbot einen massiven Eingriff in die Religionsfreiheit vorbereitete, war ihr durchaus bewusst. Im Grunde hat sie mit ihrem Anspruch, das Kopftuch zu deuten, die Rolle der offiziellen Vertretung der Muslim_innen in der Auslegung von religiösen Inhalten übernommen. Denn während man das Kopftuch als Symbol von Unterdrückung wertete, wurde explizit erwähnt, dass die jüdische Kippa und die Patka der Sikhs religiöse Bräuche und deshalb von der Religionsfreiheit geschützt seien. Der Eingriff in die Religionsfreiheit von Muslim_innen wurde wie folgt legitimiert:

Soweit Grundrechtseingriffe vorliegen, sind diese zulässig, wenn sie vorhersehbar sind, ein legitimes Ziel verfolgen und verhältnismäßig sind. Zu diesen Zielen zählen etwa der
Schutz der öffentlichen Sicherheit und Ordnung, der Gesundheit und der Moral sowie der Schutz der Rechte Dritter.“
[3]

Das Kopftuch bei Kindern wird hier zu einem Problem der öffentlichen Sicherheit und Ordnung gemacht. Dass die Meinung von Muslim_innen selbst dabei als irrelevant gilt und die Regierung die Deutungshoheit über das Kopftuch an sich reißt, offenbart sich an folgendem Absatz im Initiativantrag:

„Der Begriff weltanschaulich und religiös geprägter Bekleidung stellt darauf ab, wie eine Bekleidung von einem objektiven Betrachter gesehen wird. Es kommt dabei nicht auf die persönliche Absicht des Trägers an. Entscheidend ist, wie diese von Dritten rezipiert wird.“[4]

Dass dieser Passus von vielen Muslim_innen als institutionalisierte Ungleichbehandlung gewertet wurde – insbesondere in Verbindung mit dem expliziten Erlauben der religiösen Bräuche anderer – ist hier gänzlich nachzuvollziehen.

Sämtliche alternativen Deutungen des Kopftuchs werden damit irrelevant. Die persönlichen Motive für das Tragen eines Kopftuchs sind der Deutung durch den Staat untergeordnet. Das Gesetz wendet sich damit gegen Komplexität und Ambiguität in der Gesellschaft. Insofern erinnert das Vorgehen der Regierung stark an jenes von sehr konservativen Muslim_innen, die im Kopftuch eine Art sechste Säule des Islams sehen, es zu einem Symbol der Ehrwürdigkeit stilisieren und somit auch nur eine einzige Deutung zulassen.

Das Gesetz kam am Ende zustande – allerdings nur mit einfacher Mehrheit, da sich die Sozialdemokraten (SPÖ) und die liberale Partei NEOS (Das Neue Österreich und Liberales Forum) weigerten, dem Gesetz zuzustimmen. NEOS brachte stattdessen einen eigenen Antrag auf ein Kopftuchverbot ein, auf das später kurz eingegangen werden soll. Die Islamische Glaubensgemeinschaft in Österreich (IGGÖ) hat bereits eine Beschwerde vor dem Verfassungsgericht angekündigt, weitere Klagen sind wahrscheinlich.

Kritik am Kopftuch – und am Kopftuchverbot

Das Kopftuchverbot für Grundschülerinnen wurde nicht nur von Muslim_innen heftig kritisiert, sondern auch von politischen Akteur_innen der Opposition, die darin populistisches Agieren sahen, insbesondere auch deshalb, weil gar keine Daten zur Anzahl der betroffenen Kinder vorliegen.

Es stellt sich die Frage, wie Alternativen zu einem Verbot hätten aussehen können. Ganz klar: Kritische, öffentliche Debatten sind in einer pluralistischen Gesellschaft unabdingbar. Mehr noch: Sie sind die Grundlage, auf der wir trotz aller Widersprüchlichkeiten und Unterschiede unser Zusammenleben verhandeln. Kein Thema sollte grundsätzlich vor Kritik geschützt sein, schon gar nicht die Religion. Auch kritische Diskussionen und Positionen zum Kopftuch sind legitim, solange sie sachlich und ohne Herabwürdigung vorgetragen werden. Das führt uns unweigerlich zu den notwendigen Eigenschaften solcher Debatten, möchte man, dass diese konstruktiv und redlich sind.

Zum einen müssen sie zugänglich für jene sein, die ihre Stimme und Meinung äußern möchten – allen voran für die Betroffenen selbst. Zum anderen dürfen sie in ihrem Kern keine ausgrenzende Rhetorik an den Tag legen. Diese Elemente eines konstruktiven Dialogs haben im österreichischen Beispiel gefehlt, dementsprechend war der Aufruhr unter Muslim_innen groß, und das, obwohl meiner Einschätzung nach die absolute Mehrheit das Kopftuch im Kindesalter – auch, aber nicht nur theologisch begründet – ablehnt.

Man kann dem Kopftuch generell und besonders dem Kopftuch im Kindesalter skeptisch bis ablehnend gegenüberstehen, aber dennoch einen derart gravierenden Eingriff in die Religionsfreiheit und das darin geregelte Recht der Eltern auf religiöse Sozialisierung kritisieren. Selbst diese Form der Kritik wurde in der österreichischen Debatte jedoch vehement abgelehnt. Wer sie äußerte, wurde als reaktionär markiert. Dies geschah vorwiegend über einen rhetorischen Kniff, indem man aus der Ablehnung des Verbots einen Analogieschluss hin zu einer vermeintlichen Befürwortung des Kopftuchs in diesem Alter ableitete: „Du bist gegen das Verbot, also befürwortest du das Kopftuch in diesem Alter“ – ein Vorwurf, den ich in den Tagen nach dem Verbot vermehrt in den Sozialen Medien beobachtet habe.

„Muslimische Mädchen schützen“

Dass Kinder mit Kopftuch verstörend wirken und Irritationen hervorrufen können, ist gänzlich nachvollziehbar. Wie wir aber damit umgehen, ohne Betroffene in die Ecke zu treiben, das ist die entscheidende Frage. Über Verbotspolitik kann das nicht gehen. Das zentrale Argument der Befürworter eines Kopftuchverbots war die Notwendigkeit, muslimische Mädchen „zu schützen“. Der Generalsekretär der ÖVP, Karl Nehammer, bezeichnete das Verbot als „entscheidenden Schritt zur besseren Integration und zur Verminderung von Diskriminierungen“.[5] Nehammer hat damit fatalerweise die Verantwortung für Diskriminierung bei den Betroffenen verortet. In gewisser Weise erinnert das an die Täter-Opfer-Umkehr, die in sexistischen Debatten betrieben wird, bei denen Frauen für sexuelle Belästigung verantwortlich gemacht werden, indem sie „aufreizende Kleidung“ tragen.

Wäre es den politischen Akteur_innen aber tatsächlich um den „Schutz muslimischer Mädchen“ gegangen, so hätte es Alternativen gegeben: Man kann Mädchen stärken, die Jugendsozialarbeit mit jungen Männern intensivieren, die Eltern miteinbeziehen und Maßnahmen gegen rassistische Diskriminierung und Marginalisierung beschließen. So ließe sich eine Lösung finden, die nachhaltig und effizient wäre. Die wenigen Eltern, die darauf beharren, dass ihre Töchter bereits in der Grundschule das Kopftuch tragen, werden sich von einem Verbot nicht beeinflussen lassen. Vielmehr wird es dazu führen, dass sie – auch aufgrund der offensichtlichen Diskriminierung der muslimischen Minderheit – sich noch mehr in homogene Räume zurückziehen, wo sie das Gefühl haben, nicht in ihrer Identität und aufgrund ihres Glaubens bedroht zu werden.

Der Gegenentwurf der NEOS – eine Alternative?

Die liberale NEOS legte bereits im November 2018 einen alternativen Gesetzesentwurf vor, der sicher nicht frei von Schwächen war, an dem man aber ablesen kann, wie man das Gesetz auch anders hätte anlegen können, wäre es der Regierung tatsächlich um eine (zumindest nachvollziehbare) Forderung nach weltanschauungsfreien Schulen gegangen.

Der Entwurf forderte offen ein Verbot aller religiösen Symbole bis zum 14. Lebensalter (Religionsmündigkeit) als Teil eines Gesamtpakets zur Förderung der Integration, anstelle einer „populistischen Einzelmaßnahme“.[6] Damit weist der Entwurf der NEOS zwei entscheidende Unterschiede zum Gesetz der Regierung auf: Zum einen kann hier niemand mehr den Vorwurf der Ungleichbehandlung vorbringen, weil alle religiösen Symbole gleichermaßen verboten sind. Und zum anderen wird eine konkrete Perspektive und Begrenzung gegeben, indem man festhält, dass es ab dem Alter von 14 Jahren möglich sein soll, religiöse Symbole in der Schule zu tragen. Das schafft bei den Betroffenen vor allem deshalb eine gewisse Sicherheit, weil manche Befürworter_innen des Kopftuchverbots immer wieder davon sprachen, dass ein Kopftuchverbot für alle Schulformen bis zur Universität geplant sei (in der Tat fordert die ÖVP in ihrem neuen Wahlprogramm anlässlich der Nationalratswahl am 29. September 2019 nun eine Ausweitung des Verbots auf Mädchen bis 14 Jahre und Lehrerinnen).

Man kann selbstverständlich auch diesem Vorschlag kritisch gegenüberstehen. Nichtsdestotrotz wäre ein Verbot sämtlicher religiöser Symbole in der Schule zumindest eine redliche Vorgehensweise gewesen, die man nicht teilen muss, sie aber zumindest sachlich nachvollziehen kann, ohne dabei das Gefühl zu haben, dass es sich um eine explizite Diskriminierung der muslimischen Minderheit handelt. Genau diese Wahrnehmung nämlich, die ganz unabhängig von der Position zum Kopftuch von vielen Muslim_innen (und auch nichtmuslimischen Kritiker_innen) geteilt wird, ist es, die das Gesetz so schädlich macht – individuell wie auch gesamtgesellschaftlich gesehen. Es reiht sich in eine Reihe von Anlassgesetzgebungen und populistischen Einzelmaßnahmen gegen eine religiöse Minderheit ein und bedroht damit ihre Religionsfreiheit. Mit ziemlicher Sicherheit wird das Gesetz auch von Islamist_innen und Salafist_innen instrumentalisiert werden, um ihre eigene Agenda zu verfolgen, ihr Opfernarrativ zu untermauern und um junge, vulnerable Muslim_innen zu isolieren.


Anmerkungen

[1] https://www.falter.at/zeitung/20170704/frisiersalon-kurz

[2] https://kurier.at/politik/inland/kindergartenstudie-uni-wien-praesentiert-pruefergebnis/296.935.617

[3] https://www.parlament.gv.at/PAKT/VHG/XXVI/A/A_00495/fnameorig_722909.html

[4] https://www.parlament.gv.at/PAKT/VHG/XXVI/A/A_00495/fnameorig_722909.html

[5] https://orf.at/stories/3121395/

[6] https://www.ots.at/presseaussendung/OTS_20190319_OTS0168/neos-zu-kopftuchverbot-es-braucht-ein-gesamtkonzept-keine-populistische-einzelmassnahme

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