Kann Feminismus islamisch sein? Eine Filmkritik zur Dokumentation „Der Islam der Frauen“
25. März 2020 | Diversität und Diskriminierung, Gender und Sexualität, Geschichte, Biografien und Erinnerung, Jugendkulturen und Soziale Medien, Religion und Religiosität

Standfoto aus der arte-Dokumentation Der Islam der Frauen 2020; Bild [M]: Vincent Productions

Der Fernsehsender arte zeigt am 1. April 2020 den Dokumentarfilm „Der Islam der Frauen“ der Regisseurin Nadja Frenz. Der Film thematisiert die Rolle der Frau im Islam und fragt, ob westliche Vorstellungen von Geschlechtergerechtigkeit eins zu eins auf islamisch geprägte Gesellschaften übertragbar sind. Es kommen zumeist Frauen – Islamwissenschaftlerinnen, aber auch religiöse und säkulare Aktivistinnen – aus verschiedenen Ländern zu Wort, die ihre Sicht auf die Themen Religion, Geschlecht und Feminismus darlegen. ufuq.de-Mitarbeiterin Sakina Abushi hat sich die Dokumentation mit zwei Kolleginnen schon vor der Ausstrahlung angesehen.

Sakina: Toll, dass ihr mit mir den Film anschaut! Das Thema Islam und Feminismus ist ja extrem komplex.

Basma*: Ich finde das Thema total spannend. Im Film kommen Frauen aus Tunesien, Oman, Libanon, Frankreich und Deutschland zu Wort, säkulare wie islamische Feministinnen. Das wird sicher interessant.

Der Film beginnt. Rawan Al Mahrouqi, Künstlerin aus dem Oman, nimmt vor der Kamera ihr Kopftuch ab und liest einen Vers aus dem Koran: „Also gewiss, mit der Erschwernis ist Erleichterung, gewiss, mit der Erschwernis ist Erleichterung.“ (Sure 94, Vers 5 und 6)

Zeynep*: Das geht aber nicht gut los. Wie sie ihr Kopftuch an- und ablegt und den Koran liest, das empfinde ich als respektlos. Für die Frauen, die sich für das Tragen eines Kopftuchs entscheiden, ist es ein Muss. Ich finde das verletzend.

Basma: Sie ist Künstlerin, das ist ihre künstlerische Freiheit. Ich finde, der Film ist bis jetzt sehr schön gemacht.

In der Folge wird jede der Protagonistinnen einen Vers aus dem Koran vorlesen und erklären, warum er ihr wichtig ist. Wir sehen die omanische Gesundheitsministerin Asya Ali Mazard Al Riyami beim Gang durch eine Moschee, wie sie die Geschichte von Khadija erzählt, der ersten Frau des Propheten Muhammed. Noor Al Mahruqi, Comedian, und Aysha Farooq, Architektin aus dem Oman, kritisieren den westlichen Blick auf muslimische Frauen, der sie für unterdrückt hält, eigene Probleme mit Gleichstellung aber ausblendet. Aysha Farooq sagt:  

„Ich denke, dass der Feminismus in unseren Gesellschaften weniger damit zu tun hat, dass die Frau dem Mann gleich sei, als vielmehr damit, dass Frau und Mann jeweils in ihren eigenen Rollen stark sind. Ich glaube, dass Freiheit hier nicht so ein großes Thema ist wie Selbstbestimmung.“ 

Sakina: Natürlich sind Mann und Frau nicht gleich. Aber doch wohl gleichberechtigt? So ganz verstehe ich ihre Aussage nicht. Auf der anderen Seite kann ich mir schon vorstellen, dass in islamisch geprägten Gesellschaften andere Themen im Vordergrund stehen als hier in Deutschland, wenn es um Geschlechtergerechtigkeit geht.

Basma: Natürlich ist das so! Frauen in arabischen Ländern kämpfen ganz andere Themen aus. Dort geht es darum, hart erkämpfte und ganz grundlegende Freiheiten gegen den politischen Islam zu verteidigen, das ist eine ganz andere Situation als hier, wo wir über das Gendersternchen und den Equal Pay Gap diskutieren.

Logo des Fernsehsenders arte; Bild: ARTE GEIE

Der Fernsehsender arte zeigt am 1. April 2020 um 21.45 Uhr den Dokumentarfilm „Der Islam der Frauen“ der Regisseurin Nadja Frenz. Der Film ist bis zum 30.04.20 in der arte-Mediathek verfügbar.

Auftritt Sarah Marsso, Politologin und islamische Feministin aus Frankreich. Sie führt in den islamischen Feminismus ein und kritisiert das Fortwirken des Patriarchats in islamischen Gesellschaften, aber auch die grassierende Islamfeindlichkeit in der französischen Gesellschaft. Ihr Ziel ist es, islamische Texte aus feministischer Sicht neu zu lesen.

Basma: Wie ist das noch mal mit muslimischem und islamischem Feminismus? Da gibt es einen Unterschied, oder?

Sakina: Eine Muslimin kann sich als Feministin sehen, aber sich im Kampf um ihre Rechte exklusiv auf säkulare Gesetze berufen. Islamische Feministinnen dagegen glauben, dass der Weg zur Gleichberechtigung über den Islam führt und begründen ihre Forderungen mit islamischen Texten.

Zeynep: Den Ansatz von Sarah Marsso kann ich nachvollziehen. Das ist jemand, der ganz pragmatisch überlegt, wie man die Religion im Alltag leben kann. Sie ist die Tochter eines Imams, wahrscheinlich hat sie eine solide religiöse Bildung genossen. Aber ich würde mir eine schärfere Trennung von Patriarchat und Islam wünschen. Das Patriarchat hat nichts mit dem Islam zu tun! Worunter wir alle gelitten haben, sowohl Frauen als auch Männer, waren Traditionen, die mit dem islamischen Geist einfach nichts zu tun haben, und unter einem Mangel an Gerechtigkeit in der Gesellschaft. Ich hatte zum Beispiel viel weniger Freiheiten als meine Brüder. Heute versuche ich, meine Kinder bewusster zu erziehen und Religion und Tradition voneinander zu trennen. Ich habe einen Sohn und eine Tochter. Beide werden religiös erzogen, mit den gleichen Rechten und Pflichten. Das ist mir wichtig.

Basma: Ich finde auch super, dass Marsso den grassierenden antimuslimischen Rassismus in westlichen Gesellschaften thematisiert. Hoffentlich kommt das Thema im Film noch mehr zur Sprache.

Wir sehen Sineb El Masrar, Autorin und Journalistin aus Deutschland, und Abdelmajid Charfi, Islamwissenschaftler und Präsident der tunesischen Akademie der Wissenschaften „Beit al-Hikma“. Beide betonen, dass eine Unterscheidung zwischen der Religion und der religiösen Tradition, die aus ihr entstanden ist, unabdingbar sei.

Basma: Sineb El-Masrar hat in ihren Büchern „Muslim Girls“ und „Muslim Men“ versucht, muslimische Lebensrealität in Deutschland zu zeigen. Sie ist aber nicht unumstritten, denn sie appelliert sehr klar an deutsche Muslim*innen, mit Traditionen zu brechen und mehr Freiheit zu leben.

Sakina: Auch Charfi ist ein spannender Typ. Er hat die historisch-kritische Koranedition des Beit al-Hikma unter dem Titel „Der Koran-Text und seine Varianten“ herausgegeben, die 2018 veröffentlicht wurde. Die beteiligten Wissenschaftler*innen haben jüdische, christliche, aramäische und syrische Quellen ausgewertet und festgestellt, dass es nur für eine kleine Zahl der Suren eine einzige Variante gibt. Dafür haben sich die beteiligten Wissenschaftler*innen viel Kritik eingehandelt.

Basma: Das Projekt zeigt, wie gefährlich eine wortwörtliche Lesart des Korans ist. Muhammed selbst hatte kein Problem mit den unterschiedlichen Überlieferungen der Offenbarung, die schon zu seinen Lebzeiten kursierten.

Zeynep: Ich weiß, dass der dritte Kalif Othman während seiner Amtszeit den Koran als Buch binden ließ. Ich habe von dieser historisch-kritischen Koranausgabe des Beit al-Hikma noch nichts gehört, und ich bin so aufgewachsen, dass es einen einzigen, verbindlichen Koran-Text gibt. Dieser ist die Grundlage unserer Religion.

Es stimmt, dass viele Verse im Koran unterschiedlich gedeutet werden können. Dabei ist aber der historische Kontext zu beachten. Außerdem gibt es einige bedeutende Koranexegesen von großen und anerkannten Gelehrten, die man hierfür als Quelle nutzen sollte. Es ist also wichtig, von wem man seine Informationen bezieht, um bei der Deutung der Verse auf der sicheren Seite zu sein.

Sakina: Ich frage mich, was mit der Sunna ist, also den Überlieferungen zu den Handlungsweisen des Propheten Muhammed. Die wurde bis jetzt kein einziges Mal erwähnt. Aber sie gehört doch auch zu den heiligen Quellen des Islams?

Standbilder aus der Dokumentation:

Zineb El Rhazoui, Journalistin und ehemalige Mitarbeiterin des Satiremagazins Charlie Hebdo, vertritt im Film die wohl kritischste Position: Im Islam sei die Frau dem Mann untergeordnet. Ständig werde den Frauen gesagt: Dies ist verboten, das ist haram, und jenes ist Schande. Der Islam habe die Bräuche einer jahrhundertealten, archaischen Beduinengesellschaft heiliggesprochen und damit künstlich konserviert. Wer El Rhazoui zuhört, versteht, dass sie ganz und gar mit der Religion gebrochen hat, ja sich aktiv gegen sie stellt.

Zeynep: (schüttelt den Kopf) Was für eine verbitterte, unglückliche Frau. Sie ist eine richtige Islamkritikerin. Sie tut mir leid.

Basma: Auch ihre Stimme stellt einen Teil des Bildes dar. Ich finde es gut, dass der Film so vielfältige, verschiedene Perspektiven darstellt. Und dass er die Frauen selbst zu Wort kommen lässt.

Zeynep: Aber welche Frauen denn? Bis jetzt sehe ich in diesem Film nur Akademikerinnen, die sich die ganze Zeit beklagen. Sie haben alle eine sehr kritische Einstellung gegenüber der Religion. Da ist keine einzige ganz normale Frau zu sehen, die ihre Religion frei und zufrieden lebt. Ganz ehrlich, ich kenne so viele religiöse Familien – den Frauen geht es in diesen Familien gut, sie führen ein ganz normales Leben. Religion kann Menschen eine große innere Ruhe geben. Diese Perspektive fehlt total. Muslimische Frauen sind keine Opfer ihrer Religion, sondern freie Menschen!

Sakina: Man merkt El Rhazoui ihren Schmerz an. Zwölf ihrer Kolleg*innen wurden in der Redaktion von Charlie Hebdo ermordet, sie wird bis heute von radikalen Islamist*innen mit dem Tode bedroht. Sie vertritt sicher eine der radikalsten Positionen.

Tunesien, wir sehen die Professorin Faouzia Charfi. Die Physikerin erzählt von der politischen Umwälzung, die das Land seit 2011 erlebt hat. Sie begrüßt die Verbesserungen für Frauen, die die neue Verfassung den tunesischen Frauen gebracht hat, sieht aber mit Sorge, dass die jungen Tunesierinnen zunehmend wieder Kopftuch tragen.

Zeynep: Wieso sieht sie das mit Sorge? Schaut mal, sie zeigt Fotos von ihrer Großmutter und sagt, sie sei eine moderne Frau gewesen und habe europäische Kleidung getragen. Was heißt denn modern? Warum misst sie die Modernität einer Frau an ihren Klamotten?

Historische Filmaufnahmen flackern über den Bildschirm. Die Geschichte des arabischen Feminismus: Wir sehen Bilder des tunesischen Frauenrechtlers Taha Haddad und der ägyptischen Aktivistin Huda al-Shaarawi aus den 20er Jahren. Darauf folgen Aufnahmen der Feiern zur tunesischen Unabhängigkeit 1965: Der erste tunesische Staatspräsident Habib Bourguiba versteht sich als Anwalt der Frauen und entschleiert öffentlich tunesische Frauen.

Zeynep: Ganz ehrlich, ich fühle mich sehr unwohl mit diesen Bildern. Wie er den Frauen das Kopftuch abnimmt, das ist so übergriffig, auch wenn die Frauen im Film dabei lachen. Noch einmal: Was hat ein Kleidungsstück mit Modernität zu tun? Meine Eltern kamen aus der Türkei, wo es bis in die 2000er Jahre in Schulen und Universitäten verboten war, ein Kopftuch zu tragen. Für viele Mädchen und Frauen bedeutete das, dass ihnen Bildung versagt blieb. Heute gehen die Frauen selbstverständlich mit Kopftuch in die Universität und arbeiten in angesehenen Berufen. Das ist modern!

Basma: Schaut mal, das sind tolle Aufnahmen!

Der ägyptische Präsident Abdel Nasser spricht auf einer Versammlung und macht sich über die Muslimbrüder und ihre Forderung nach einem Verschleierungsgebot lustig. Jemand ruft: Die Brüder sollen doch selbst ein Kopftuch tragen! 

Die Botschaft des Films wird zunehmend klar: Patriarchale Traditionen und traditionelle religiöse Auslegungen beschränken muslimische Frauen in ihrer Freiheit. Es werden Frauen gezeigt, die daran arbeiten, diese Traditionen zu verändern und dabei aus unterschiedlichen Perspektiven handeln: Von der islamischen Feministin über die säkulare Aktivistin bis zur Afrofeministin und der Modedesignerin für Modest Fashion lernen wir sehr unterschiedliche Sichtweisen kennen, die durchaus im Widerspruch zueinander stehen. Am Ende steht die Frage: Kann Feminismus islamisch sein?

Sakina: Kann er?

Zeynep: Natürlich kann er. Ich würde sogar so weit gehen, zu sagen, der Islam ist in seinem Geist feministisch.

Basma: Ich bin da vorsichtig. Mir erschließt sich nicht ganz, warum Frauenrechte islamisch begründet werden müssen. Für mich ist der säkulare Staat das Ideal, in dem Religion und Politik klar getrennt sind und Frauen sich nicht auf die Religion berufen müssen, um ihre Rechte als Bürgerinnen durchzusetzen. 

Sakina: (schaltet aus) Würdet ihr den Film denn weiterempfehlen?

Basma: Wenn man sich für das Thema interessiert, auf jeden Fall. Ich fand ihn sehr gelungen. Die wichtigsten Kontroversen in Bezug auf Frauenrechte wurden dargestellt: Es ging um das Kopftuch, Erbrecht, Gewalt gegen Frauen, Polygamie und viele andere Themen. Alles wurde aus der Perspektive von sehr unterschiedlichen Frauen dargestellt, aus einer Vielzahl von Ländern, deren Realität auch sehr unterschiedlich ist. Die Debatte wurde auch historisch kontextualisiert. Insofern muss ich den Film wirklich loben.

Zeynep: Ich würde ihn nicht weiterempfehlen. Der Titel lautet „Der Islam der Frauen“ – aber das war doch nur die Perspektive einiger weniger, sehr privilegierter Frauen. Ich wünsche mir einen Film, der die Probleme anspricht, die uns als Musliminnen wirklich beschäftigen – zum Beispiel die grassierende Islamfeindlichkeit, die unser Leben so erschwert und die Gesetze, die uns in unserer Freiheit beschränken – wie zum Beispiel die Kopftuchverbote im Staatsdienst.

Sakina: Ich kann euch beide verstehen. Ich finde, der Film hat die Stimmen von wirklich interessanten Persönlichkeiten sichtbar gemacht, aber er zeigt eben auch nur einen Teil der Wirklichkeit, nur einen Aspekt der Debatte um Frauenrechte und Islam. Die Realität ist noch etwas komplizierter, als es hier scheint. Ich bedanke mich, dass ihr den Film mit mir angeschaut habt!

 *Namen von der Redaktion geändert

Trailer:

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