Immer wieder werden Fälle sexualisierter Gewalt gegenüber Frauen öffentlich diskutiert, zuletzt prominent im Zusammenhang mit den Vorwürfen gegenüber der Band Rammstein. Doch was genau ist sexualisierte Gewalt und wo beginnt sie? Und warum werden Frauen teilweise für die Übergriffe mitverantwortlich gemacht? Diese Fragen können als Ausgangspunkt genutzt werden, um mit Jugendlichen über traditionelle Rollenbilder und toxische Männlichkeit zu sprechen. Die neue Ausgabe Jetzt mal konkret! gibt hierzu Anregungen für den Unterricht. Wir haben die Autorin Reina-Maria Nerlich zum Kurzinterview getroffen.
Maike Tragsdorf (ufuq.de):
Liebe Reina-Maria, wie äußern sich toxisch männliche Verhaltensweisen?
Reina-Maria Nerlich:
Toxische Männlichkeit beschreibt Verhaltensweisen, die auf aggressive Art und Weise ein sehr dominantes, patriarchales und überkommendes Bild davon, wie ein Mann zu sein hat, reproduzieren. Es geht häufig darum, keine Gefühle zu zeigen, in ständige Macht- und Konkurrenzkämpfe mit anderen zu treten, sich und andere zu kontrollieren und sich (indirekt) gegenüber FLINTA* überlegen zu präsentieren (und zu empfinden). Ich habe es beispielsweise in schulischen Alltagssituationen öfter erlebt, dass als männlich gelesene Jugendliche in Gesprächen zur Gewaltprävention oder Konfliktlösung sinngemäß Dinge äußerten wie „Wenn ich provoziert werde, kann ich nicht gehen und Hilfe zur Deeskalation suchen. Ich bin doch ein Mann und muss zeigen, dass ich keine Angst habe!“. Es gibt auch Stimmen, die sogar den Begriff „toxische Männlichkeit“ als solchen kritisieren, da er impliziert, dass es auch ein „untoxisches“ männliches Verhalten gibt.
Maike Tragsdorf (ufuq.de):
Der Influencer Andrew Tate galt 2022 als populärste Persönlichkeit und sorgte mit seinen frauenfeindlichen Aussagen einerseits für Empörung, wurde gleichzeitig aber auch von zahlreichen männlichen Jugendlichen dafür gefeiert. Lehrkräfte berichteten daraufhin von einer Zunahme sexistischer Äußerungen an Schulen[1]. Was können Pädagog*innen denn tun, um solchen Vorstellungen entgegenzuwirken?
Reina-Maria Nerlich:
Insbesondere um FLINTA* zu schützen, muss man als Pädagog*in in solchen Situationen unmittelbar Grenzen aufzeigen und frauenfeindliche Aussagen und Haltungen als diskriminierend und inakzeptabel markieren. Es muss klar werden, dass Sexismus und Misogynie keine Meinung sind! Gleichzeitig muss unbedingt vermittelt werden, dass ich die Aussage und nicht die Person dahinter als höchstproblematisch darstelle. Denn sonst riskiere ich negative Folgen auf der Beziehungsebene und hier brauche ich eine stabile Verbindung, um (mit etwas Abstand) gemeinsam solche Aussagen schrittweise durch Reflexionsfragen, die Perspektivwechsel und Hinterfragen anregen, zu dekonstruieren. Außerdem ist es essentiell, Safer Spaces und Empowerment-Räume für FLINTA* zu schaffen.
Maike Tragsdorf (ufuq.de):
Wieso profitieren denn auch männlich (gelesene) Schüler davon, sich mit diesem Thema zu beschäftigen?
Reina-Maria Nerlich:
Für männlich gelesene Schüler ist es wichtig, sich mit dem Thema auseinanderzusetzen, da dies einen Beitrag zur freien Entfaltung der Persönlichkeit leistet. Wenn ich als Jugendlicher glaube, irgendwelche Normvorstellungen darüber, wie und was ein Mann zu sein hat, erfüllen zu müssen, dann schade ich nicht nur (potentiell) anderen mit meinen Rollenvorstellungen und Geschlechterbildern, sondern limitiere insbesondere mich selbst in meinen Denk-, Lebens- und Handlungsoptionen.
[1] Fazackerley, A. (7. Januar 2023). ‘Vulnerable boys are drawn in’: schools fear spread of Andrew Tate’s misogyny.
Die elfseitige Arbeitshilfe steht kostenlos als Download zur Verfügung und ist sowohl für den Unterricht als auch für die außerschulische Bildungsarbeit geeignet.
Diese Publikation erscheint im Rahmen des Kompetenznetzwerks „Islamistischer Extremismus“ (KN:IX).
Bildnachweis: © Beth Jnr / Titel: „blau-weißes Surfbrett am Strand tagsüber“/ unsplash.com