Jenseits des Religiösen – Themen für die Präventionsarbeit in sozialen Medien
16. Juni 2017 | Jugendkulturen und Soziale Medien, Radikalisierung und Prävention

Präventionsarbeit in sozialen Medien beschränkt sich nicht auf eine Begegnung explizit islamistischer Botschaften, sondern umfasst vor allem auch die Auseinandersetzung mit Themen, die eine Hinwendung zu extremistischen Szenen befördern können. Umso wichtiger ist daher die Thematisierung von Erfahrungen und Interessen von Jugendlichen, für die es ansonsten aber oft keinen Raum gibt. In seinem Beitrag gibt Götz Nordbruch einen Überblick über nichtreligiöse Themen, die für die Präventionsarbeit relevant sind.

„Die Krise heißt Kapitalismus!“ heißt es auf einem Bild der islamistischen Online-Initiative „Islamisches Erwachen“. Darunter folgt in großer Schrift „Systemwechsel“ im Layout eines Buttons, wie man sie von Microsoft- oder Apple-Computern kennt. Das Versprechen einer islamischen Gesellschaft steht hier für eine Alternative zu den Krisen, von denen Deutschland und Europa gegenwärtig geprägt ist.

Dieses Bild steht exemplarisch für die Vielzahl der Botschaften, die von islamistischen Akteuren unterschiedlicher Couleur in sozialen Medien verbreitet werden. Dabei geht es oft vor allem um gesellschaftliche und politische Themen, die Jugendliche und junge Erwachsene beschäftigen. Religion ist die Antwort, aber nicht der Ausgangspunkt vieler dieser Ansprachen.

Hintergrund

Diese Erfahrungen aus der Jugend- und Bildungsarbeit zu salafistischen Ansprachen in sozialen Medien decken sich mit den Ergebnissen von Studien über Hintergründe und Ursachen von Radikalisierungsprozessen. Religion und Glauben spielen dabei eine Rolle, aber auch gesellschaftliche und politische Fragen können die Hinwendung zu salafistischen Szenen befördern. So beschreiben diverse Studien das Gefühl eines „Unbehagens in der Gesellschaft“, Desintegrationserfahrungen oder die Erfahrung von Marginalisierung und Diskriminierung als wichtige Faktoren, die eine Abwendung von der Gesellschaft und eine Hinwendung zu religiös-extremistischen Strömungen befördern können. In ähnlicher Weise verweist auch die Studie „Lebenswelten junger Muslime“, die vom Bundesministerium des Innern (2011) in Auftrag gegeben wurde, auf die negativen Auswirkungen entsprechender Erfahrungen auf das Selbstverständnis und das Gefühl von Zugehörigkeit von Muslim_innen zur Gesellschaft. Am Beispiel der Sarrazin-Debatte zeigen die Autoren, wie sich die Einstellungen unter Muslim_innen im Verlauf der Debatte veränderten.

Vor diesem Hintergrund lassen sich „Gegennarrative“, „alternative Narrative“ oder „Gegenrede“ nicht auf religiöse Inhalte beschränken. Ebenso wichtig ist die Auseinandersetzung mit Themen, Interessen und Konflikten, die den Alltag von Jugendlichen unterschiedlicher Herkunft und Religionszugehörigkeit prägen. Entscheidend ist dabei die Authentizität der „alternativen Narrative“. Botschaften, die direkt oder indirekt mit staatlichen oder bildungspolitischen Interessen in Verbindung gebracht werden, sind in der Regel nur bedingt glaubwürdig.

Erfahrungen mit Rassismus und Diskriminierungen

Der Erfolg von Predigern wie Pierre Vogel und anderen lässt sich auch damit erklären, dass sie gerade jene Themen aufgreifen, die viele Jugendliche im Alltag bewegen. Exemplarisch hierfür stehen Vogels Vorträge und Veranstaltungen (und die Youtube-Videos, die davon verbreitet werden), in denen er Diskriminierungen und Erfahrungen mit rassistischen Anfeindungen anspricht. Bereits im Sommer 2009 gelang es ihm, mit einer kurzfristig organisierten Demonstration in Berlin anlässlich des Mordes an der Ägypterin Marwa El-Sherbini in Dresden hunderte Jugendliche zu mobilisieren, die mit der salafistischen Szene zuvor kaum etwas zu tun hatten. In ähnlicher Weise erreichte die islamistische Online-Initiative „Generation Islam“ Anfang 2015 hunderttausende Internetnutzer mit einem Video, in dem Muslim_innen als „neue Juden“ beschrieben wurden. Auch hier ging die Zahl der Zuschauer weit über das eigentliche Publikum dieser Initiative hinaus.

Auffallend ist auch hier, dass religiöse Inhalte wenn überhaupt nur am Rande angesprochen werden – im Mittelpunkt steht die Instrumentalisierung des Gefühls, als Muslim_innen in der Gesellschaft diskriminiert und angefeindet zu werden. Rassismus und Ausgrenzung werden hier zu einer „Opferideologie“, in der „der Westen“ zu einer existentiellen Bedrohung erklärt wird.

Interessant ist in diesem Zusammenhang die zunehmende Verbreitung von Bildern und Botschaften, die sich nicht mehr unmittelbar einem bestimmten islamistischen Akteur zugeschrieben lassen. So wurde beispielsweise das Bild einer Frau mit Burkini am Strand von Nizza, die von einer Gruppe Polizisten dazu gedrängt wurde, ihre Verhüllung abzunehmen (August 2016), in sozialen Medien breit geteilt. Das Bild wurde nicht von islamistischen Akteuren selbst verbreitet, bestärkte aber dennoch in vielen Diskussionen deren Argumentationen: „Der Westen führt einen Krieg gegen Muslime!“

Die Entwicklung von Gegennarrativen beschränkt sich insofern nicht auf eine Begegnung explizit islamistischer Botschaften, sondern umfasst auch die Auseinandersetzung mit Themen, die eine Hinwendung zu extremistischen Szenen befördern können. Umso wichtiger ist daher die Thematisierung von entsprechenden Wahrnehmungen, die häufig an realen Erfahrungen anknüpfen, für die es für Jugendliche ansonsten aber oft keinen Raum gibt, sie anzusprechen.

Alternative Narrative bieten die Möglichkeit, Erlebnisse mit Diskriminierungen aufzugreifen und zugleich dem verbreiteten Gefühl von Ohnmacht und Hilflosigkeit entgegenzuwirken. Denkbar sind hier u.a. Beiträge, in denen Beispiele für rassistische Anfeindungen angesprochen und anerkannt werden, um in einem zweiten Schritt Handlungsmöglichkeiten vorstellen, wie man sich auch als Muslim_in in Deutschland für eigene Rechte und Interesse einsetzen kann. Gerade an diesem Beispiel wird die Notwendigkeit einer Verknüpfung von Online- und Offline-Angeboten sichtbar. So lassen sich beispielsweise Auseinandersetzungen mit Diskriminierungserfahrungen von Muslim_innen in Schule, auf dem Arbeits- oder Wohnungsmarkt mit dem Hinweis auf Antidiskriminierungsstellen vor Ort verbinden. Die Botschaft könnte lauten: „Ja, Rassismus ist ein großes Problem in der Gesellschaft, aber Du bist nicht wehrlos. Wir leben in einem Rechtsstaat und die Gesellschaft unterstützt Dich dabei, Deine Rechte durchzusetzen. Du kannst Dich an die Anlaufstelle für Diskriminierungsschutz an Schulen wenden!“

Konflikte im Nahen Osten

Das Bild eines „Krieges gegen Muslim_innen“ spielt auch im Zusammenhang mit den verschiedenen Konflikten im Nahen Osten eine wichtige Rolle. Auch hier dienen Bilder und Videos von Opfern der Kriege in Israel/Palästina, Syrien oder dem Irak dazu, den islamistischen Narrativen Glaubwürdigkeit zu verleihen. Ähnlich wie in der Auseinandersetzung mit dem Thema Rassismus spielt auch hier die besondere Emotionalität der Bilder eine entscheidende Rolle. Anders als gewaltverherrlichende Videos, wie sie beispielsweise vom Islamischen Staat verbreitet werden, erreichen diese Bilder ein deutlich größeres Publikum, weil sie Gewalt nicht verklären, sondern anklagen. Im Unterschied zu Hinrichtungsvideos aus Syrien oder dem Irak, die für die meisten Jugendlichen wegen ihrer Brutalität abschreckend wirken, wenden sich diese Videos nicht in erster Linie an Zuschauer, die bereits gewaltaffin sind, sondern an jene, die angesichts der Gewalt in verschiedenen Ländern des Nahen Ostens Empörung und Frustration empfinden. In islamistischen Videos wird diese Empörung instrumentalisiert, um zum Handeln aufzufordern: „Wann werden ihr endlich aufstehen und für Eure Geschwister kämpfen?!“

Auch hier bieten alternative Narrative die Möglichkeit, die Emotionalität dieser Bilder aufzugreifen und Umgangsweisen aufzuzeigen, die dem Gefühl von Ohnmacht entgegenwirken. Dabei geht es nicht darum zu suggerieren, Jugendliche könnten diese Konflikte „lösen“. Im Mittelpunkt steht die Anerkennung, dass diese Konflikte bewegen und auch in der deutschen Öffentlichkeit einen Raum haben. Dies beinhaltet auch eine Auseinandersetzung mit der aktuelle und historische Verantwortung Europas und der USA für das Geschehen in diesen Ländern. Das Eingeständnis, dass beispielsweise der Krieg im Irak wesentlich zur Eskalation der aktuellen Konflikte beigetragen hat, wäre hier eine Möglichkeit, um dem Eindruck eines „vom Westen“ geschürten Krieges gegen Muslim_innen entgegenzuwirken.

Auch wenn es im Alltag kaum möglich ist, das Geschehen in Syrien, Irak oder Israel/Palästina entscheidend zu beeinflussen, lassen sich auch hier Handlungsmöglichkeiten aufzeigen. Dies betrifft beispielsweise die Darstellung von Perspektiven auf die Konflikte, wie sie von Jugendlichen mit Migrationsbiographien gesehen werden, die in der öffentlichen Diskussion aber oft zu kurz kommen, oder die Vorstellung von Initiativen, die sich für die Bevölkerung vor Ort einsetzen. Der Krieg wird dadurch nicht beendet, aber es tun sich Möglichkeiten auf, selbst zu handeln und Selbstwirksamkeit auch in diesen Fragen zu erleben.

Geschlechterrollen und gesellschaftliche Vielfalt

Die Attraktivität von salafistischen Ansprachen gründet nicht zuletzt in der Klarheit und Eindeutigkeit ihrer Antworten. Dies betrifft insbesondere auch jene Fragen, die sich Jugendlichen im Umgang mit gesellschaftlichen Unterschieden stellen. In einer pluralistischen Gesellschaft, in der unterschiedliche Geschlechterrollen, Lebensvorstellungen und Biographien zumindest dem Anspruch nach gleichberechtigt nebeneinanderstehen, ist es schwer, eigene Wege zu finden und gegenüber anderen (z.B. gegenüber Freunden, Lehrern oder Angehörigen) zu begründen und zu verteidigen. Diese Freiheit, selbst wählen zu können, kann insofern auch zur Last werden.

Vor diesem Hintergrund finden sich in salafistischen Botschaften immer wieder Angebote, die dem Einzelnen die Verantwortung und die Last einer solchen Wahl abnehmen: „Gott hat uns die Entscheidung abgenommen!“ Auffallend ist dabei die Ähnlichkeit der Themen, die in salafistischen und rechtsextremen Medien aufgegriffen werden. Homosexualität und sexuelle Orientierung, sich verändernde Familienstrukturen und wachsende kulturelle Vielfalt sind nur einige Beispiele, die sowohl auf salafistischen Seiten als auch in rechtsextremen Angeboten behandelt werden. Der Wunsch nach Klarheit wird in beiden Fällen mit dem Verweis auf eine quasi-natürliche Bestimmung durch Gott bzw. Natur und „Volk“ beantwortet.

Die Chance von alternative Narrativen liegt dabei nicht darin, Antworten vorzugeben, sondern für die Normalität und Selbstverständlichkeit gesellschaftlicher Vielfalt zu sensibilisieren und einen Umgang mit Unterschieden zu stärken. Unter Muslim_innen und Nichtmuslim_innen sind unterschiedliche Lebensweisen und –vorstellungen Alltag, dennoch ist diese Vielfalt gerade Jugendlichen vielfach nicht bewusst. Alternative Narrative bieten die Möglichkeit, unterschiedliche Biographien und Selbstverständnisse von Muslim_innen abzubilden und damit für Jugendliche „denkbar“ zu machen. Die Erfahrung und Auseinandersetzung mit Personen, die sich selbst als Muslim_innen sehen, aber im Alltag ganz unterschiedlich mit Fragen von Religion, Identität und Geschlechterrollen umgehen, kann Jugendliche darin bestärken, eigene Wege zu finden und sich auf der Grundlage eigener Interessen und Bedürfnisse zu orientieren.

Zusammenfassung

Die Themen, die in Gegennarrativen und alternativen Narrativen angesprochen werden können, beschränken sich nicht auf Religion und Glauben. In vielen Fällen geht es vor allem um gesellschaftliche und politische Fragen, die in religiös-extremistischen Ansprachen instrumentalisiert werden. Die Glaubwürdigkeit und Attraktivität dieser Narrative entscheidet sich dabei auch an der Authentizität der Erzählungen. Persönliche Botschaften, die als Geschichten oder Erlebnisse von realen Personen berichtet werden, haben dabei eine besondere Wirkung. Die Repräsentation und Sichtbarmachung von Pluralismus und Diversität als alltägliche Normalität ist dabei eine Strategie, die sich dem islamistischen Anspruch nach Eindeutigkeit und Homogenität entgegensetzt.

Dies bedeutet auch, Jugendliche für den Umgang mit Konflikten, Kompromissen und Widerspruch zu stärken und Ambiguitätstoleranz zu fördern. Unterschiede und Pluralismus bedeuten zwangsläufig auch Konflikt und Kontroverse – die in modernen Gesellschaften aber dazu gehören. Die Auseinandersetzung mit unterschiedlichen muslimischen role models ist hier eine Möglichkeit, um Jugendlichen Alternativen zu islamistischen Rollenbildern aufzuzeigen. Ebenso wichtig ist die Entwicklung konkreter Handlungsoptionen, die Jugendlichen die Erfahrung von Selbstwirksamkeit vermitteln können. Besonders vielversprechend sind hier Botschaften, die sich nicht auf Online-Narrative beschränken, sondern mit konkreten Handlungsmöglichkeiten im Alltag verbunden sind.

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