Mit Kampagnen und direkten Ansprachen in Jugendeinrichtungen, Schulen und Moscheen wenden sich islamistische Initiativen wie „Realität Islam“ vor allem an junge Erwachsene. Dabei schließen sie oft Lücken, die in Schule, Jugend- und Sozialarbeit entstanden sind. Die ideologischen Hintergründe sind nicht immer sofort erkennbar. (Update mit Korrektur vom 10. Feb. 2019)
„Die ewige Kopftuchdebatte – Unterdrückung vs. Emanzipation“ – unter diesem Titel stand eine Diskussionsveranstaltung, die für Ende Oktober vergangenen Jahres am Helmut-Schmidt-Gymnasium in Hamburg angekündigt war. Die Veranstaltung wurde von der Schulleitung kurzfristig aufgrund von Sicherheitsbedenken abgesagt. Im Vorfeld hatte vor allem die Teilnahme von Suhaib Raimund Hoffmann von der Initiative „Realität Islam“ für Kritik gesorgt, der sowohl vom Verfassungsschutz als auch von unabhängigen Beobachter_innen eine Nähe zur in Deutschland verbotenen islamistischen Hizb ut-Tahrir („Partei der Befreiung“) vorgeworfen werden (siehe unter anderem hamburg.de und huffingtonpost.de).
Die Initiator_innen von „Realität Islam“ machten in den vergangenen Monaten außer mit Online-Angeboten auch mit dutzenden Aktionen in Fußgängerzonen unter anderem in Berlin, Hamburg und dem Rhein-Main-Gebiet auf sich aufmerksam. Zusammen mit der Initiative „Generation Islam“ starteten sie im April 2018 die Kampagne #NichtohnemeinKopftuch gegen mögliche Kopftuchverbote an Schulen und warben mit einer Online-Petition an den Bundestag über 170.000 Unterstützer_innen.
Der Erfolg dieser Kampagne spiegelt sich auch in verstärkten Ansprachen im Umfeld von Jugendeinrichtungen und Moscheen. So berichtete die Zeit über Konflikte, die sich in einer Jugendeinrichtung in Hamburg-Wilhelmsburg im Zusammenhang mit der Kampagne gegen ein mögliches Kopftuchverbot entwickelten (siehe zeit.de). Auch Lydia Nofal von der RAA Berlin, die in der muslimischen Jugendarbeit tätig ist und in diesem Rahmen Präventionsprojekte umsetzt, berichtet von solchen Erfahrungen. „Wir bekommen von Jugendleitern aus den Moscheen mit, dass Menschen aus dem weiteren Umfeld der Hizb ut-Tahrir zu den Treffen der Jugendgruppen kommen und dort gezielt die Jüngeren ansprechen“, sagt Nofal. „Auch von Ansprachen junger Menschen direkt im Anschluss an das Freitagsgebet wurde uns berichtet. Dabei wird zum Beispiel danach gefragt, worüber der Imam gepredigt habe. Die Antwort lautet dann in etwa: ‚Na, da sieht man es ja mal wieder, über die wirklich wichtigen Sachen spricht er nicht. Wir werden als Muslime unterdrückt und der Imam sagt nichts dazu.’“ Den meisten Moscheen seien die Hintergründe dieser Aktionen bewusst und es werde versucht, diese zu unterbinden. Dennoch gelänge es den Aktivist_innen häufig, die Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen.
Die Aktivitäten dieser Initiativen stehen für eine verstärkte Sichtbarkeit dieser islamistischen Strömung, die sich insbesondere an Jugendliche wendet – und dabei nicht auf den ersten Blick einzuordnen ist. Das breite Interesse an der Kampagne, die außer im Internet auch mit Flyern und Postern beworben wurde, macht die Subtilität der Botschaften deutlich, mit denen diese Initiativen auf Jugendliche zugehen. Im Mittelpunkt stehen dabei oft nicht explizit religiöse Inhalte, sondern vor allem gesellschaftliche und politische Themen, die für Jugendliche relevant sind. So werden hier am Beispiel der Debatten um das Kopftuch Erfahrungen mit Rassismus aufgegriffen, die viele Jugendliche im Alltag machen. In diesem Sinne wendet sich ein Flyer der „Realität Islam“ direkt an Jugendliche: „Geliebte Muslime, wir sprechen zu Euch. Gemeinsam für eine starke und bewusst agierende islamische Gemeinschaft“, heißt es in der Ansprache, bevor in einem mehrseitigen Text die Bedeutung des öffentlichen Engagements für die Interessen der Muslim_innen herausgestellt wird. Mit Bezug auf die Online-Petition gegen ein mögliches Kopftuchverbot schreiben die Autor_innen, die Unterstützer_innen der Petition hätten Weitsicht gezeigt und den mit einem Kopftuchverbot geplanten „Eingriff in unsere islamische Lebensweise und somit in unsere Identität als Muslime“ zurückgewiesen. Die Unterstützung der Petition stünde für eine Solidarität „für den Islam und die islamische Gemeinschaft hierzulande“. Schließlich bestünde eine „der größten Prüfungen für uns Muslime, die sich hier in den westlichen Ländern niedergelassen haben“, darin, „unsere islamische Identität zu schützen, unser Selbst zu bewahren und nicht der Assimilation zum Opfer zu fallen.“
Auffallend ist in diesen Veröffentlichungen die bewusste Vermeidung einer explizit konfrontativen Haltung gegenüber Nichtmuslim_innen, wie sie zum Beispiel in Teilen der salafistischen Szene vertreten wird und dadurch schnell als Ausdruck einer islamistischen Ideologie zu erkennen ist. So wenden sich die Macher_innen von „Realität Islam“ auch an Nichtmuslim_innen („Werte Mitbürger“) und beschreiben die Gefahr einer wachsenden Polarisierung, die durch Rassismus gegenüber Muslim_innen geschürt werde. „Wir können nicht zulassen, dass unsere Frauen, Mütter und Töchter als Feinde markiert werden und immer weiteren Aggressionen durch aufgehetzte Mitbürger ausgesetzt werden“, heißt es in einem anderen Flugblatt, das online zum Nachdrucken verbreitet wird.
Die Wirkung einer solchen emotionalen, aber zunächst sachlichen Ansprache zeigte sich bereits 2015 in dem Erfolg des Videos „Der neue Jude: Der ewige Muslim“, das von der Initiative „Generation Islam“ verbreitet wurde und in weiten Teilen reale Probleme mit Diskriminierungen und antimuslimischem Rassismus benannte, zugleich allerdings pauschalisierende und verschwörungstheoretische Vorstellungen über eine vermeintlich grundsätzlich feindselige nichtmuslimische Umgebung schürte. Anders als viele salafistische Akteur_innen, die mit ihrer nach außen getragenen Religiosität und ihrem religiösen Jargon häufig eher verschrecken, sind diese Initiativen leicht anschlussfähig an gesellschaftliche Diskurse. So stieß die Kampagne gegen das Kopftuchverbot auch unter Muslim_innen auf Zuspruch, die ansonsten keinerlei Bezüge zu islamistischen Strömungen haben. Und auch für Nichtmuslim_innen erscheinen Vertreter_innen dieser Initiativen bisweilen als seriöse Gesprächspartner_innen.
In den lebensweltbezogenen Botschaften sieht auch Nofal die besondere Attraktivität der Angebote, mit denen Aktivist_innen aus dem Umfeld der Hizb ut-Tahrir gerade an Jugendliche in Moscheen herantreten. „Sie knüpfen direkt an den Diskriminierungserfahrungen der Jugendlichen an. Viele Jugendliche machen zum Beispiel in Schulen Erfahrungen mit Benachteiligungen und Anfeindungen und werden damit alleine gelassen. Die Eltern sind oft überfordert und auch die Schulleitung bietet häufig keine Unterstützung. Antidiskriminierungsstrukturen an Schulen mit Anlaufstellen, Beratung und Verfahrensregeln fehlen noch immer weitgehend.“
Im Opfernarrativ, das mit diesen Ansprachen verbreitet wird und mit dem ein Rückzug auf die Umma, die weltweite Gemeinschaft der Muslim_innen, gefordert wird, treffen sich diese Initiativen mit anderen islamistischen Strömungen, die sich bei allen inhaltlichen und strategischen Unterschieden in einer mehr oder weniger deutlichen Abgrenzung von „den“ Nichtmuslim_innen treffen. Eine besondere Nähe von Initiativen wie „Realität Islam“ zur Ideologie der Hizb ut-Tahrir zeigt sich – jenseits von direkten Bezügen wie der Verlinkung eines Buches von Hoffmann auf der Webseite der Hizb ut-Tahrir als „Buchtipp“ – in der strategischen Ausrichtung der Aktivitäten. So beschreibt die Hizb ut-Tahrir drei Phasen, in deren Verlauf die Errichtung eines islamischen Staates als Kalifat erreicht werden soll: „Erstens: Die Ausbildungsphase. Sie soll Personen hervorbringen, die von der Idee und Methode der Partei überzeugt sind, um den parteilichen Block zu formen. Zweitens: Die Interaktionsphase mit der Umma, um ihr den Islam aufzutragen, damit sie ihn zu ihrem Anliegen macht und sich für seine Realisierung im Leben, im Staat und in der Gesellschaft einsetzt. Drittens: Die Phase der Regierungsübernahme, in welcher der Islam vollständig und umfassend implementiert und als Botschaft in die Welt getragen wird.“ (Hizb ut-Tahrir, Die Methode von Hizb-ut-Tahrir zur Veränderung, Beirut, 2009, S. 49) In diesem Sinne gibt sich auch „Realität Islam“ offen für Kontakte zu anderen islamistischen Strömungen. So bedanken sie sich in ihren Flugblättern ausdrücklich für die Unterstützung ihrer Kampagnen, die sie von salafistischen Predigern wie Pierre Vogel und Marcel Krass erfahren haben.
In den Veröffentlichungen von „Realität Islam“ und „Generation Islam“ fehlen direkte Bezugnahmen auf die Hizb ut-Tahrir, deren Betätigungsverbot 2003 unter anderem mit Aufrufen zur Vernichtung Israels und zur Tötung von Juden begründet wurde. Auch explizite Abwertungen und Denunziationen von Andersdenkenden finden sich nur am Rande. In den Opfernarrativen und dem Appell zu einem Rückzug auf die Umma spiegeln sich gleichwohl wichtige Elemente islamistischer Ideologien, die in Ansätzen der Präventionsarbeit aufgegriffen werden sollten. So bieten diese Initiativen Jugendlichen ein Forum, um über Diskriminierungs- und Rassismuserfahrungen zu sprechen und sich aktiv für eigene Interessen einzusetzen. Vor diesem Hintergrund betont Nofal die Bedeutung von Unterstützungs- und Beratungsangeboten, die Diskriminierungserfahrungen aufgreifen und alternative Angebote entwickeln. „Letztlich bieten diese Aktivist_innen eine Art Empowerment. Sie schließen eine Lücke, die durch fehlende Antidiskriminierungsstrukturen und weitere Unterstützungsangebote gerade an Schulen entstanden ist.“
Korrektur (10. Feb. 2019):
In einer früheren Fassung wurde die Diskussionsveranstaltung des Helmut-Schmidt-Gymnasiums in Hamburg als Beispiel dafür genannt, wie schwierig es ist, die Hintergründe von Realität Islam und ähnlichen Initiativen zu erkennen. Anders als in der ursprünglichen Fassung geschrieben, war den Organisator_innen der problematische Hintergrund von „Realität Islam“ bewusst. Die Veranstaltung zielte auf eine inhaltliche Auseinandersetzung mit der Initiative. Der Beitrag wurde entsprechend geändert.