„Unterschiedliche Leute haben unterschiedliche Ideen von Freiheit“ – Ansätze des islamischen Feminismus
28. September 2017 | Gender und Sexualität

Ist die Unterdrückung von Frauen dem Islam inhärent? In vielen Debatten erscheinen Islam und Feminismus als unvereinbar. Dabei sind islamische Feminismen schon in der Entstehungszeit des Islams zu finden – und Feminismus ist nicht zwangsläufig ein säkulares Projekt. Lana Sirri, Aktivistin und Genderforscherin, hat eine „Einführung in islamische Feminismen“ verfasst und sich mit Aylin Yavaş über das Buch unterhalten.

Lana wie kamst du dazu, dieses Buch zu schreiben?

Lana Sirri: Ich komme aus einer muslimischen Familie, aber der Islam war eigentlich nie ein großes Thema bei uns. Als Palästinenserin in Israel war meine palästinensische Identität stets viel wichtiger für mich. Umso interessanter war es dann, dass meine muslimische Identität sogar zu dem Hauptmerkmal meiner Identität wurde, als ich nach Deutschland kam. Dass man dann plötzlich vor allem als Muslim gesehen wird, hat natürlich sehr viel mit dem deutschen Kontext zu tun, mit antimuslimischem Rassismus, mit der Kopftuchdebatte hierzulande und vielem mehr.

Mein Interesse an Islam und Feminismus entwickelte sich, als ich an der Universität immer wieder in Situationen kam, in denen ich die einzige muslimische Frau of Color war, aber alle Weißen über die unterdrückte und zu befreiende muslimische Frau sprachen. Das war und ist leider immer noch der Diskurs in der Wissenschaft und auch im Aktivismus. Was ich hier mitbekam, passte jedoch gar nicht zu dem Umfeld, in dem ich aufwuchs. Meine Mutter ist eine starke, unabhängige Frau, die das Kopftuch trägt. Also habe ich mich zunächst gefragt, ob ich vielleicht etwas übersehe und muslimische Frauen tatsächlich unterdrückt sind. Deswegen habe ich angefangen, dieses Thema wissenschaftlich zu untersuchen. Aber es hat sich dann schnell herausgestellt, dass die Frage gar nicht ist, ob sie unterdrückt sind, denn als Frauen sind sie das – und zwar nicht nur in muslimischen Ländern, sondern in allen patriarchal strukturierten Gesellschaften, d.h. eigentlich fast weltweit -, sondern ob sie tatsächlich durch Andere befreit werden müssen.

Nun hast du ja ein ganzes Buch zu diesem Thema geschrieben, aber was sind denn islamische Feminismen?

Es gibt ganz unterschiedliche Ansätze, die Wissenschaftler_innen und Aktivist_innen wählen, um gegen Unterdrückung, Diskriminierung, Misogynie und Sexismus zu kämpfen. Ein Ansatz ist der Weg der Relektüre des Qur‘ans: Sind Frauen wirklich weniger wert? Sind Frauen wirklich unterdrückt? Haben Frauen wirklich weniger Rechte als Männer? Ist der Qur‘an sexistisch? Wenn ich über diese Fragen spreche, dann meine ich übrigens nicht nur das Verhältnis von Männern und Frauen. Gleichzeitig spreche ich über verschiedene marginalisierte Gruppen, seien es Frauen, LGBT oder Nicht-Muslim_innen. In dieser Relektüre und Reinterpretation nehmen sich Frauen den Quellen an und versuchen, diese Fragen zu klären. Das unterscheidet sich gar nicht so sehr von feministischen Bewegungen anderer Religionen.

Die eben formulierten Fragen lassen sich übrigens verneinen, denn der Qur‘an kann – genau wie jedes andere Buch – auf unterschiedliche Weisen gelesen werden. Das heißt, Feminist_innen beanspruchen nicht, die wahre Interpretation gefunden zu haben, es geht vielmehr um die Vorstellung von „situiertem Wissen“. Lana, eine Frau in Berlin im Jahr 2017, würde den Qur‘an zum Beispiel ganz anders lesen, als ein Mann im 9. Jahrhundert in Marokko.

Das trifft auch auf Konzepte von Gender oder Freiheit zu, beispielsweise spricht der Qur‘an von Freiheit, aber gleichzeitig auch von Sklaverei. Das passt nicht zusammen – für uns heute. Aber zur Entstehungszeit des Islams passte das durchaus zusammen. Wie wir also all diese Konzepte und Begriffe verstehen, hängt jeweils von unserem eigenen historisch-politischen Kontext ab.

Bis heute wurde dieser Ansatz als islamischer Feminismus begriffen. Ich argumentiere in meinem Buch, dass islamische Feminismen viel weiter zu fassen sind. Zum Beispiel ist es eine feministische Praxis und damit ein zweiter Ansatz in islamischen Feminismen, wenn Frauen aufzeigen, wie die koloniale Vergangenheit Gender-Ungleichheit in islamischen Gesellschaften geprägt hat, die sich bis heute auswirkt.

Eine der führenden Wissenschaftlerin in diesem Feld ist Leila Ahmed, die sichtbar macht, wie der britische Kolonialismus in Ägypten Frauen – mit der Behauptung, sie zu befreien -, eigentlich vielmehr zurückwarf. Die Kolonisatoren schlossen beispielsweise Medizinschulen für Frauen und beschränkten ihren Zugang zu Bildung – und das im Namen der Freiheit.

Der dritte Ansatz, beschreibt die Idee des Verstehens und des Widerlegens der Binarität von Osten und Westen, Glauben und Rationalität, Religion und „Modernität“ als wären diese widersprüchlich. Wissenschaftler_innen wie Tariq Ramadan legen dar, wie der Islam den Westen zu dem gemacht hat, was er heute ist – und auch umgekehrt. Nicht zuletzt leugnen wir auch die Existenz und Beteiligung muslimischer Europäer_innen, wenn wir von einer Binarität dieser zwei Pole ausgehen.

Auch wenn ich hier drei verschiedene Wege der islamischen Feminismen beschreibe, sind sie dennoch miteinander verbunden. Man kann Binaritäten nicht dekonstruieren, ohne die koloniale Vergangenheit zu verstehen. Gleichzeitig können wir die gegenwärtigen Effekte des Kolonialismus nicht verstehen, ohne die Idee des situierten Wissens in der Relektüre des Qur‘an zu verstehen.

Gibt es denn Beispiele dafür, dass die islamischen Feminismen erfolgreich sind?

Ja, es gibt sehr erfolgreiche Bestrebungen von islamischen Feminist_innen. So konnten in Marokko und Tunesien in den letzten Jahren vielfach Gesetze durch ihre Arbeit geändert werden. Aber wenn wir die Situation in Deutschland mit der in Tunesien oder Marokko vergleichen, ist das ein falscher Vergleich, denn es gibt keine bestimmte Entwicklungslinie, der muslimische Frauen folgen sollten, um die gleichen Rechte wie schwedische oder deutsche Frauen zu erreichen. Gesellschaftliche Entwicklung ist kein linearer Verlauf. Es geht eher um die Idee von unterschiedlichen Freiheits- und Geschlechterkonzeptionen, die zum eigenen Kontext passen.

Was ist denn die Gemeinsamkeit der verschiedenen Ansätze, die du eben beschrieben hast?

Es geht nicht um Ideologie, um Religion, sondern um ein tool – ein Werkzeug, das helfen kann, unterschiedliche Diskriminierungssysteme in ihrer Kombination zu sehen. Ein Werkzeug, das mir sowohl als Muslima in Deutschland, als auch als Frau in einer muslimischen Gemeinschaft hilft. Und welches mir auch helfen kann, mich innerhalb der Kopftuchdebatten oder innerhalb antimuslimischer Diskriminierung zu positionieren.

Und wo siehst du Unterschiede zwischen islamischem und säkularem oder westlichem Feminismus?

Das ist ziemlich einfach: Man fügt Religion als eine weitere Kategorie der Intersektionalität von class, gender, race hinzu. Schwarze Feministinnen brachten „race“ als Kategorie in den feministischen Diskurs und begründeten damit einen intersektionalen Ansatz in die Auseinandersetzung um Gender. Die Belange von weißen Feministinnen können nicht auf die von schwarzen Feministinnen übertragen werden. Und islamischer Feminismus brachte Religion in diese Intersektion. Islamische Feminist_innen bringen die Kategorie Religion in die Intersektionalität. Während weiße Feministinnen Religion als Frauen unterdrückend wahrnehmen und die Idee von der Gleichzeitigkeit des Feministisch-Seins und des Religiös-Seins ablehnen, sehen bestimmte islamische Feministinnen eine Befreiung in der Religion. Im Gegensatz zu christlichen Feministinnen thematisieren islamische Feminist_innen auch die Rassifizierung von Islam und Muslimisch-Sein und antimuslimischen Rassismus, der Teil des mainstream-feministischen Diskurses ist.

Aber natürlich gibt es auch Feminismen in muslimischen Gesellschaften, die säkular sind oder waren. Zum Beispiel in den 50er/60er Jahren in vielen mehrheitlich muslimischen Gesellschaften, in denen die säkularen Bewegungen jedoch meist gescheitert sind, weil sie zwar für die Sichtbarkeit im öffentlichen Raum kämpften, aber gleichzeitig die Familie als System intakt hielten. Zudem scheiterten sie, weil sie die Effekte des Kolonialismus nicht berücksichtigten und stattdessen den Diskurs der Modernisierung als lineare Entwicklung adaptierten.

Weiße Feministinnen wie Alice Schwarzer verfolgen immer noch diese orientalistische Idee einer ganz bestimmen Vorstellung von Freiheit, in der auch Solidarität an spezifische Bedingungen geknüpft wird. Das hat sich auch bei den Femen-Protesten vor der Şehitlik Moschee in Berlin gezeigt, als die Aktivist_innen einen topless Dschihad veranstaltet, um unter anderem gegen das Kopftuch zu demonstrieren. Darin wird diese Vorstellung von Befreiung sehr deutlich. Es gibt ein mangelndes Verständnis dafür, dass unterschiedliche Leute unterschiedliche Ideen von Freiheit haben.

An wen richten sich denn islamische Feminismen?

An marginalisierte Gruppen: Frauen in muslimischen Gemeinschaften oder – ich versuche diese Begriffe zu vermeiden, aber es lässt sich manchmal nicht vermeiden – LGBT-Gruppen, muslimische Minderheiten. Ich würde sogar so weit gehen zu sagen, es geht um ein Werkzeug, das nicht zwangsläufig für Muslim_innen ist. Das sehen wir zum Beispiel im US-Kontext, leider weniger in Deutschland, dort gibt es eine Kollaboration zwischen Chicana Feministinnen, Schwarzen Feministinnen und islamischem Feministinnen, weil sie in vielen Hinsichten ähnliche diskriminierende Systeme erleben. Das heißt, es gibt einen Austausch: Als Schwarze Feministin, kann ich einige der tools des Islamischen Feminismus nutzen, als islamische Feministin kann ich einige der Ideen und Argumente des Chicana Feminismus nutzen usw.

In den USA gab es nach der Präsidentenwahl den women‘s march, bei dem verschiedene US-amerikanische Aktivistinnen, eine kopftuchtragende palästinensisch-amerikanische, eine asiatisch-amerikanische, eine afro-amerikanische und auch eine weiße Feministin zusammen etwas sehr großes, beeindruckendes organisiert haben. Etwas, was wir leider in Deutschland noch nicht haben.

Du sagst, dass ein Strang des islamischen Feminismus auf eine Dekonstruktion der Binaritäten abzielt. Was bedeutet dies für Vorstellungen von Freiheit und Unterordnung?

Interessanterweise haben die Leute, die ich für mein Buch interviewt habe, vielmehr über Unfreiheit als über Freiheit gesprochen. In vielen Erzählungen ging es um verschiedene Formen von Diskriminierung, die sie erleben, sei es durch die weiße LGBT Community oder durch die Mehrheitsgesellschaft, die ihre Freiheit beschränkt. Sie beziehen sich hier nicht auf Religion als solche, sondern als einen Ort, der ihnen Freiheit ermöglicht.

Okay, aber es gibt ja trotzdem das Argument, dass der Quran durch seine Regeln die Freiheit einschränkt.

Ja, es gibt tatsächlich diskriminierende und androzentristische Momente im Qur’an. Wir bestreiten nicht, dass viele muslimische Frauen und andere marginalsierte Gruppen im Namen des Islams diskriminiert und unterdrückt werden.

Islamische Feminist_innen lesen und reinterpretieren diese Verse des Qur’ans so, dass sie in unserer Realität adaptiert werden können. Manche Akteuer_innen gehen sogar so weit, dass das individuelle Bewusstsein und der Gerechtigkeitssinn manchmal mehr wiegt als das, was im Qur’an steht. Das ist allerdings kein allein islamisch-feministisches Argument. Schon frühmittelalterliche islamische Gelehrte wie die Mu’tazila philosophierten darüber, ob unser individueller Gerechtigkeitsinn wichtiger ist, als das qur’anische Gerechtigkeitsverständnis. Beispielhaft dafür ist die Abschaffung der Sklaverei in allen mehrheitlich-muslimischen Ländern, während es nie eine theologische Reform dazu kam. Dieses Beispiel zeigt, dass unser Bewusstsein als Muslim_a manchmal mehr wiegt, als das, was im Qur‘an steht, weil wir verstanden haben, dass das Unrecht ist. Und wenn wir die Weltanschauung des Qur’an als Forderung nach Gerechtigkeit verstehen, dann macht das auch Sinn.

Der wesentliche Punkt ist hier, dass es unser Kampf ist, innerhalb der muslimischen Gemeinschaften, und es nicht die Pflicht von weißen Feministinnen ist, uns zu „befreien“ und dafür auch die Bedingungen festzulegen.

Es gab 2014 schon mal ein deutschsprachiges Werk zu islamischen Feminismen von Zahra Ali. Darin schreibt sie, dass islamischer Feminismus gerade aufgrund des hohen Stellenwerts der Exegese als elitäres und exklusives Konzept gesehen werden muss. Wie siehst du das?

Klar, ist es ein Privileg lesen zu können, den Zugang zum Qur‘an zu haben, oder die Zeit und Muße zu haben, unterschiedliche Interpretationen zu vergleichen. Aber diejenigen, die islamische Feminismen nutzen, beschränken sie nicht nur auf die Interpretation, sondern sind vielmehr auch Aktivist_innen. Ein Beispiel dafür ist „Sisters in Islam“, eine Gruppe von Akademikerinnen, Jurist_innen und Aktivist_innen, die Gesetze und Politiken im Namen des Islams anfechten, wie Amina Wadud oder auch Fatima Mernissi. Wadud ist eine US-amerikanische Wissenschaftlerin, die eben nicht in der akademischen Blase blieb, sondern zusammen mit anderen malaysischen Frauen viele interessante Projekte in Malaysia initiierte, oder auch Fatima Mernissi, die ebenfalls wissenschaftlich zu diesen Themen gearbeitet hat und jetzt mit marokkanischen Frauen in der Peripherie arbeitet.

Das, was du über unterschiedliche Interpretationen erzählt, lässt sich gut in die religiöse Bildung übertragen. Wie steht es denn um politische Bildung?

Insbesondere in Bildungsprogrammen können islamische Feminismen viel beitragen, da dieser Ansatz versucht, die Effekte von Kolonialismus, Rassismus, Diskriminierung und der kolonialen Vergangenheit zu verstehen. Islamische Feminismen können uns dabei helfen zu begreifen, warum es der Körper der Frau ist, der im Zentrum steht – sowohl im westlich-befreienden, als auch im fundamental-islamistischen Diskurs. Das zeigt ein Beispiel der britischen Kolonialmächte in Ägypten, die zwar vorgaben, Frauen in Ägypten zu befreien, während sich gleichzeitig dieselben Männer gegen das Wahlrecht von Frauen in England aussprachen.

Aber um auf die Religion zurückzukommen: Es gibt in der Geschichte des Islams viele Beispiele von weiblichen role-models und auch männliche Theologen, die andere Verständnisse von Sexualität, Gender und Gleichheit haben, die aber mit der Zeit aus den Büchern verschwanden. Die Idee ist, sich nicht auf eine nostalgische Weise auf die Vergangenheit zu beziehen, sondern die unterschiedlichen Meinungen und Argumente zu sehen, die in allen Angelegenheiten diskutiert wurden. Die Aufgabe von islamischen Femist_innen ist es, diese Diskussionen wieder auf den Tisch zu bringen.

lana_cover

Lana Sirris Buch „Einführung in Islamische Feminismen“ ist im w_orten & meer-Verlag erschienen.

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