Islamfeindlichkeit und Islamismus: Ein Gespräch mit Jenny Omar über unsere Ansätze für die pädagogische Arbeit
5. November 2018 | Diversität und Diskriminierung, Radikalisierung und Prävention

Wie können Pädagoginnen und Pädagogen damit umgehen, wenn sie mit Islamfeindlichkeit und Islamismus konfrontiert werden? Was können sie in Verdachtsfällen unternehmen? Zu diesen und anderen Fragen führte das Themenportal von „Willkommen bei Freunden“ ein Interview mit Jenny Omar, Mitarbeiterin bei ufuq.de und Leiterin unseres Projekts „Wie wollen wir leben?“.

 

Willkommen bei Freunden: Wie finden Islamfeindlichkeit und Islamismus in Ihrer pädagogischen Arbeit zusammen?

Jenny Omar: Die Auseinandersetzung mit Erfahrungen von Diskriminierung und Rassismus spielt in der pädagogischen Arbeit genauso eine wichtige Rolle wie in der Prävention. Muslim_innen sind in Deutschland mit unterschiedlichen Formen von antimuslimischem Rassismus konfrontiert, zum Beispiel bei der Wohnungs- oder Arbeitsplatzsuche, aber auch in Schule und Alltag. In den vergangenen Jahren hat auch die Zahl von gewaltsamen Übergriffen und Anschlägen auf Moscheen zugenommen. Die Wahrnehmung von Muslim_innen als Problem ist in der gesamten Gesellschaft weit verbreitet. Gerade junge Muslim_innen sind mit solchen Erlebnissen konfrontiert. Frustration und Wut können die Folge sein. Islamistische Strömungen unterschiedlicher Couleur greifen diese Erfahrungen auf und suggerieren, „der Westen“ führe einen Krieg gegen „die“ Muslim_innen. Dabei wird die Umma, also die weltweite Gemeinschaft der Muslim_innen, als Zufluchtsort beworben: „Wenn ich schon nicht Deutsch sein kann, dann bin ich eben Muslim und damit Teil einer weltweiten Gemeinschaft von Brüdern und Schwestern.“

Wie wichtig ist diesbezüglich das Gefühl, zu einer Gruppe dazuzugehören?

Je schwieriger es ist, Zugehörigkeit zu erfahren und sich als Teil der Gesellschaft zu erleben, desto attraktiver werden Alternativen, die Gemeinschaft, Zusammenhalt und Solidarität versprechen. Um dies zu verhindern, ist es wichtig, in der Präventionsarbeit, aber auch ganz allgemein in der pädagogischen Arbeit, Räume zu schaffen, in denen Jugendliche über ihre Erfahrungen sprechen können. Kurz gesagt: Wer über Islamismus reden will, darf über Islamfeindlichkeit nicht schweigen. Die Aufgabe von Pädagog_innen besteht dabei vor allem darin, diese Erfahrungen ernst zu nehmen und anzuerkennen und Handlungsmöglichkeiten aufzuzeigen. Die Botschaft lautet in etwa: „Rassismus ist ein ernstes Problem, das viele belastet. Trotzdem ist man nicht hilf- und wehrlos, sondern man kann sich für seine Rechte und Interessen einsetzen. Dabei bist du nicht allein, ich unterstütze dich.“

Viele pädagogische Fachkräfte treibt die Frage um: Was, wenn der nächste Attentäter aus der Flüchtlingsunterkunft kommt oder aus dem Jugendclub, in dem ich arbeite? Wie schätzen Sie diese Gefahr ein?

Das Bundeskriminalamt schätzte die Zahl der Gefährder_innen im Bereich islamistischer Terrorismus im August 2018 auf 770 Personen. Davon sitzen 170 in Haft. Als Gefährder gelten jene Personen, denen schwere politisch motivierte Straftaten zugetraut werden. Die Zahl der Geflüchteten in der gesamten salafistischen Szene im Land Berlin – also auch jene, die nicht gewaltbereit sind – wurde kürzlich vom Berliner Verfassungsschutz mit 27 angegeben. Solche Zahlen sind wichtig, um das Phänomen richtig einzuordnen und den Aufregungspegel etwas herunterzuregeln.

Zum Vergleich: In den vergangenen dreißig Jahren gab es mehr als 150 Todesopfer rechter Gewalt, allein 2016 gab es 1.600 rechtsextreme Gewalttaten. Die Gefahr ist also sehr real, aber nicht jeder rechte Spruch eines Jugendlichen ist ein Hinweis auf eine bevorstehende Gewalttat. Trotzdem muss man natürlich handeln, denn Prävention setzt nicht erst bei Gewaltbereitschaft an, sondern wenn es zum Beispiel um Abwertungen, antidemokratische Einstellungen oder um Dominanzansprüche geht.

Wie setzen Sie das in Ihren Fortbildungen um?

In unseren Fortbildungen geht es vor allem darum, Pädagog_innen darin zu unterstützen, zwischen „normalen“ Konflikten und möglichen Radikalisierungen unterscheiden zu können. In aller Regel handelt es sich bei den Fällen, die uns in den Fortbildungen begegnen, um alltägliche Probleme, die mit Identitätskonflikten, jugendlichen Provokationen oder auch mit Sinnsuche zu tun haben – und für die man als Pädagog_in das nötige Handwerkszeug besitzt, um damit umzugehen. Man muss das Rad hier nicht neu erfinden. Wenn zum Beispiel ein Jugendlicher andere dazu drängt, während des Ramadans zu fasten und Nicht-Fastende abwertet, dann handelt es sich dabei zunächst um eine Form des sozialen Drucks und des Mobbings, die man aus dem pädagogischen Alltag kennt. Das ist kein Grund, die Situation schönzureden, aber man muss die Situation auch nicht dramatisieren.

Für alle Fälle, bei denen es tatsächlich Anzeichen dafür gibt, dass sich jemand intensiv mit salafistischen Inhalten auseinandersetzt oder sogar Kontakt zu salafistischen Szenen sucht, empfehlen wir, Beratungsstellen aufzusuchen, die es zu diesem Thema mittlerweile in allen Bundesländern gibt. Die Berater_innen können die Situation am besten einschätzen und konkrete Unterstützung anbieten – und bei der Gefahr von Selbst- und Fremdgefährdung auch die Polizei hinzuziehen.

Welche darüber hinaus gehenden Themen bewegen die Teilnehmenden in Ihren Fortbildungen?

Für viele Teilnehmenden in den Fortbildungen spielen Unsicherheiten im Umgang mit Fragen wie „Wie reagiere ich, wenn meine Schülerin nach den Ferien mit Kopftuch wiederkommt?“ oder „Was kann ich tun, wenn Eltern muslimischer Kinder die Teilnahme an Klassenfahrten nicht erlauben?“ eine große Rolle. Wir plädieren dann dafür, den religiösen Interessen von Jugendlichen Raum zu geben und trotzdem nicht alles durch die religiös-kulturelle Brille zu betrachten. Oft geht es den Jugendlichen in diesen Fällen vor allem darum, mit den eigenen Interessen und Perspektiven sichtbar zu werden. Sie möchten den Eindruck bekommen, dass sie tatsächlich gehört werden.

Wenn die Pädagog_innen es in einer Einrichtung im Alltag hinbekommen, solche Interessen ernst zu nehmen und zu berücksichtigen, ist schon viel gewonnen – zum Beispiel indem sie selbstverständlich auf religiöse Feste eingehen, die für die Jugendlichen oder jungen Erwachsenen wichtig sind, oder indem sie deutlich machen, dass jede_r Einzelne natürlich seine beziehungsweise ihre Religion so ausleben kann, wie er oder sie will. Die Erfahrung zeigt: Je alltäglicher der Umgang mit Religion in einer Einrichtung gelebt wird, desto weniger Konflikte gibt es.

Welche Rolle spielen in diesem Zusammenhang die Herkunftsländer?

Eine Frage, die von vielen Teilnehmenden kommt, betrifft die Situation in den Herkunftsländern. Welche Rolle spielt Religion zum Beispiel in Afghanistan? Welche ethnischen Gruppen gibt es in Syrien? Diese Fragen sind sehr verständlich, und es kann auch hilfreich sein, sich mit der Situation in den Herkunftsländern auszukennen. Dennoch versuchen wir auch hier, einen anderen Blick zu stärken und eher zu schauen, welche Interessen und Erfahrungen die Lebenswirklichkeit der Geflüchteten hier in Deutschland prägen. Denn um zu verstehen, wie ein junger Geflüchteter aus Afghanistan „tickt“, der jetzt in Duisburg oder Dessau lebt, ist es im Zweifel erstmal zweitrangig, wie die Clanstruktur in Wasiristan aussieht. Viel wichtiger ist, welche Ziele er für sich in Deutschland sieht, wie er hier Freunde findet, welchen Aufenthaltsstatus er hat oder ob er vielleicht Lust hat, ein Musikinstrument zu lernen. Deshalb: Religion und Herkunft können wichtig sein. Sie reichen aber nicht aus, wenn es darum geht, mit Jugendlichen zu arbeiten und mögliche Probleme zu durchschauen.

Islamistisch begründete Radikalisierung ist durchaus ein mediales und öffentlich diskutiertes Thema. Im Gegensatz dazu hört man eher wenig von Islamfeindlichkeit. Woran liegt das?

Über Islamfeindlichkeit oder besser antimuslimischen Rassismus wird deswegen weniger gesprochen, weil das Sprechen über Rassismus in Deutschland immer noch schwierig ist. Dies ließ sich ja in den letzten Wochen im Zusammenhang mit den Vorfällen in Chemnitz oder der #MeTwo-Kampagne beobachten, bei der Menschen mit Migrationsbiographien über Diskriminierungserfahrungen berichteten. Rassismus wird oft mit dem Nationalsozialismus in Verbindung gebracht, von dem viele sagen, er sei überwunden. Deshalb fällt es schwer, über Rassismus zu sprechen, wenn es nicht explizit um die „Rassenlehre“ geht. Rassismus ist jedoch für schwarze Menschen, Menschen of Colour, Muslim_innen, Rom_nja und Sinti_eze und Juden und Jüdinnen allgegenwärtig. Das reicht von abwertenden Aussagen in der U-Bahn über Medienberichte über „arabische Großfamilien“ bis hin zu racial profiling, also der gezielten Kontrolle von Personen, die aufgrund ihres Aussehens als verdächtig wahrgenommen werden. Racial profiling ist in Deutschland verboten, wird aber trotzdem oft praktiziert.

Wenn man Rassismus thematisiert und eine Auseinandersetzung mit rassistischen Diskriminierungen einfordert, dann geht es also nicht um einen rechten Rand, sondern um die Gesellschaft als Ganzes. Dass es da massive Widerstände gibt, liegt auf der Hand. Das war ja bei dem Thema „Ehe für alle“ nicht anders: Auch hier geht es letztlich darum, dass man sich selbst und seine eigenen Rollenbilder hinterfragt, vor allem aber auch seine eigenen Privilegien.

Wenn Fachkräfte Rat und Information zu den Themen Islam, Islamfeindlichkeit und Islamismus suchen, welche Websites, Bücher oder Videos empfehlen Sie als Einstieg ins Themenfeld?

Es gibt mittlerweile einige gute Materialien und Arbeitshilfen zu diesen Themen. Auf unserer Webplattform finden Sie Informationen und Anregungen für die pädagogische Arbeit dazu. Das sind Hintergrundinformationen über Lebenswelten junger Muslim_innen in Deutschland, aber zum Beispiel auch über unterschiedliche Ausdrucksformen von religiös-extremistischen Ideologien. Wichtig ist uns, möglichst konkrete Anregungen oder Materialien für die Praxis zusammenzustellen. Eine andere gute Quelle ist die Bundeszentrale für politische Bildung, die auf ihrer Webseite viele Informationen zu Islam und Rassismus bereitstellt. Im Infodienst Radikalisierungsprävention, der online erscheint, geht es ganz konkret um Ansätze der Präventionsarbeit. Hier findet man auch Ansprechpartner in verschiedenen Projekten, an die man sich wenden kann, um eigene Ansätze zu entwickeln und Erfahrungen auszutauschen.

Dieser Beitrag erschien zuerst im Oktober 2018 Online-Themenportal „Willkommen bei Freunden“. Das Bundesprogramm „Willkommen bei Freunden – Bündnisse für junge Flüchtlinge“ ist ein gemeinsames Programm der Deutschen Kinder- und Jugendstiftung und des Bundesministeriums für Familie, Senioren, Frauen und Jugend. Wir danken den Autor_innen und den Herausgeber_innen für die Erlaubnis, den Beitrag hier zu veröffentlichen.

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