Das Thema Islam in der Schule sorgt immer wieder für Diskussionen, gleichwohl haben sich die Debatten verändert. Das liege auch an Veränderungen in der Lehrer*innen- und Schüler*innenschaft, sagt Mara Sommerhoff, die das Referat Gesellschaft am Landesinstitut für Lehrerbildung und Schulentwicklung Hamburg leitet. Unter Lehrkräften nimmt sie eine wachsende Sensibilität für Fragen von Religion, Diskriminierung und Partizipation wahr, unter Schüler*innen ein wachsendes Selbstbewusstsein im Umgang mit ihrem Glauben und eigenen Interessen und Rechten.
ufuq.de:
Sie beraten Schulen im Umgang mit Fragen zum Islam. Auch in unseren Angeboten für Lehrkräfte spielt Religion eine wichtige Rolle, aber weniger im theologischen oder spirituellen Sinne als im Zusammenhang mit Fragen von Identität, Zugehörigkeit oder auch Ritualen. Wir beschreiben das als eine Auseinandersetzung mit dem „Thema hinter dem Thema“. Das stößt bisweilen auch auf Kritik, weil damit Fragen von Spiritualität oder Glaubenspraxis in den Hintergrund treten. Welche Rolle spielt Religion in Ihren Beratungen?
Mara Sommerhoff:
Aus den Gesprächen mit Lehrkräften habe ich den Eindruck, dass es vielen Jugendlichen nicht nur um Fragen von Identität und Zugehörigkeit geht, sondern auch um Fragen von Sinn, Spiritualität und Lebensgestaltung, wenngleich diese Fragen eng miteinander verknüpft sind. Diese Beschreibung gilt aber nicht nur für muslimische Schüler*innen. In Hamburg ist der Religionsunterricht interreligiös ausgerichtet – das wirkt tatsächlich als Ermöglichungsraum, in dem man über diese Fragen ins Gespräch kommen kann und in dem es akzeptiert ist, religiös zu sein. Das wird auch von Schüler*innen anderer religiöser Zugehörigkeiten so beschrieben und ist auch für die Diskussionen um Gebete und Gebetsräume von Bedeutung, denn es geht letztlich nicht nur um Bedürfnisse von Muslim*innen, sondern von Menschen unterschiedlicher Weltanschauungen.
ufuq.de:
Sind denn diese Fragen nach Gebetsräumen noch aktuell?
Mara Sommerhoff:
Wir haben zurzeit vermehrt Anfragen von Schulen und Lehrkräften, in denen es um den Wunsch von Schüler*innen geht, in der Schule zu beten. Das sind keine exorbitant hohen Zahlen, aber doch mehr als in den vergangenen Jahren. Wir erklären uns das auch damit, dass wir es mit einer neuen Generation von Schüler*innen zu tun haben. Die Schüler*innen der jetzigen Generation bringen ein anderes Selbstbewusstsein und auch eine andere Selbstverständlichkeit im Umgang mit ihrem Glauben mit, indem sie etwa sagen: „Mein Glauben ist mir wichtig – auch in der Schule – und ich möchte, liebe Lehrkräfte, auch hier in der Schule beten.“ Dabei spreche ich vor allem von älteren Schüler*innen, also etwa ab 15 Jahren.
Sicherlich spielt aber auch der noch nicht lange zurückliegende Ramadan eine Rolle bei der Anfragelage. Im Fastenmonat hat das Gebet für viele Menschen, die sich muslimisch positionieren, eine besondere Bedeutung und das spiegelt sich dann auch in den Schulen wider.
ufuq.de:
Geht es dabei allgemein um den Wunsch, in der Schule zu beten, oder wird das auch mit dem Wunsch nach besonderen Räumen verbunden?
Mara Sommerhoff:
Lehrkräfte interpretieren solche Anfragen von Schüler*innen oft als Wunsch nach separaten Gebetsräumen, allerdings ist das in vielen Fällen gar nicht so eindeutig. Für Schüler*innen kann es auch schlichtweg um eine Gebetsmöglichkeit gehen. Und an der Stelle wird es dann interessant, denn der Wunsch nach besonderen Räumen stößt auf viel größere Hürden und Widerstände, z. B. gibt es oft gar nicht entsprechende freie Räume in den Schulen. Über die Möglichkeit zum Gebet lässt sich dagegen viel leichter ins Gespräch kommen. Für Lehrkräfte ist es daher oft erleichternd, wenn ihnen klar wird, worum es den Schüler*innen eigentlich geht. Damit ist viel Druck aus der Sache.
ufuq.de:
Hat sich denn der Umgang der Schulen mit solchen Wünschen von Schüler*innen aus Ihrer Sicht verändert?
Mara Sommerhoff:
Die Schulen sind sehr unterschiedlich, ich kann da keinen allgemeinen Trend beschreiben. Aber wir haben eine neue Lehrer*innengeneration an den Schulen, bei der ich eine große Nähe zu den Fragen und Interessen der Schüler*innen sehe. Und es lässt sich beobachten, dass viele Lehr*innen größeren Wert auf Partizipation legen, die Wünsche von Schüler*innen ernstnehmen und versuchen, gemeinsam einen Weg zu finden. Ich nehme auch eine wachsende Sensibilität für die Themen Religion und Diskriminierung wahr. Dies hängt bestimmt auch mit der immer diverser werdenden Lehrerschaft, einer veränderten Ausbildung und den aktuellen gesellschaftspolitischen Diskursen zusammen.
ufuq.de:
Wie könnte der Umgang mit dem Wunsch nach Räumlichkeiten für Gebete aussehen?
Mara Sommerhoff:
Bisher gibt es in Hamburger Schulen keine Gebetsräume, aber wir begleiten einige Schulen, an denen diese Frage aktuell diskutiert wird. Wenn eine Schule sich mit dieser Frage auseinandersetzen möchte, ist das ein längerer Prozess, an dem die ganze Schulgemeinschaft beteiligt sein sollte. Dieser Prozess sollte aus meiner Sicht zu Beginn ergebnisoffen geführt werden, um eine ernsthafte gemeinsame Prüfung des Anliegens, ein Ernstnehmen der Wünsche, aber auch der Bedenken zu gewährleisten. Aber auch dabei hat sich etwas verändert: Diskussionen um Gebetsräume gibt es schon länger, aber vor zehn Jahren war das angesichts der politischen Weltlage eigentlich unmöglich. Mittlerweile gibt es zumindest eine größere Bereitschaft, darüber nachzudenken.
Wichtig ist, dass es dabei nicht um Räume allein für muslimische Schüler*innen geht, das ist von der Rechtslage her ausgeschlossen, sondern um Räume, die von allen Schüler*innen genutzt werden können. Und das muss auch sichergestellt sein. Wir verweisen hier in den Beratungen auf Erfahrungen in anderen Bundesländern, in denen die Schulen häufig im Umgang mit Religion geübter sind. An einer eher ländlichen Schule in einem Flächenland ist es zum Beispiel oft kein Problem, eine Art von Religionsraum, Andachtsraum oder einen Raum der Stille einzurichten. Letztlich geht es um Räume, die etwas Anderes als fachliches Lernen ermöglichen und dennoch nach den schulischen Regeln funktionieren. Das bedeutet auch, dass dort kein Unterricht stattfindet, also auch keine Arbeitsgemeinschaften, Gruppenarbeiten oder Religionsunterricht. Es wäre also eine Art Erfahrungsraum, in dem sich Schüler*innen zurückziehen können, in dem ein Gebet aber auch anderes möglich wäre.
ufuq.de:
Trotzdem gibt es in solchen Diskussionen immer wieder auch Widerstände, oft mit Hinweis auf den Schulfrieden, der durch sichtbare Religiosität gefährdet sei. Wie sehen Sie das?
Mara Sommerhoff:
Aus meiner Sicht ist das ein vorgeschobenes Argument. Beim Schulfrieden geht es darum, dass der Schulbetrieb störungsfrei funktioniert, das wird durch ein Gebet aus meiner Sicht überhaupt nicht in Frage gestellt. Es gibt immer noch einen großen Wunsch nach Reglementierung seitens der Schulen, manchmal aus Unsicherheit, manchmal aber auch aus einer eher religionskritischen Haltung. Sicher muss das Gebet in einem bestimmten Rahmen ablaufen, wenn es in der Schule durchgeführt wird, so sollte es nicht „demonstrativ“ oder missionierend sein und auch nicht in großen Gruppen stattfinden.
In unseren Beratungen versuchen wir dabei, gemeinsam mit den schulischen Akteuren in Ermöglichungsstrukturen zu denken – beispielsweise deutlich zu machen, dass es zwar kein Recht auf einen eigenen Raum gibt, aber trotzdem versucht werden sollte, auf die Wünsche der Schüler*innen einzugehen. Das bedeutet dann eben, sehr individuelle Lösungen für die Schulgemeinschaft zu finden. Das ist anstrengend und aufwändig, aber lohnt sich.
Außerdem ist es als Lehrerin meine Aufgabe, für die Grundrechte einzustehen und sicherzustellen, dass die Religionsfreiheit nach Art. 4 GG umgesetzt wird. Aus meiner Sicht wäre dies ein wichtiger Perspektivwechsel, also wegzukommen von der Klage „Oje, die wollen beten!“ und hin zu der Frage, was ich in meiner Rolle beitragen kann, damit Art. 4 GG Geltung findet. Das Grundgesetz gilt für mich, aber auch für meine Schüler*innen.
Am Thema Gebet wird aus meiner Sicht im Mikrokosmos Schule ausgehandelt, wie Religion als eine Vielfaltsdimension Platz in einem säkularen Rahmen haben kann, wie individuelle Bedürfnisse und die Gestaltung von Gemeinschaft miteinander in Einklang gebracht werden können. Unsere Schüler*innen haben ein anderes Selbstbewusstsein in Bezug auf ihre Religion und bringen sich in Diskurse über Rassismus und Diskriminierung ein. Es ist unsere Aufgabe, auf diese Diskurse einzugehen und gemeinsam in Gespräche darüber zu gehen, wie Fragen und Bedürfnisse ernst genommen werden und partizipativ Lösungen gefunden werden können. Jetzt, nach dem Ende der Pandemie, besteht wieder die Möglichkeit, Schule als gemeinsamen Ort zu gestalten.
Lesetipp:
Mara Sommerhoff, Umgang mit Konflikten um Religion in der Schule, ufuq.de, 28.10.2021