Zur Individualisierung des Religiösen unter jungen Muslim_innen. Interview mit Michael Tressat
18. Dezember 2011 | Religion und Religiosität

Junge Muslim_innen leben ihre Religion anders als ihre Eltern und Großeltern, aber auch anders, als es viele Klischees über „den“ Islam oder „die“ Muslim_innen nahelegen. Der Erziehungswissenschaftler Michael Tressat ist der Bedeutung der Religion unter jungen Muslim_innen in einer Studie nachgegangen. Im Gespräch mit ufuq.de fasst er einige Ergebnisse zusammen.

Sie haben die Biografien junger Muslim_innen in Deutschland untersucht. Dabei ging es auch um die Frage, ob und –  wenn ja – wie sich deren Lebenswege von Nicht-Muslim_innen unterscheiden. Lassen sich denn so grundlegende Unterschiede in den Biografien feststellen, dass man überhaupt zwischen „jungen Muslim_innen“ und „Nicht-Muslim_innen“ unterscheiden sollte? Oder sind sie zu allererst „Jugendliche“?

Michael Tressat: In der Studie wurden Biografien von Jugendlichen mit Migrationshintergrund in Deutschland und Frankreich untersucht, die sich selbst als Muslime bezeichnen. Wichtig ist, dass man zwischen der Selbst- und der Fremdsicht unterscheiden muss. Denn es ist tatsächlich eine heikle Angelegenheit, die Jugendlichen einfach nur als „junge Muslime“ zu bezeichnen. Mit diesem Begriff sind oft klischeehafte Assoziationen und Stereotypen verbunden. Die Sache ist dagegen komplizierter: Die Jugendlichen greifen in unterschiedlichem Maße auf religiöse Versatzstücke zurück und bauen diese in ihren Lebensentwurf ein. In einem Fall bezeichnete sich eine Jugendliche zum Beispiel sehr überlegt als „muslimische Französin“. Hier wird die nationale Zugehörigkeit in den Vordergrund gestellt, die muslimische Religiosität ist nur ein zusätzlicher Baustein der Selbstbezeichnung. Das Verständnis dieser jungen Frau lässt sich weder mit dem Begriff „junge Muslimin“ noch mit der Bezeichnung „Jugendliche“ angemessen beschreiben. Beide Bezeichnungen greifen zu kurz.

Sie betonen, dass man zwischen Fremd- und Selbstwahrnehmung unterscheiden muss. Inwiefern hat sich denn die Selbstwahrnehmung dieser Jugendlichen in den letzten Jahren verändert?

Tressat: Die jungen Menschen, die ich befragt habe, sehen sich selbst als „normale“ Jugendliche, die in Deutschland oder Frankreich leben. Aus ihrer Sicht spielt die Herkunft, also die Kultur der Eltern, oder ihre Religiosität im Alltag zunächst kaum eine Rolle. Insofern beziehen sich diese Jugendlichen durchaus auf ein liberal-säkuläres Verständnis der Öffentlichkeit, wie es in den europäischen Staaten vorherrscht. Die Realität der Jugendlichen wird aber nicht nur durch ihr eigenes Selbstverständnis geprägt. Sie berichten davon, dass sie diskriminierende Erfahrungen gemacht haben. Diese werden in Deutschland insbesondere in der Schule gemacht, in Frankreich dagegen verstärkt beim Eintritt in die Berufswelt. In der Fremdwahrnehmung ist es vor allem der Islam und die muslimische Religiosität, die diese Jugendlichen kennzeichnet. Während die Selbstwahrnehmung vieler Jugendlicher differenzierter wird und eine Privatisierung des Religiösen erkennbar ist, steht in der Fremdwahrnehmung eine verallgemeinerte Sicht auf die Religionszugehörigkeit im Mittelpunkt.

Verschiedene Studien weisen aber darauf hin, dass das Bekenntnis zum Islam für viele Jugendliche in den vergangenen Jahren an Bedeutung gewonnen hat. Sehen darin einen Widerspruch?

Tressat: Die Privatisierung des Religiösen steht nicht im Widerspruch zu einem verstärkten Bekenntnis zum Islam. Sie besagt lediglich, dass individuelle Formen muslimischer Religiosität entstehen, die weder dem normativen Verständnis des orthodoxen Islams noch einem säkularen Lebensentwurf verpflichtet sein müssen. Was das Bekenntnis lebenspraktisch beinhaltet, ist individuell verschieden. Es entsteht in biografischen Prozessen und in Auseinandersetzung mit der Fremd- und Selbstsicht. In den Fallstudien zeigt sich, dass Religiosität insbesondere zur Identitätskonstruktion verwendet wird, in An- und Abgrenzung zu den Eltern und der Gesellschaft. Diese Funktion der Religiosität bedarf des Bekenntnisses zum Islam, jedoch nicht mehr unbedingt einer ausgeprägten religiösen Praxis. Mit anderen Worten, muslimische Religiosität kann eine gewichtige biografische Bedeutung für einen Jugendlichen haben, ohne dass dabei auch nur ein Funken religiöser Praxis sichtbar wird. Die quantitative Diagnose, es gebe eine Zunahme der Bedeutung des Bekenntnisses zum Islam, bringt also kaum einen Erkenntnisgewinn. Sie müssen untersuchen, wie das Bekenntnis biografisch bedeutsam wird. Dies habe ich unter besonderer Beachtung der Bedingungen von Adoleszenz im Kontext von Migration getan.

Können Sie auf der Grundlage Ihrer Befragungen beschreiben, worin genau der Wandel der Religiosität besteht? Zeigt er sich nur im Selbstverständnis als deutsch und Muslim – oder äußert er sich zum Beispiel auch in veränderten Werten und Geschlechterrollen?

Tressat: Nein, das kann ich nicht. Ich habe keine Längs- sondern Querschnittstudie gemacht. Aus meiner Forschungsperspektive heraus kann ich folgendes sagen: Es entstehen ja gerade individualisierte Religiositätsformen und keine kollektiven Veränderungen, z.B. des Verständnisses religiös begründeter Werte und Normen. Vereinfacht lässt sich das Ergebnis meiner Arbeit so darstellen: Es wurden drei Bedeutungsmuster muslimischer Religiosität in der Adoleszenz erkennbar. Man kann sie als kreatives, pragmatisches und statisches Muster bezeichnen. Sie haben eine, in der Reihenfolge der Aufzählung abnehmende, positive Wirkung auf Entwicklungsprozesse in der Jugendphase. Jedes der drei Muster hat eine eigene Charakteristik. Diese Charakteristik beschreibt die Struktur, also wie Religiosität biografisch bedeutsam wird. Dies ist nicht zu verwechseln mit konkreten Inhalten, nach denen Sie fragen. Ich versuche dies an einem Beispiel zu verdeutlichen: Anfang des Jahres war ich als Gast auf einer christlichen Hochzeit in Syrien. Dort waren auch Musliminnen. Ich habe mit einer von ihnen getanzt. Sie war sunnitische Muslimin, verschleiert, verlobt – jedoch ohne ihren Verlobten auf der Feier. Sie haben hier das Bild einer Muslimin, die sämtliche Tabus einer orthodoxen islamischen Wert- und Geschlechtervorstellung bricht und sich dennoch selbst als gläubige Sunnitin bezeichnet. Sie können die Bedeutung der Religiosität also nicht unbedingt an konkreten religiösen Inhalten festmachen. Dies birgt die Gefahr reduktionistischer Fehlschlüsse. Was sich aber sagen lässt ist, dass diese Muslimin ein individuelles Verständnis des Islams hat, das unter anderem durch einem pragmatischen Umgang mit Wert- und Geschlechtervorstellungen charakterisiert ist.

Sie vergleichen in Ihrer Arbeit Jugendliche in Deutschland und Frankreich. Welche Rolle spielt denn der gesellschaftliche Kontext für die Religiosität und das Selbstverständnis junger Muslim_innen?

Tressat: Der gesellschaftliche Kontext hat nach meiner Beobachtung eine eher geringe biografische Bedeutung. Nicht zu letzt auch, weil sich im Zuge der europäischen Integration die nationalen Verhältnisse angleichen. Man kann in Bezug auf das Staatsbürgerschaftsrecht und das nationale Verständnis von Einwanderung ganz grob sagen: Frankreich war von der Geschichte her offener für Einwanderung und Einbürgerung, entwickelt sich jedoch in jüngerer Zeit zunehmend restriktiver. In Deutschland verläuft diese Entwicklung eher in umgekehrter Richtung. Für Jugendliche selbst sind diese Veränderungen jedoch kaum relevant. Nehmen wir das bereits erwähnte Beispiel: Ob die Jugendlichen Migranten schon in der Schule oder erst später im Arbeitsmarkt mit religiös begründeten Vorurteilen konfrontiert werden, ist für sie gleichermaßen erschwerend. Sie müssen sich so oder so mit der Fremdsicht ihrer Religiosität biografisch auseinandersetzen. Mit dieser Schwierigkeit haben aber nicht nur muslimische Jugendliche, sondern alle Menschen zu tun, die in einer fremden Kultur leben wollen oder leben müssen.

Was bedeutet dies denn für die pädagogische Arbeit mit muslimischen Jugendlichen, zum Beispiel in der Schule? Ist es sinnvoll, junge Muslim_innen auch als Muslim_innen anzusprechen – und damit religiöse Themen aufzugreifen – oder wäre es nicht eher notwendig, junge muslimische Schüler_innen eben vor allem als Bürger anzusprechen?

Tressat: Lehrer sind aus Sicht der muslimischen Schüler keine religiöse Autorität, sie sollten sich daher darauf konzentrieren, als pädagogische Autorität akzeptiert zu werden. Eine gut gemeinte religiöse Ansprache dient vornehmlich zur Selbstberuhigung des Pädagogen, sich tolerant und multikulturell zu geben. Aber die jungen Muslime sehen sich selbst als „normale“ Jugendliche und wollen auch als solche behandelt und angesprochen werden. Religiöse Ansprachen scheitern in der Praxis und sind aus Sicht der Jugendlichen unangebracht. Dabei spielen auch fehlende Informationen auf beiden Seiten eine große Rolle: Weder die jungen Muslime noch die Lehrer haben ausreichendes Wissen darüber, was „der Islam“ eigentlich ist. In den meisten, durchaus gut gemeinten Gesprächen, werden daher eher Missverständnisse produziert und Klischees verfestigt, als dass Klärungen herbeigeführt werden. Daraus folgen meines Erachtens zwei Schlüsse: Erstens, die Schüler sind als Bürger und nicht als Muslime anzusprechen, religiöse Fragen gehören dagegen in den Religionsunterricht. Und zweitens, ein fundiertes und kritisches Wissen über den Islam sollte zum Bestandteil der Lehreraus- und Fortbildung werden. Dies wäre der beste Schutz vor einer falsch verstandenen, interkulturellen Toleranz.

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