Interview mit Streetwork@Online: Aufsuchende Sozialarbeit in Social Media
24. Dezember 2019 | Jugendkulturen und Soziale Medien, Radikalisierung und Prävention

Social Media sind von großer Bedeutung für die Verbreitung von islamistischem Gedankengut und bei Radikalisierungsprozessen, besonders bei Jugendlichen. Das Präventionsprojekt streetwork@online will mit aufsuchender Sozialarbeit in den sozialen Netzwerken eine demokratische Debattenkultur fördern und einer islamisch begründeten Radikalisierung entgegenwirken. Dazu beteiligen sich Mitarbeitende an Online-Diskussionen und suchen das Gespräch im Einzelchat mit jungen Menschen der Zielgruppe. Lesen Sie hier ein Interview mit dem Projektmitarbeiter Adrian Stuiber, das er der Bundeszentrale für politische Bildung gab.

Mit dem Begriff der Straßensozialarbeit beziehungsweise Streetwork können die meisten Menschen im Arbeitsfeld Radikalisierungsprävention etwas anfangen. Aber was bedeutet Online-Streetwork, an wen richtet es sich, und wie funktioniert es?

Adrian Stuiber: Im Prinzip ist Online-Streetwork der Versuch, die aufsuchende Sozialarbeit beziehungsweise das Streetwork auf die „Datenautobahnen“, also die digitalen Straßen, zu erweitern, wo sich Jugendliche aufhalten, austauschen und vernetzen. Das Konzept ist nahezu identisch: Wir sind dort aktiv unterwegs, beteiligen uns an Gesprächen, so dass Menschen darauf reagieren können und die Möglichkeit haben, uns anzuschreiben. Es lässt sich auf nahezu alle Felder anwenden. Unser Fokus und unser Auftrag – gemäß unserer Förderung durch die Landeskommission Berlin gegen Gewalt – ist es, einer religiös begründeten Radikalisierung im islamistischen Kontext von Berliner Jugendlichen und jungen Erwachsenen im Alter von 16 bis 27 Jahren entgegenzuwirken.

Wie läuft die Kontaktaufnahme bei streetwork@online ab, wie kommen Sie zu Ihren „Fällen/Klienten“? Wie wird kommuniziert?

Adrian Stuiber: Die Kontaktaufnahmen erfolgen einerseits dadurch, dass uns Jugendliche direkt mit Fragen in privaten Chats anschreiben. Dafür haben wir auf Facebook und Instagram die Seite beziehungsweise das Profil „Team Streetwork“ eingerichtet. Andererseits sind wir aktiv in Gruppen, in denen vermehrt radikale Meinungsbilder vertreten werden, oder unter entsprechenden Profilen und Seiten unterwegs. Dort kommentieren wir beispielsweise unter bestehenden Posts mit oder verfassen eigene Beiträge, um mit Jugendlichen ins Gespräch zu kommen und bieten bei Bedarf unsere Hilfe an.

Mit wie vielen „Fällen/Klienten“ hatten Sie und Ihr Team bisher zu tun?

Adrian Stuiber: Das Team interagiert in mehr als 100 Facebook-Gruppen, wovon 18 unsere sogenannten Fokusgruppen sind. Diese Gruppen sind besonders aktiv und relevant für unsere Arbeit. Allein diese 18 Gruppen haben eine Mitgliederanzahl (entspricht der potenziellen Mitleserschaft) von insgesamt weit über einer Million Menschen. Bei Instagram sind es sogar noch deutlich mehr. Das Team führt monatlich durchschnittlich 50 Interaktionen (öffentlich oder in Einzelchats) durch und verfasst eigene Beiträge.

Wie findet man heraus, ob jemand empfänglich für extremistische Angebote ist oder bereits dabei ist, sich zu radikalisieren?

Adrian Stuiber: Dies kann man vor allem an den Kommentaren, also den direkten Aussagen der Personen, ausmachen. Wenn eine Aussage radikalisierte Meinungsbilder aufweist, beispielsweise Menschen mit anderer Religionszugehörigkeit oder einer anderen Auslegung des Glaubens abwertet oder gar zu Gewalt aufruft oder wenn Links zu Inhalten gepostet werden, die solchen Meinungsbildern entsprechen. Darüber hinaus können die öffentlichen Profile der Personen Hinweise geben (was die Person bisher gelikt oder gepostet hat). Da wir niemanden pauschal in eine Schublade stecken, sind Fragen unser wichtigstes Werkzeug, um herauszufinden, wie bestimmte Äußerungen gemeint sind. In schriftlicher Kommunikation, und gerade bei häufig stark reduzierten Kommentaren sind Ironie, Provokation und Ernsthaftigkeit oft schwer voneinander zu unterscheiden.

Dschihadistische Gruppen und die salafistische Szene insgesamt nutzen Online-Medien und Soziale Netzwerke intensiv. Können Sie einen Überblick geben über die Ansätze, dort mit Online-Streetwork präventiv tätig zu werden?

Adrian Stuiber: Unser Ansatz besteht aus einer systemischen Grundhaltung, einer Kommunikationsweise angelehnt an die Gewaltfreie Kommunikation (GfK) und (alternativen) narrativen Erzählweisen. Der Beziehungsaufbau ist die grundlegende Basis der Sozialen Arbeit. Um dies im teilweise anonymisierten, virtuellen Raum zu ermöglichen, braucht es viel Empathie und ein respektvolles und wertschätzendes Auftreten. Die Online-Streetworker/-innen sind außerdem Teil der Communitys und agieren dort regelmäßig – darüber wird Vertrauen aufgebaut.

Derzeit entwickelt sich die Unterscheidung zwischen den Bereichen: content based (auf Inhalten basierend) und non content based (nicht auf Inhalten basierend) Online-Streetwork. Content based bedeutet, dass Projekte und Organisationen Videos oder bild- und textbasierte Inhalte hochladen und in relevanten Communitys teilen, um darüber mit der Zielgruppe ins Gespräch zu kommen. Ein gelungenes Beispiel dafür ist das Projekt „Jamal Al-Khatib – Mein Weg“ des Vereins „turn“ aus Wien. Dort wurde mit hochwertigen und jugendaffinen Videos die Geschichte eines Aussteigers aus der dschihadistischen Szene erzählt. 2019 wurde die zweite Staffel veröffentlicht, sie erhielt viel Aufmerksamkeit in den Communitys.

Zusätzlich zum Online-Streetwork haben wir die Plattform „Iam-street Berlin“ aufgebaut und dort narrativ-biographische Videos über Persönlichkeiten aus Bereichen der Jugendkultur (Sport, Musik etc.) veröffentlicht. Ziel ist es, Jugendliche mittels Videos über potenzielle Vorbilder zu ermutigen, ihren eigenen Weg zu gehen. Non content based ist dann der bereits beschriebene Ansatz, direkt über Posts, Kommentare oder Chats mit der Zielgruppe in den Kontakt zu kommen.

Unserer Erfahrung nach empfiehlt es sich weniger, mit Gegennarrativen zu arbeiten. Darunter verstehen wir beispielsweise die argumentative Dekonstruktion von (radikalen) Meinungsbildern. Dabei ist die Gefahr zu groß, das Weltbild der Person durch Ablehnung zu verstärken. Gerade im Kontext von religiös begründetem Extremismus kann das „Bekämpfen“ ihres Religionsverständnisses als Erfüllung der Prophezeiung angesehen werden. Ein solches Vorgehen führte zudem häufig dazu, dass Profile von Online-Streetworkerinnen und -Streetworkern aus den Gruppen entfernt wurden.

Können Sie Fallbeispiele vorstellen – besonders gut gelungene, aber auch missratene – und Erklärungen für den jeweiligen Verlauf, damit man sich vorstellen kann, wie Online-Streetwork im Bereich der Radikalisierungsprävention konkret abläuft?

Adrian Stuiber: In öffentlichen Diskussionen in den Kommentarspalten sind Erfolge schwieriger messbar als in den Einzelchats. Allgemein haben wir festgestellt, dass wir deeskalierend auf das Gesprächsklima einwirken, wenn wir an den Diskussionen teilnehmen. Durch das Stellen von systemischen Fragen wird die meist sehr schnelle Kommunikationsdynamik entschleunigt, womit es möglich wird, auf einzelne Personen besser einzugehen und Reflexionsprozesse anzuregen. Die 1:1-Betreuung in den Einzelchats, bei denen beide Seiten Gesprächstempo und Inhalte bestimmen können, ermöglicht es, Kommunikationen besser zu gestalten.

Ein gelungenes Beispiel ist der Kontakt zu einer jungen Muslima auf Instagram: Sie postete ein Hilfegesuch unter einem Beitrag eines muslimischen Frageportals zum Thema Kopftuch. Auf solche öffentlichen Hilfegesuche antworten häufig Profile, die versuchen, über das Thema mit sehr klaren und festgeschriebenen Antworten Suchende zu einem radikalen Religionsverständnis zu führen. Eine unserer Online-Streetworkerinnen antwortete auf das Hilfegesuch und bot der Jugendlichen an mit ihr im Einzelchat zu schreiben. Dieser Kommentar wurde kurz darauf von den Betreibern des Portals des ursprünglichen Kopftuch-Beitrags gelöscht, weil abweichende Meinungsbilder und Hilfsangebote dort nicht toleriert werden. Die junge Frau suchte trotzdem den Kontakt zu uns im Einzelchat, bei dem sie erzählte, dass sie sich entschieden hatte, Kopftuch zu tragen. Ihre Eltern waren jedoch dagegen, weil sie befürchteten, dass ihre Tochter damit auf der Straße und in der Schule diskriminiert und/oder angefeindet würde. Im Gespräch über ihr Islamverständnis, Religionsfreiheit, Erfahrungen mit antimuslimischem Rassismus in ihrer Klasse und anderen Themen ermutigte unsere Streetworkerin sie zu Gesprächen mit ihren Eltern, was sie sich zunächst nicht traute. Außerdem vermittelte sie den Kontakt zu einem Seelsorge-Telefon. In den darauffolgenden Tagen berichtete die junge Frau von guten Gesprächen mit ihren Eltern und Mitschüler/-innen in gegenseitigem Verständnis.

Wir empfinden Kommunikationen als nicht gelungen, wenn auf unsere Kommentare nicht reagiert wird (wenn wir beispielsweise Nutzer/-innen antworten, Fragen stellen und/oder sie in unseren Kommentaren mit einbeziehen) oder wenn in Einzelchats keine Rückmeldungen mehr kommen. Außerdem besteht in Gruppen immer die Gefahr, dass die Online-Streetworker/-innen von den jeweiligen Administratorinnen und Administratoren entfernt und/oder geblockt werden. Eine weitere Herausforderung ist es, in Einzelchats einen gelungenen, angemessenen Abschluss zu finden.

Kann Prävention oder Deradikalisierung ohne persönlichen Kontakt funktionieren? Wie kann online Vertrauen und eine Beziehung aufgebaut werden?

Adrian Stuiber: Wie zuvor schon beschrieben sind die Haltung und die Kommunikationsweise der Grundstein für den Beziehungsaufbau im virtuellen Raum. Im Bereich der Primär- und Sekundärprävention ist Online-Streetwork ein gutes Mittel, um Hilfestellung anzubieten, junge Menschen zu ermutigen, den eigenen Weg zu gehen und/oder sie konkret an Beratungsstellen oder andere Anlaufstellen zu vermitteln – also eine Art Brücke zwischen online und offline.

Menschen mit einem bereits sehr radikalen Weltbild haben meist in stark abgeschotteten Strukturen ihr soziales Umfeld aufgebaut und bräuchten eine intensive Betreuung und Beziehungsarbeit, die online sehr schwer realisierbar ist.

Wie kann aus virtuellen Kontakten ein persönlicher Kontakt, zum Beispiel zu Sozialarbeiterinnen und Sozialarbeitern oder Beratungsstellen, entstehen? Wie geht Ihr Team in einem solchen Fall vor: Vermitteln Sie „Klienten“ an Beratungsstellen in der Nähe, oder stehen Sie auch selbst als Offline-Kontakte zur Verfügung?

Adrian Stuiber: Durch einen Beziehungsaufbau im Einzelchat funktioniert das sehr gut. Die Online-Streetworker/-innen haben dort die Möglichkeit, über gezielte Fragen herauszufinden, wie sie bedürfnisorientierte Hilfestellung anbieten können. Je nach Bedarf werden dann lokale Beratungsstellen, Kontakt zu Streetworker/-innen, zu Online-Beratungsstellen oder zu telefonischen Angeboten vermittelt. Wir bieten es nicht an, offline in Kontakt zu treten – danach wurde bislang auch noch nicht gefragt. Zu Beginn unserer Recherchephase vor zwei Jahren haben wir viele Streetworkerinnen- und Streetworker-Profile auf Facebook und Instagram gefunden. Die Kolleginnen und Kollegen, die offline auf der Straße oder in Einrichtungen arbeiten, nutzen die sozialen Netzwerke häufig als zusätzliches Kommunikationsmittel – auch darüber können Kontakte aufgebaut und/oder vermittelt werden.

Über unseren Träger AVP e. V. (Akzeptanz, Vertrauen, Perspektive), unsere Kooperationspartnerinnen und Kooperationspartner und unser Netzwerk sind wir außerdem im Austausch mit verschiedenen Offline-Projekten, um die jeweiligen Bedarfe zu vergleichen und Angebote anzupassen – so können wir uns gegenseitig mit unseren Expertisen und Kapazitäten unterstützen.

Was ist online möglich – und wo sind die Grenzen? Welche Vor- und Nachteile bietet Online-Streetwork aus Ihrer Sicht?

Adrian Stuiber: Das Volumen der sozialen Netzwerke, sowie die Schnelllebigkeit der Interessen der Jugendszenen, erschweren die Arbeit auf den unterschiedlichen Plattformen. Online-Streetwork erfordert ein flexibles Team, welches sich intensiv mit der Jugendkultur und mit den aktuellen Trends beschäftigt und den Ansatz auf neue Plattformen adaptieren kann. Wir stellen einen enormen Bedarf fest, was grundsätzlich bestätigt, dass Online-Streetwork sinnvoll und wichtig ist. Gleichzeitig ist es eine Herausforderung, diesem Bedarf gerecht zu werden. Dadurch müssen wir Mechanismen entwickeln, um die Masse an Inhalten zu filtern, um somit schneller Entscheidungen für potenzielle Interaktionen treffen zu können.

Die sozialen Netzwerke sind jederzeit aktiv und erreichbar. Dadurch sind die Userinnen und User es gewohnt, 24/7 erreichbar zu sein. Das Team allerdings arbeitet derzeit zu gängigen Bürozeiten und ist ab 18 Uhr und an Wochenenden in der Regel nicht mehr erreichbar. Dies kann die 1:1-Betreuung erschweren, weil Kommunikationspausen entstehen können, welche durch die zusätzliche Unverbindlichkeit den Beziehungsaufbau und das Interesse am Austausch schaden können. Wir kommunizieren dies zu Beginn eines Chats, um möglichst transparent zu sein und in Notfällen werden auch Ausnahmen gemacht.

Online-Streetwork hat den Vorteil, sehr niedrigschwellig eine Kontaktaufnahme zu ermöglichen. Durch die mögliche Anonymität kann es den Userinnen und Usern leichter fallen, mit den Online-Streetworker/-innen ins Gespräch zu kommen, da sie sich in ihrem gewohnten Raum (in ihrer geschützten Umgebung) aufhalten. Dadurch entsteht für die Einzelne und den Einzelnen eine geringere Hemmschwelle, unser Angebot wahrzunehmen und mit uns in Kontakt zu treten.

Es zeigte sich zudem, dass sich eine regelmäßige, aktive Beteiligung der Online-Streetworker/-innen in den Gruppen und auf den Seiten positiv auf den Beziehungsaufbau auswirkt, da sie so Teil der Community werden und dadurch Vertrauen aufgebaut werden kann. Durch unsere aktive Teilnahme gelingt es zudem, Aussagen der Community schneller einzuordnen und Bedürfnisse zu erkennen, weil wir den Kontext durch unsere Erfahrungen differenzierter betrachten können.

Dieser Beitrag erschien zuerst bei der Bundeszentrale für politische Bildung unter der Creative-Commons-Lizenz CC BY-NC-ND 3.0. Wir danken dem Autor und der Bundeszentrale für die Erlaubnis, das Interview wiederzuveröffentlichen.

Skip to content