Intersektionen von Rassismus und Klassismus im Schulsystem
15. Februar 2023 | Demokratie und Partizipation, Diversität und Diskriminierung

Symbolbild. Bild: Ed 259/Unsplash

Dass der schulische Erfolg noch immer mit der (sozialen) Herkunft eines Kindes zusammenhängt, ist nichts Neues. Die Ursachen für die schlechteren Bildungsergebnisse von Schüler*innen mit Migrationshintergrund werden nicht zuletzt den Eltern bzw. deren Herkunft und ihren vermeintlich geringeren Bildungs- und Leistungsaspirationen zugeschrieben. Diese eindimensionale Thematisierung von Bildungsungleichheiten greift Ellen Kollender zufolge zu kurz. In ihrer Dissertation arbeitete sie heraus, wie eng schulisches Handeln mit rassistischen und klassistischen Diskursen verwoben ist. Hier stellt sie Ergebnisse ihrer Forschung vor und regt dazu an, auch schulische Wertmaßstäbe kritisch zu hinterfragen.

Im deutschsprachigen Raum gibt es bislang kaum Untersuchungen, die das Zusammenspiel von Rassismus und Klassismus im Schulsystem sowie hiermit verbundene mehrdimensionale Ausschlüsse und Diskriminierungserfahrungen von Schüler*innen in den Blick nehmen. Dies hängt auch damit zusammen, dass beide Begriffe oft gemieden werden, da sie für den deutschen Kontext als emotional zu aufgeladen erscheinen bzw. als etwas, das nicht (mehr) der gesellschaftlichen Wirklichkeit entspricht. Das verbreitete Verständnis von Deutschland als post-race- und post-class-Gesellschaft hat sich auch in die Diskussion über bestehende Bildungsungleichheiten im deutschen Schulsystem eingeschrieben. Ausprägungen und Ursachen von schulischen Bildungsungleichheiten werden hier vorwiegend über unscharfe Kategorien wie den „Migrationshintergrund“ und/oder den „sozialen Hintergrund“ von Schüler*innen und ihren Familien analysiert und diskutiert. In Studien, die entlang dieser Kategorien auf wesentliche Diskrepanzen hinsichtlich der Schulleistungen, Bildungszugänge und -abschlüsse von Schüler*innen aufmerksam machen, werden Schüler*innen mit statistisch zugewiesenem „sozio-ökonomisch schwachen Hintergrund“ und/oder „mit Migrationshintergrund“ meist in besonderen „Risikolagen“ verortet (vgl. z. B. Autor*innengruppe Bildungsberichterstattung 2022, 6). Dabei wird den Eltern dieser Schüler*innen vielfach eine Bildungsferne attestiert, die als besondere Belastung für die Schullaufbahn der Kinder und als zentrale Ursache für bestehende Bildungsungleichheiten verstanden wird (vgl. ebd.).

Wird die „Bildungsferne“ vom sozialen Hintergrund und/oder vom sog. Migrationshintergrund der Schüler*innen abgeleitet und als quasi natürliches Charakteristikum ihrer Familien ausgegeben, kommen rassistische und klassistische Logiken zum Tragen. Über eine solche Engführung der Diskussion um Bildungsungleichheiten werden defizitorientierte Sichtweisen auf Familien in ökonomisch benachteiligten Lebenslagen und/oder mit Migrationsgeschichte befördert und die Annahme von einem mangelnden Passungsverhältnis zwischen den den Familien zugeschriebenen „Bildungskulturen“ und einer „deutschen Schulkultur“ zementiert. Ins Hintertreffen gerät dabei die Frage, inwiefern der beobachtete Zusammenhang zwischen bestehenden Bildungsungleichheiten und dem Herkunftshintergrund der Schüler*innen (auch) durch klassistische und rassistische Zuschreibungen vermittelt ist und auf hiermit verbundene Diskriminierungsverhältnisse im Schulsystem zurückgeht.

Während diese diskriminierungssensible Perspektive in die Debatte um bestehende Bildungsungleichheiten bisher wenig Eingang gefunden hat, belegen insbesondere empirisch-qualitative Studien seit Jahren, dass gesellschaftliche Logiken des Unterscheidens entlang des „sozialen Hintergrundes“ und/oder „Migrationshintergrundes“ von Schüler*innen Diskriminierungsprozesse in der Schule anleiten können. So haben Mechtild Gomolla und Frank-Olaf Radtke dargelegt, „dass ‚soziale Typisierungs- und Klassifikationsschemata […]‘ im organisationalen Handeln in Schulen“ (Gomolla/Radtke 2009, 266) aufgegriffen und entscheidungswirksam werden, z. B. wenn es um die Aufnahme von Kindern an Schulen oder bei Übergangsempfehlungen am Ende der Grundschulzeit geht. Dabei wird den häuslichen Lernbedingungen und elterlichen Unterstützungsmöglichkeiten der Schüler*innen hohe Relevanz zugesprochen. Dies ließ sich in der Studie zwar für alle Kinder beobachten. Bei Kindern aus Familien mit Migrationsgeschichte wurden Empfehlungen für Haupt- und Förderschulen jedoch zusätzlich mit Verweis auf die „andere Kultur“ der Familien und eine hiermit assoziierte Bildungsferne begründet (vgl. ebd., 283). Hinsichtlich der Kategorie des „sozialen Hintergrundes“ von Schüler*innen kam die bundesweit durchgeführte Iglu-Studie im Jahr 2016 zu einem ähnlichen Befund. Sie belegte, dass bei gleicher Lesekompetenz und gleichen kognitiven Fähigkeiten Kinder aus ökonomisch privilegierten Elternhäusern gegenüber Kindern aus der Arbeiterklasse 3,37-mal so oft eine Gymnasialempfehlung erhalten (vgl. Hußmann u. a. 2017).

Rassismus und Klassismus in der Schule lassen sich nicht verstehen, wenn sie allein auf individuelle Vorurteile und ein intendiertes Handeln einzelner Lehrkräfte zurückgeführt werden. Vielmehr resultieren sie aus komplexen, teils unbewussten Prozessen der Herstellung von hierarchischen Bewertungssystemen, abgeleitet aus der (vermuteten) Klassenzugehörigkeit und/oder dem (zugeschriebenen) natio-ethno-kulturellen Hintergrund von Schüler*innen und ihren Familien. Dies geschieht im Kontext rassistischer und ökonomischer gesellschaftlicher Diskurse und Strukturen, durch die massive Ungleichheit bis hin zu Armut sowie gesellschaftliche Ausschlüsse produziert werden. Das Handeln in der Schule ist mit diesen Diskursen und Strukturen eng verwoben. Eine Studie von Forscher*innen der Harvard University sowie der University of Southern California zeigt, dass unbewusste rassistische Überzeugungen von Lehrkräften zu schlechteren Bewertungen der Schulleistungen von Schüler*innen führen, sich ein rassistischer Bias in der Schule somit direkt auf den Bildungserfolg von Schüler*innen auswirken kann (vgl. Boudreau 2020). Auch für den deutschen Kontext konnte belegt werden, dass Lehrkräfte zu einer diskriminierend verzerrten Leistungsbewertung in Bezug auf Schüler*innen unterschiedlicher Herkunftsgruppen neigen (vgl. Lorenz u. a. 2016).

Mehrdimensionale Diskriminierungserfahrungen in der Schule

Während Rassismus und Klassismus im Schulsystem, wenn überhaupt, bisher weitgehend getrennt voneinander in den Blick genommen wurden, weist eine Betroffenenbefragung im Auftrag der Antidiskriminierungsstelle des Bundes auf „Mehrdimensionalitäten“ hin, die sich hinsichtlich der Diskriminierungserfahrungen anhand der „sozioökonomischen Lage“ sowie des „Migrationshintergrundes“ ergeben (Beigang u. a. 2017). So berichteten „rund 27,7 Prozent der Befragten, die Diskriminierung anhand der sozioökonomischen Lage erfahren hatten, dass diese gleichzeitig auch aus rassistischen Gründen bzw. anhand der (ethnischen) Herkunft erfolgt sei“ (ebd., 115). Dieses Ergebnis deckt sich mit dem Befund einer von der Antidiskriminierungsstelle durchgeführten Repräsentativbefragung, bei der „Personen mit Migrationshintergrund ein höheres Risiko aufweisen, anhand der sozioökonomischen Lage Diskriminierung erfahren zu haben“ (ebd.). Solche Intersektionen unterschiedlicher Diskriminierungsformen zeigten sich besonders im Bildungsbereich (ebd., 140ff.).

Dies wird auch in Interviews deutlich, die ich im Rahmen meiner Studie „Eltern – Schule – Migrationsgesellschaft“ (Kollender 2020) mit Lehrkräften an weiterführenden Berliner Schulen geführt habe. Gefragt nach ihrer Beziehung zu den Eltern ihrer Schüler*innen empfinden es einige Lehrkräfte als relevant, im Gespräch darauf zu verweisen, dass viele der Eltern Sozialhilfe beziehen. Mit dem Bezug sozialer Transferleistungen wird zumeist eine geringe Aktivität bzw. mangelnde Leistungsbereitschaft der Eltern verbunden, die nicht nur auf dem Arbeitsmarkt, sondern auch in der Schule zum Ausdruck komme. Ein Lehrer attestiert beispielsweise „arbeitslosen Eltern“ eine „Nehmermentalität“, die er u. a. daran festmacht, dass viele der Eltern die Klassenfahrt ihrer Kinder mit Hilfe des Jobcenters finanzierten:

Und das nenn' ich Nehmermentalität, wo sie wissen: ‚Mensch, okay, wenn ich nichts mache, der Staat ist schon für mich da’ (Sozialpädagoge B, 39)

Die Äußerung des Lehrers suggeriert, dass die Eltern sich auf staatlichen Transferleistungen „ausruhen“. Diese „Mentalität“ wirke sich auch, so eine in der Schule häufig geäußerte Annahme, auf das Verhalten der Kinder in Form einer passiven Haltung zu Schule und Unterricht aus. Dabei wird die „Passivität“ als eine natürliche Eigenschaft „arbeitsloser Eltern“ konstruiert, die auf ihre Kinder quasi vererbt werde. Dieser klassistischen Logik zufolge erscheinen die Arbeitslosigkeit von Eltern und prekäre Lebensverhältnisse von Familien weniger als Ausdruck gesellschaftlicher Missstände denn als auf die „Natur“ der Eltern zurückgehende Phänomene.

Derartige Problematisierungen des Verhaltens von „arbeitslosen Eltern“ verbinden sich in den Interviews mit den Lehrkräften vielfach mit einem natio-ethno-kulturellen Othering. Die Annahme, dass es sich bei den so kritisierten Eltern vorwiegend um „nicht-deutsche Eltern“ handelt, artikuliert sich meist ebenso beiläufig wie selbstverständlich. So z. B. im Fall einer Lehrerin, die das Verhalten von Eltern an ihrer Schule wie folgt beschreibt:

Das Problem ist dieses sich Einrichten in ‚Wir brauchen keinen Job. Wir kommen gut klar mit Kindergeld, mit all den sozialen Unterstützungen.‘ Und was die Frauen angeht: Wer lernt wirklich deutsch? Wer besucht wirklich diese Kurse? Wer macht das? [...] Stattdessen: Party – also nicht wie wir sie feiern –, da ist immer viel Besuch bis spät in die Nacht. Das Leben hat einen anderen Rhythmus. (Lehrerin S, 87)

Über den Verweis auf „die Frauen“, die nicht „wirklich deutsch“ lernten und Partys feierten „nicht wie wir sie feiern“, wird deutlich, dass sich die Kritik der Lehrerin primär auf „Mütter mit nicht-deutscher Herkunft“ bezieht. Diese werden einem hier nicht weiter bestimmten „Wir“ gegenübergestellt. In der Kulturalisierung und Essenzialisierung einer „geringen Arbeitsmoral“ verschränken sich klassistische und rassistische Zuschreibungen. Dabei verbinden sich in der Argumentation der Lehrerin neoliberale Prämissen („Zeig‘ dich leistungsbereit!“, „Sei diszipliniert!“, „Steh‘ früh auf!“) mit Integrationsforderungen („Lerne Deutsch!“, „Geh’ zum Integrationskurs!“) zu einer spezifischen Anrufung von „migrantisierten arbeitslosen Müttern“ in der Schule.

Das Zitat der Lehrerin steht beispielhaft für eine „zunehmend an ökonomischen Erfolgsprinzipien orientierte gesellschaftliche Kultur“, die beständig „sozialmoralische Anklagen“ produziert (Wellgraf 2013: 44). Diese Anklagen artikulieren sich in einem (auch) in der Schule verbreiteten Selbstverständnis, dass sich Eltern soziale Unterstützung erst verdienen müssen und sie sich gegenüber dem Wohl der (Mehrheits-)Gesellschaft zu rechtfertigen haben. Dieses Selbstverständnis äußert sich in der Schule u. a. in direkten Forderungen nach einem Ausbau von Sanktionen für Eltern, wie Kindergeldentzug oder nach Kürzungen von Transferleistungen:

[W]o tut's am meisten weh? Beim Geld. [...] Und durch bestimmte ‚Wenn-Dann‘ oder ‚das kriegst du nur, wenn du das machst‘ [...] – genauso wie beim Jobcenter: Wenn du dich nicht bewirbst und da keine Vorlagen hast, da wirst du auch gekürzt. Fördern und Fordern – ist das etwas, wollen wir diesen Weg eingehen? Ja! (Lehrerin S, 185)

In der Anwendung des neoliberalen sozialpolitischen Prinzips des „Förderns und Forderns“ auf den Umgang mit Eltern in der Schule äußert sich ein autoritatives Gemeinwohlverständnis, nach dem der Staat und die Schule als erziehende Instanzen auftreten, die die Eltern nicht nur fördern, sondern diese auch für die Folgen ihrer vermeintlichen Leistungsunwilligkeit, geringen Aktivität und Nehmermentalität zur Verantwortung ziehen. Dabei sehen sich vor allem als bildungsfern positionierte Eltern mit Migrationsgeschichte und ihre Kinder der Beweislast ausgesetzt, dass sie leistungsbereit sind bzw. sich für die Schulbildung ihrer Kinder einsetzen (vgl. näher hierzu Kollender 2021). Auf diese vermeintliche Elterngruppe fokussierte politisch-behördliche Maßnahmen, z. B. in Form von Elternintegrationskursen oder der sog. Stadtteilmütter, setzen am Bild der „bildungsfernen Eltern mit Migrationshintergrund“ an. Sie zielen oft primär auf eine Aktivierung und Disziplinierung der Eltern und können einer Individualisierung von sozialer Ungleichheit Vorschub leisten.

Dass diese Maßnahmen zudem zur Verfestigung essenzialisierender Gegenüberstellungen von bestimmten Eltern- und Schüler*innengruppen beitragen können, zeigt die Äußerung eines Schulleiters, der die Förderung von Familien wie folgt kritisiert:

Ich habe manchmal den Eindruck, die Deutschen bemühen sich unglaublich ((!)) um die Migranten. Und dann gibt's hier ein Hilfsangebot und hier und da machen wir auch noch BuT [Bildungs- und Teilhabepaket, E.K.] und so weiter. (Schulleiter W, 48)

Obwohl sich die Förderung des Bildungs- und Teilhabepakets nicht primär am nationalen Hintergrund von Familien ausrichtet, sondern an ihrer ökonomischen Stellung in der Gesellschaft, geht der Schulleiter davon aus, dass Familien mit Migrationsgeschichte von staatlichen Unterstützungsprogrammen privilegiert werden. Damit kommt (implizit) die Annahme einer ungerechten Verteilung von Fördermitteln zum Ausdruck, nach der weiße deutsche Schüler*innen aus ökonomisch benachteiligten Familien, verglichen mit der Zuweisung von Ressourcen für Familien „mit Migrationshintergrund“, vernachlässigt würden. Es artikuliert sich hier ein Verständnis von Verteilungsgerechtigkeit, das zum Ziel haben müsse, Sozialleistungen zwischen bestimmten natio-ethno-kulturellen Gruppen gleichmäßig zu verteilen. Dabei werden „deutsche Arbeiterkinder“ als ethnische Gruppe positioniert und suggeriert, dass ihre Benachteiligung gleichsam auf ihren natio-ethno-kulturellen Hintergrund zurückgeht. Über eine solche Gleichsetzung der Benachteiligung von Kindern aus ökonomisch benachteiligten Familien und Familien „mit Migrationshintergrund“ werden spezifische Formen der rassistischen Diskriminierung, die Schüler*innen mit (bestimmter) Migrationsgeschichte im Schulsystem erfahren, de-thematisiert. Zugleich werden Intersektionen von rassistischer und klassistischer Diskriminierung ausgeblendet. Es zeigt sich hier die Gefahr einer eindimensionalen Thematisierung von Bildungsungerechtigkeiten bzw. von Versuchen, Diskriminierungserfahrungen in eine Rangfolge zu bringen. Deutlich wird die Notwendigkeit einer intersektionalen Perspektive, die Ungleichheitsverhältnisse als miteinander verwoben betrachtet, ohne dabei spezifische Wirkungsweisen einzelner Ungleichheitsstränge und hiermit verbundene Diskriminierungserfahrungen zu negieren.

„Whose culture has capital?“

Die hier skizzierten rassistischen und klassistischen Realitäten in der Schule machen eine kritische Untersuchung institutioneller und systemischer Faktoren notwendig, die diese Realitäten und hiermit verbundene Bildungsungleichheiten reproduzieren. Dabei gilt es auch, gesellschaftlich verbreitete Selbstverständnisse in Bezug auf Schüler*innen und Eltern aus ökonomisch benachteiligten Lebenslagen und/oder mit Migrationsgeschichte zu hinterfragen. Über die Institutionalisierung einer klassismus- und rassismuskritischen Perspektive u. a. im Rahmen der Aus- und Fortbildung von Lehrkräften können historische Kontinuitäten ebenso wie Neuformationen von Rassismus und Klassismus im Schulsystem thematisiert und reflektiert werden, die insbesondere im Kontext aktueller neoliberaler gesellschaftlicher Transformationen und aktueller Fluchtbewegungen entstehen (vgl. die Beiträge in Kollender/Kourabas/Uhlendorf 2022). Eine solche Perspektive wendet sich gegen Prozesse der Vereindeutigung, die Spaltungen zwischen einem „deutschen Wir“ und „den Anderen“ produziert und legitimiert. Sie fragt auch, inwiefern die im Bildungssystem gesetzten Wertmaßstäbe, die sich meist an einer weißen Mittelschichtskultur orientieren und an denen alle Schüler*innen und Eltern gemessen werden, selbst Resultate von Diskriminierungsstrukturen sind.

Ein solches Hinterfragen von schulischen Wertmaßstäben regt auch Tara J. Yosso in ihrem Artikel „Whose culture has capital?“ (2005) an. In diesem ergänzt sie Pierre Bourdieus Kapitaltheorie durch weitere Formen des sozialen und kulturellen Kapitals, die sich vor allem bei sozial marginalisierten Familien beobachten ließen, jedoch gesellschaftlich meist nicht als besondere Fähigkeiten und Ressource anerkannt werden. Hierzu zählt Yosso u. a. ein Aufstiegskapital, d. h. die Fähigkeit von Familien, trotz erfahrener struktureller und institutioneller Barrieren hohe Bildungsaspirationen zu bewahren und zu leben (ebd., 76f.). Unter dem Begriff des Navigationskapitals bezeichnet Yosso eine Reihe sozialer Kompetenzen und Strategien, mittels derer Familien sich durch soziale Institutionen zu manövrieren wissen, die vorwiegend für weiße Mittelschichtsfamilien geschaffen wurden (ebd., 80). Auch verweist die Autorin auf ein Widerstandskapital in Form von Wissenshaushalten und Strategien von Familien, um Diskriminierungen zu entgegnen (ebd., 80f.). Dazu können Selbstliebe, Mut, gelebte Glaubenssätze oder Gerechtigkeitsverständnisse zählen wie auch soziale und kommunikative Techniken, die darauf abheben, nicht „dermaßen“ von rassistischen und klassistischen Zugriffen (in der Schule) „regiert zu werden“ (Foucault 1992, 12). Ohne diese Kapitalsorten wiederum zu essenzialisieren bzw. bestimmten Familien als statisch zuzuschreiben, sensibilisiert Yossos Ansatz für gerade solche Lebensrealitäten und institutionelle Erfahrungen, die im Kontext individualisierender und defizitorientierter Debatten um schulische Bildungsungleichheiten oft verschwiegen werden.

 

Literatur

Autor*innengruppe Bildungsberichterstattung (2022): Bildung in Deutschland kompakt 2022, Bielefeld: wbv Publikation.

Beigang, Steffen/Fetz, Karolina/Kalkum, Dorina/Otto, Magdalena (2017): Diskriminierungserfahrungen in Deutschland. Ergebnisse einer Repräsentativ- und einer Betroffenenbefragung, Herausgegeben von der Antidiskriminierungsstelle des Bundes, Baden-Baden: Nomos.

Bourdeau, Emily (2020): Measuring Implicit Bias in Schools, https://www.gse.harvard.edu/news/uk/20/08/measuring-implicit-bias-schools, letzter Aufruf: 18.07.2022.

Foucault, Michel (1992): Was ist Kritik? Merve: Berlin.

Gomolla, Mechtild/Radtke, Frank-Olaf (2009): Institutionelle Diskriminierung. Die Herstellung ethnischer Differenz in der Schule. Wie Schule Schulversager erzeugt, Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften.

Hußmann, Anke u. a. (2017): IGLU 2016: Lesekompetenzen von Grundschulkindern in Deutschland im internationalen Vergleich, Münster/New York: Waxmann.

Kollender, Ellen (2021): „Dann ist man wieder die mit dem Migrationshintergrund.“ Subjektivationsprozesse von Eltern vor dem Hintergrund neoliberaler Bildungsreformen, in: Chamakalayil, Lalitha/Ivanova-Chessex, Oxana/Leutwyler, Bruno/Scharathow, Wiebke (Hg.): Eltern und pädagogische Institutionen: Macht- und ungleichheitskritische Perspektiven, Weinheim: Beltz-Juventa, S. 72-90.

Kollender, Ellen (2020): Eltern – Schule – Migrationsgesellschaft. Neuformation von rassistischen Ein- und Ausschlüssen in Zeiten neoliberaler Staatlichkeit, Bielefeld: transcript.

Kollender, Ellen/Kourabas, Veronika/Uhlendorf, Niels (2022): Ökonomisierungsprozesse im Diskursfeld Flucht/Migration und Bildung: Ein- und Ausschlüsse zwischen Persistenz und Veränderung, ZDfM – Zeitschrift für Diversitätsforschung und -management, Nr. 2.

Lorenz, Georg/Gentrup, Sarah/Kristen, Cornelia/Stanat, Petra/Kogan, Irena (2016): Stereotype bei Lehrkräften? Eine Untersuchung systematisch verzerrter Lehrererwartungen, in: Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie, Bd. 68, Nr. 1, S. 89-111.

Wellgraf, Stefan (2013): „The Hidden Injuries of Class”. Mechanismen und Wirkungen von Klassismus in der Hauptschule, in: Giebeler, Cornelia/Rademacher, Claudia/Schule, Erika (Hg.): Intersektionen von race, class, gender, body. Theoretische Zugänge und qualitative Forschungen in Handlungsfeldern der Sozialen Arbeit, Opladen u. a.: Barbara Budrich, S. 39-60.

Yosso, Tara J. (2005): Whose culture has capital? A critical race theory discussion of community cultural wealth. In: Race Ethnicity and Education, Band 8, Nr. 1, S. 69-91.

Wiederveröffentlichung des Beitrags

Dieser Text erschien zuerst in der vom Informations- und Dokumentationszentrum für Antirassismusarbeit (IDA) e.V. herausgegebenen Publikation „Klassismus und Rassismus – Dimensionen einer vielschichtigen Intersektion“. Wir danken den Herausgeber*innen und der Autorin für die Erlaubnis, den Beitrag hier wiederzuveröffentlichen.

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