Am 27. Januar 2016 jährt sich der Tag der Befreiung von Auschwitz zum 71. Mal. Der Tag ist in vielen Schulen Anlass, sich mit der Geschichte des Nationalsozialismus auseinanderzusetzen. Elke Gryglewski schildert in diesem Beitrag ihre Erfahrungen in der Bildungsarbeit im Haus der Wannsee-Konferenz und geht dabei auch auf die Diskussionen um einen vermeintlichen Import von antisemitischen und geschichtsverleugnenden Einstellungen durch Menschen mit Migrationsgeschichte ein: Welche Zugänge haben Jugendliche zur nationalsozialistischen Geschichte – und welche Rolle spielen dabei Migrationserfahrungen? Wovon hängt die Intensität der Beschäftigung Vergangenheit ab?
Das Jahr 2015 war ein Jahr vieler Gedenktage im Kontext des Nationalsozialismus und seiner Folgen. Erinnert wurde an den 80. Jahrestag der Verabschiedung der „Nürnberger Rassegesetze“, an den 70. Jahrestag des Endes des Zweiten Weltkriegs und die damit verbundene Befreiung vieler Konzentrationslager, aber auch an 50 Jahre deutsch-israelische diplomatische Beziehungen.
Die Reden zu diesen Gedenktagen reproduzierten vielfach ein problematisches Narrativ. Politiker und Politikerinnen waren bestrebt, bei den Jahrestagen der Befreiung anwesend zu sein und damit die Bedeutung der Erinnerung zu unterstreichen. In ihren Reden lag ihnen viel daran, den Wandel im Umgang mit der Vergangenheit und den Erfolg der Aufarbeitung der Geschichte herauszustellen[1]. Im Zusammenhang mit dem Jahrestag der Einführung der Nürnberger Rassegesetze verwies man zwar auf die konkreten Folgen für Jüdinnen und Juden im nationalsozialistischen Deutschland. Dass diese Gesetze allerdings im Kontext eines rassistischen Antisemitismus standen, der auch nach 1945 mit neuen Ausprägungen in der Gesellschaft vorhanden war, war dagegen selten Teil der Überlegungen.
Aktuelle Erscheinungsformen gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit, die in direkter oder indirekter Nachfolge der NS-Ideologie stehen, erschienen hier häufig vor allem als Problem von Rechtsextremisten, mit denen die Mehrheit der Bevölkerung nichts gemein habe. Antisemitismus wird hingegen vor allem unter Jugendlichen aus muslimisch geprägten Milieus ausgemacht. So zeichneten die Gedenkveranstaltungen und Jubiläen mehrheitlich ein Bild einer Gesellschaft, die sich nach einer anfänglichen Verweigerung der Geschichte gestellt habe und mittlerweile vorbildlich mit der Vergangenheit umgehe. Deutschland habe aus dem Nationalsozialismus gelernt.
Auch wenn dieses Bild nicht vollkommen falsch ist, lebt dieses Narrativ von der Annahme, „wir“ hätten verstanden, nur eine Minderheit müsse die Lehren noch lernen. Ähnlich wie im gesellschaftlichen Diskurs über die Einwanderungsgesellschaft spielen auch hier „Menschen mit Migrationshintergrund“[2] als „Andere“, die sich durch Defizite und problematisches Verhalten auszeichnen, eine wichtige Rolle[3]. Das „Wir“ erscheint durch die negativen Zuschreibungen an andere umso positiver.
Dabei steht und fällt das Interesse von Jugendlichen mit oder ohne „Migrationshintergrund“ an geschichtlichen Themen nicht zuletzt mit der Art und Weise, wie diese von Pädagoginnen und Pädagogen angegangen werden. Auch die zeitliche Distanz, die bei vielen Jugendlichen unabhängig von ihrer Herkunft einen eher kognitiven Zugang zur Geschichte begünstigt, betrifft alle Jugendlichen gleichermaßen. Wie sich die Auseinandersetzung nach einem ersten Zugang entwickelt, hängt von sehr unterschiedlichen Faktoren ab, die nicht zwangsläufig durch die Herkunft bedingt sind. Ob sich jemand in die Situation von Verfolgten hineinversetzen kann, also eine Identifikation mit der Person möglich ist, hängt beispielsweise eher von der Sensibilität der Person ab. In anderen Fällen spielt auch genderspezifisches Verhalten eine Rolle. So machte ich in Diskussionen über die Frage, ob auch mittelständische Betriebe von deutschtürkischen Unternehmern in den Fonds zur Entschädigung ehemaliger Zwangsarbeiter einzahlen sollten, mehrfach die Erfahrung, dass dies von Mädchen befürwortet, von Jungen aber tendenziell abgelehnt wurde. Aber auch das mag Zufall gewesen sein.
Bedeutend scheint für Jugendliche vor allem das zu sein, was in Verbindung zu ihrem aktuellen Leben relevant ist. Das Thema muss für sie persönlich bedeutsam sein. Besonders eindrücklich war für mich das Ergebnis einer Arbeitsgruppe, die sich im Rahmen eines Seminars zu „Herrschaft und Alltag im Nationalsozialismus“ mit den damals gängigen Eheverboten auseinandersetzte. Es ging um den Fall einer jungen Frau, die mit einem als „rassisch minderwertig“ eingestuften jungen Mann liiert war und von ihrem eigenen Vater denunziert wurde. Bei der Beschäftigung mit den Quellen formulieren andere Gruppen üblicherweise eine Kritik an dem Verhalten des Vaters und an einer Gesellschaft, die rassistische Kriterien zur Beurteilung angemessener Ehepartner heranzog. Diese Arbeitsgruppe hingegen drehte die Situation völlig um und konzentrierte sich auf die Kritik an einer Minderheit, die nicht zuließe, dass ihre Kinder Vertreter oder Vertreterinnen der Mehrheit heiraten. Erst durch Nachfragen, da dieses Szenario eigentlich nicht in den Quellen angelegt war, wurde deutlich, dass die Jugendlichen gerade Fälle dieser Art in ihrer unmittelbaren Umgebung erlebt hatten.
Relevant wird Geschichte für Jugendliche vor allem dann, wenn sie ihnen nicht als ein in sich abgeschlossenes Kapitel vorgestellt wird. So blicken Jugendliche ganz anders auf die Geschichte der Verfolgung von Sinti und Roma, wenn sie erfahren, dass die sogenannte „Landfahrerverordnung“ bis 1986 gültig war. Auch die Geschichte von Walerjan Wrobel bekommt eine andere Bedeutung, wenn sie im Abspann einer Dokumentation erfahren, wie „die Geschichte weiterging“. Der polnische Jugendliche, der zur Zwangsarbeit nach Deutschland verschleppt worden war, wurde 1942 zum Tode verurteilt, weil er in der Hoffnung auf eine Bestrafung wegen schlechtes Benehmens ein Feuer gelegt hatte. Wrobel war davon ausgegangen, dass er wegen dieser Verurteilung nach Polen zurückgeschickt würde. Das Todesurteil, das auf Grundlage der sogenannten Verordnung gegen Volksschädlinge erfolgte, wurde erst 1988 aufgehoben.
Im öffentlichen Diskurs und auch im Schulunterricht geht es für die Zeit nach dem Kriegsende oft vor allem um den Kalten Krieg und dessen internationale Facetten. auf die Geschichte, wie in Deutschland mit der Vergangenheit umgegangen wurde, wird nicht eingegangen.. So wissen die wenigsten Jugendlichen zum Beispiel von personellen und ideologischen Kontinuitätslinien, die auch in der Nachkriegszeit Auswirkungen auf gesellschaftliches Handeln und gesellschaftspolitische Diskurse hatten. Deswegen erscheint der Nationalsozialismus (nicht nur) für Jugendliche oft als längst vergangene „Vergangenheit“.
Das ist er zweifelsohne. Die Vorstellung, die sich mit dieser „Vergangenheit“ verbindet, beinhaltet allerdings weit mehr: Abgeschlossenheit, Folgenlos. Dadurch ist es für viele Jugendliche zunächst schwer, Begriffe wie „Verantwortung“ oder „aus der Geschichte lernen“, die integraler Bestandteil vieler politischer Reden sind, für sich zu konkretisieren. Das ist insofern bedauerlich, als die meisten Jugendlichen selbst wichtige Fragen an diese Geschichte haben. So stellt sich auch ihnen die Frage, wie aus „normalen Männern“ Massenmörder werden konnten – und können. Erklärungen, wie sie von den Historikern Christopher Browning oder Harald Welzer geliefert werden, verfolgen sie mit großem Interesse, weil ihnen Phänomene wie Gruppenzugehörigkeit und das Abstumpfen angesichts alltäglicher Gewalt strukturell bekannt sind. Auch in diesen Fragekontexten ist die Kategorie Herkunft irrelevant, eher spielen gendergeprägte Verhaltensweisen eine Rolle.
Weder das Interesse und die Zugänge zu Geschichte noch die Intensität der Beschäftigung mit Geschichte sind von ethnischer oder kultureller Herkunft abhängig. Als Gedenkstättenmitarbeiter und –mitarbeiterinnen erleben wir darüber hinaus, dass mitnichten nur Jugendliche problematische, abwehrende oder relativierende Aussagen machen. Dass sie sie immer mal wieder unkommentiert äußern können, liegt oft an den begleitenden Pädagogen oder Pädagoginnen, die diese Einstellungen selbst teilen oder eine Reaktion nicht für notwendig erachten. Empirische Befunde bestätigen dieses Problem – Antisemitismus und Rassismus sind zumindest latent in der Mitte der Gesellschaft weit verbreitet[4]. Es lebt sich nur viel besser mit dem Mythos der gelungenen Aufarbeitung, der das Fortwirken alter ideologischer Denkmuster leugnet.
Angesichts der Flüchtlinge, die nach Deutschland kommen, hat die Diskussion neue Impulse bekommen. Sehr schnell war die Rede vom „importierten Antisemitismus“, den es zu bekämpfen gelte. Übersetzungen des Grundgesetzes ins Arabische, wie sie von der Bundeszentrale für politische Bildung veröffentlicht wurden, greifen diesen Gedanken auf, dass die Geflüchteten erst mit den hiesigen Werten vertraut zu machen seien. Gegen solche Initiativen ist prinzipiell nichts einzuwenden, jedoch suggerieren sie gleichzeitig, dass die bereits hier lebende Bevölkerung solche Maßnahmen nicht nötig habe, und tradieren das Bild der Musliminnen und Muslime, die Nachholbedarf im Umgang mit der Vergangenheit hätten.
Nun hat das Jahr 2016 begonnen. Auch dieses Jahr wird es Jahrestage geben, die auf den Nationalsozialismus Bezug nehmen: die Olympischen Spiele 1936, die Befreiung des Konzentrationslagers Auschwitz-Birkenau 1945 durch die rote Armee oder der Nürnberger Hauptkriegsverbrecherprozess 1946. Sie werden vermutlich nicht so aufwendig begangen werden, wie manches Ereignis im vergangenen Jahr. Dennoch bleibt die Auseinandersetzung mit der Geschichte aktuell und wichtig, weil die Folgen dieser Geschichte noch heute fortwirken.
Historische Kenntnisse sind Voraussetzung für eine Teilhabe am gesellschaftspolitischen Diskurs und erleichtern ein Verständnis und eine Auseinandersetzung mit aktuellen Phänomenen gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit. Dieser Befund gilt für alle Menschen in Deutschland, ungeachtet ihrer Familiengeschichten – und damit letztlich auch für Flüchtlinge. Dennoch ist es sinnvoll, für sie spezifische pädagogische Konzepte für eine Auseinandersetzung mit der nationalsozialistischen Verfolgungspolitik zu entwickeln. Schließlich stellt sich die Frage, warum Menschen, die aktuell mit so grundsätzlichen Fragen der Organisation des eigenen Lebens beschäftigt sind, überhaupt mit dieser Geschichte konfrontiert werden sollen. Auch ist es notwendig, vor der Auseinandersetzung zum Beispiel mit historischen Fotos oder dem Besuch einer Gedenkstätte die Zusammensetzung der Gruppe im Blick zu haben. So nahmen nach der Eröffnung der Gedenkstätte „Haus der Wannsee-Konferenz“ 1992 immer wieder auch Menschen aus dem ehemaligen Jugoslawien an Führungen teil. Es geschah mehrfach, dass sie angesichts der Fotos von Massenerschießungen der jüdischen Bevölkerung in der Sowjetunion, die sie in der ständigen Ausstellung sahen, in Tränen ausbrachen und teilweise nur schlecht zu beruhigen waren.
Wenn es um antisemitische Äußerungen geht, die unter Umständen von Flüchtlingen vorgebracht werden, so gilt hier wie bei jedem und jeder anderen auch: Je nach pädagogischer Situation sollte nachgefragt werden, warum eine Äußerung getätigt wird und deutlich formuliert werden, dass und warum bestimmte Aussagen nicht akzeptabel sind. Auch wird – wie bei allen anderen Kontexten, in denen antisemitische Ansichten vorgetragen werden – zu klären sein, ob diesen mit historischer Bildung, mit Mitteln der Gestaltpädagogik, mit Begegnungspädagogik oder anderen pädagogischen Mitteln entgegengetreten werden sollte. Wenn Ansichten nicht mehr situativ formuliert werden, sondern ein in sich geschlossenes antisemitisches Weltbild offenlegen, sollte auch die strafrechtliche Relevanz kommuniziert werden.
Schließlich sollten Pädagoginnen und Pädagogen immer auch ihre eigene Position und Rolle in Kommunikationsprozessen reflektieren. Es geht nicht darum, sich selber auf eine höhere Stufe zu stellen, sondern die eigene Verstrickung in Vorurteilsstrukturen zu bedenken. Vielleicht gelingt es so, der Geschichte, den Folgen der Geschichte und auch allen unterschiedlichen Adressatinnen und Adressaten der Vermittlung von Geschichte mit ihren spezifischen Bedürfnissen gerecht zu werden.
Anmerkungen
(1) Dies konnte man in den Reden, die in den Gedenkstätten Dachau, Flossenburg, Sachsenhausen gehalten werden, beobachten.
(2) Alle Begriffe in diesem Bereich sind letztlich unbefriedigend und tragen zum Fremdzuschreiben des Andersseins bei. Langfristig sollte diese Kategorie keine Rolle mehr spielen. Da sie aktuell aber noch eine große Relevanz besitzt, benutze ich sie auch und habe den für mich noch am passendsten Begriff gewählt. Begriffe wie „nichtdeutscher Herkunft“ oder „Einwanderungsgeschichten“ scheinen mir entweder noch negativer konnotiert oder inhaltlich noch problematischer.
(3) Paul Mecheril hat eindrücklich den Zusammenhang zwischen der Akzeptanz der deutschen Gesellschaft als Einwanderungsgesellschaft und der Entstehung des defizitorientierten Diskurses nachgewiesen. Vgl. u.a. http://www.pi-muenchen.de/fileadmin/bilder/andere/symposium2013/PDFs/Vortrag_Tag_2_0_M.pdf [27.12.2015]
(4) Vgl. u.a. den Bericht des ersten Expertenkreises Antisemitismus oder die Erkenntnisse der Bielefelder Studien zu Gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit.
Foto: KZ Auschwitz-Birkenau, C.Puisney. Lizenz: CC BY-SA 3.0, Wikimedia Commons.