„Ihre Bomben haben mit unseren nichts zu tun“ – Dschihadistische Gewalt als Jugendrevolte?
1. Dezember 2015 | Radikalisierung und Prävention

Es gehe nicht um eine Radikalisierung des Islams, sondern um eine Islamisierung des Radikalismus. Für den französischen Nahostwissenschaftler Olivier Roy lässt sich die Hinwendung von einigen Tausend jungen Franzosen zum Islamischen Staat nicht als religiöses Phänomen beschreiben. Er erklärt dies vor allem als Revolte der Jugend gegen die Eltern. Seine Thesen wurden in Deutschland viel zitiert, in Frankreich stoßen sie auch auf Kritik. Sie würden, so ein Einwand, das Phänomen „entpolitisieren“ und den weiteren gesellschaftlichen Kontext ignorieren. Götz Nordbruch (ufuq.de) fasst einige der Argumente zusammen.

Für Olivier Roy stehen Salafismus und Dschihadismus für eine Jugendrevolte, die gerade in der Abwendung von Muslimen der zweiten Generation von den Eltern zum Ausdruck komme: „Fast alle französischen Dschihadisten lassen sich zwei ganz klar bestimmten Gruppen zuordnen: Sie sind entweder Angehörige der ‚zweiten Generation’, die in Frankreich geboren oder als Kinder nach Frankreich gekommen sind (…), oder Konvertiten (deren Zahl über die Jahre angestiegen ist, aber die schon Ende der 1990er etwa 25% der Radikalen ausmachten). Das heißt, unter den Radikalen gibt es kaum Angehörige der ‚ersten Generation’ (auch kaum Neueinwanderer), aber vor allem auch keine Angehörigen der ‚dritten Generation’.“ (Le Monde, 24. Nov. 2015)

Typisch für Muslime der zweiten Generation, aber auch für Konvertiten, sei der Bruch mit den Eltern, „genauer mit dem, wofür die Eltern in Fragen von Religion und Kultur stehen“. Der Salafismus bedeute gleichermaßen einen Bruch mit der Religion der Eltern wie auch einen Bruch mit der „westlichen“ Kultur.

Anders als die erste Generation, die mit einer lange tradierten Religiosität groß geworden sei, oder die dritte Generation, die für sich eine Verbindung von Religion und moderner Gesellschaft gefunden haben, stehe das salafistische Denken für einen „Islam des Bruchs“ (“Islam de rupture“) mit den Eltern und der französischen Gesellschaft. Ein „moderater Islam“, wie er aktuell immer wieder eingefordert wird, um einer Radikalisierung von Jugendlichen vorzubeugen, sei für diese jungen Erwachsenen daher kein Angebot – gerade in der Radikalität läge schließlich die Anziehungskraft von Salafismus und Dschihadismus.

Auffallend, so Roy, sei das mangelnde Interesse vieler Angehöriger dieser Szene an theologischen Fragen, und das weitgehende Fehlen von Muslimen unter den Dschihadisten, die zuvor in traditionellen bis islamistischen Organisationen wie der Muslimbruderschaft aktiv waren. Das Bekenntnis zum vermeintlich wahren Islam stehe hier nicht für eine Hinwendung zum Glauben, sondern für ein Mittel der Konfrontation mit den Eltern: „Wir haben es mit einer Revolte der an den Rand gedrängten Jugend zu tun (…). Die Haupterklärung, warum es der Islam ist, liegt an dem Mangel an Übermittlung des Islams. Und nebenbei gesagt, gibt es einen gemeinsamen Punkt mit der Roten Armee Fraktion, es ist das Schweigen der Eltern.“

Ähnlich wie im Falle der Roten Armee Fraktion und der (fehlenden) Auseinandersetzung der Elterngeneration mit der Nazivergangenheit geht es auch hier um Generationskonflikte, die sich an den Biographien der Familien festmachen: „Nun sind es die Fragen: Warum sind wir in Europa? Warum leben wir in dem Milieu der Migranten? Die Eltern können ihren Kindern nicht erklären, was sie getan haben. Ihr Argument ist: Wir sind für ein besseres Leben hierhergekommen. Aber die Kinder fragen: Was für ein besseres Leben? Wir haben kein gutes Leben. Die Eltern sind hilflos. Das war schon bei den algerischen Familien so, die sehr nationalistisch waren, aber 1962 nach Frankreich kamen. Sie konnten diesen Schritt ihren Kindern nicht erklären. Sie wissen nicht, was sie sagen sollen.“ (Berliner Zeitung, 24. Nov. 2015)

Der Islam- und Nahostwissenschaftler Francois Burgat sieht in dieser Erklärung der Anziehungskraft von Salafismus und Dschihadismus die Gefahr, dass der gesellschaftliche Kontext ausgeblendet wird. In dieser Lesart spielten das „Scheitern der Republik in Fragen der Integration, ihre koloniale Vergangenheit oder die Fehler der französischen Politik in der islamischen Welt“ nur am Rande eine Rolle. (rue89.com, 1. Dez. 2015) Die Bomben der Dschihadisten, so fasst Burgat die Thesen Roys zusammen, „stünden mit unseren Bomben in keinerlei Zusammenhang.“

Burgat sieht in der Radikalisierung junger Muslime nicht zuletzt eine Folge der kolonialen Vergangenheit. Auch wenn diese die französische Kolonialherrschaft nicht selbst erlebt hätten, präge die Geschichte auch heute noch deren Selbstverständnis. Dies gelte für algerischstämmige Migranten genauso wie für Juden und Armenier, für die die Geschichte der Genozide auch heute noch präsent sei.

Der Islamismus, auch in seinen aktuell wichtigsten Formen des Salafismus und Dschihadismus, lässt sich aus seiner Sicht nicht von der Geschichte und Politik Frankreichs und den Konflikten im Nahen Osten trennen. In der „Pathologisierung“ dieser Strömungen als soziales oder psychisches Problem sieht er die Gefahr, die Gesellschaft selbst aus der Verantwortung zu entlassen.

Diese Kontroverse unter französischen Nahostwissenschaftlern lässt sich auch auf Deutschland übertragen. Die Ergebnisse, die Olivier Roy über die Biographien französischer Dschihadisten wiedergibt, gelten in ähnlicher Weise für jene, die aus Deutschland nach Syrien oder in den Irak ausgereist sind. Auch für viele deutsche Dschihadisten ist der Bruch mit der Elterngeneration charakteristisch, der in dem Vorwurf des Verrats an einem vermeintlich wahren Islam durch die Eltern zum Ausdruck kommt. Gleichwohl handelt es sich dabei nicht allein um einen familiären Konflikt zwischen den Generationen. „Politisch“ ist dieser Konflikt schon deshalb, weil in ihm die Schwierigkeiten deutlich werden, sich als Muslime mit der Gesellschaft zu identifizieren. Angesichts der Debatten um Leitkultur, Einwanderungsgesellschaft und die Zugehörigkeit des Islam und der Muslime zu Deutschland fehlt es vielen Jugendlichen aus muslimischen Familien an Identifikationsmöglichkeiten, die ihnen Stolz auf die Geschichte ihrer Eltern, aber auch ein Gefühl der Zugehörigkeit zur Gesellschaft bieten könnten. Jugendrevolten, so ließe sich zusammenfassen, sind eben immer auch politisch.

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