Im Februar 2019 diskutierten Studiendirektor i. R. Kurt Edler und Götz Nordbruch von ufuq.de bei einem Werkstattgespräch (Dokumentation, pdf) des Vereins für Demokratie und Vielfalt in Schule und beruflicher Bildung in Berlin über pädagogisches Handeln im Spannungsfeld von Islamismusprävention und Antidiskriminierung. Schnell wurde klar, dass die Gesprächspartner zum Teil sehr unterschiedliche Ansätze vertreten – und dass weiter diskutiert werden sollte. ufuq.de-Mitarbeiterinnen Mirjam Gläser und Sakina Abushi verabredeten sich daher ein zweites Mal mit Kurt Edler. Lesen Sie hier das Streitgespräch zu antimuslimischem Rassismus, Identitätspolitik und den Grenzen von Religiosität im öffentlichen Raum im Wortlaut-Protokoll.
Sakina Abushi: Lieber Kurt, bei einer Veranstaltung Anfang dieses Jahres hast du uns vorgeworfen, Teil eines rechthaberischen, ideologisch homogenen Milieus zu sein, das eine Art Lobbyismus für muslimische Menschen in Deutschland betreibt. Wo siehst du Differenzen zwischen uns?
Kurt Edler: Ich finde eure Haltung zu unkritisch, zu relativierend. Die Frage, die ich stelle, ist: Was für eine politische Haltung nimmst du ein, wenn du die Regeln deiner Religion sichtbar über die Regeln der Allgemeinheit stellst? Da hört für mich der Spaß auf. Für mich sind zum Beispiel Eingriffe in die individuelle Freiheit der Frau eine klare Grenze. Da geht es auch nicht um den Islam, sondern um einen politisierten Islam, der sich in den letzten 20 bis 40 Jahren in diesen Konturen überhaupt erst entwickelt hat. Individuelle Verhaltensweisen wie die zunehmende religiöse Kopfbedeckung der muslimischen Frau sind für mich eine Folge dieser Politisierung. Wer seine Religion demonstrativ praktiziert, darf sich in einer Gesellschaft wie unserer nicht wundern, wenn ihm oder ihr Antipathien entgegenschlagen.
Mirjam Gläser: Ich bitte dich zu bedenken, dass wir nicht in einem luftleeren Raum über Religion, Staat und Gesellschaft sprechen, sondern uns mitten in einer hochpolitisierten Debatte über Islam in Deutschland befinden. Wenn man dir folgt, dann trifft, was du sagst, ja zum Beispiel auch auf Kippa-Träger in Deutschland zu. Als es 2018 und 2019 Übergriffe auf Jüd_innen gab, haben viele Menschen an Demonstrationen wie „Wir tragen Kippa“ teilgenommen. Eine solche Solidarisierungsbewegung erleben wir beim Thema Kopftuch nicht, obwohl muslimische Frauen alltäglich verbalen und physischen Übergriffen ausgesetzt sind. Die Debatte um den Brauch des Schächtens ist ein weiteres Beispiel dafür, dass es unterschiedliche Wahrnehmungen der Legitimität von Religiosität im öffentlichen Raum gibt. Die Forderungen nach einem Verbot sind ganz schnell verstummt, als den Menschen klar wurde, dass es auch jüdische Menschen betreffen würde. Der Islam wird meiner Meinung nach in Deutschland anders verhandelt als das Judentum.
Sakina Abushi:: Und was ist mit dem Christentum? Das läuft immer so neutral im Hintergrund mit. Aber über den Staat wird die Kirchensteuer eingetrieben, und kirchlichen Einrichtungen ist es erlaubt, ausschließlich christliche Menschen einzustellen und nichtchristliche auszuschließen. Es ist einfach nicht wahr, dass alle Religionsgemeinschaften in Deutschland gleichberechtigt sind.
Kurt Edler: Stimmt. Und besonders zum Judentum haben wir ein spezielles Verhältnis. Das gehört zur Staatsräson einer geschichtsbewussten Republik im Rückblick auf den Holocaust.
Mirjam Gläser: Lass uns unsere Konfliktpunkte noch ein bisschen konkretisieren. Du hast gerade gesagt, dass es bestimmte Grenzen der Religiosität im öffentlichen Raum gibt. Dann fiel das Stichwort islamische Kopfbedeckung. Siehst du das Kopftuch an sich kritisch, oder möchtest du keine Lehrerin mit Kopftuch an der Schule sehen?
Kurt Edler: Ich bin nicht prinzipiell gegen das islamische Kopftuch im öffentlichen Raum. Man könnte zwar darüber nachdenken, ob es eine Verletzung der Menschenrechte der Frau ist, wenn sie das, was die menschliche Individualität ausmacht, das Gesicht, verhüllt. Da die Menschenrechte ja unveräußerlich sind, kann es auch sein, dass eine Frau, die einen Nikab oder eine Burka trägt, ihre eigenen Menschenrechte verletzt.
Mirjam Gläser: Auch, wenn sie sich freiwillig dazu entschließt?
Kurt Edler: Natürlich, ich kann nicht sagen, ich bin für Artikel 1 des Grundgesetzes, verkaufe dir aber meinen Arm oder meine Leber. Das geht nicht. Da diese Praxis im öffentlichen Raum stattfindet, geht es nicht nur um den freien Willen der einzelnen Person, sondern es kann durchaus eine für alle sichtbare Menschenrechtsverletzung sein, mit einem schädlichen Nachahmungsimpuls. Da ist für mich die gefühlte Grenze. Aber dann streiten sich in mir der Demokrat und der Liberale. Und der Liberale ist der vernünftigere und sagt: Das kannst du nicht machen, dass du anfängst, erwachsenen Menschen im öffentlichen Raum Vorschriften zu machen. Aber eine Gesichtsverhüllung ist ein Anschlag auf die menschliche Individualität und Einzigartigkeit, die sich eben nur im offenen Antlitz manifestiert.
Sakina Abushi: Was ist mit dem schulischen Raum?
Kurt Edler: Das ist etwas ganz anderes. Die Religionsbekundung im pädagogischen Raum ist natürlich unbedingt in Grenzen zu verweisen. Kinder und Jugendliche müssen in einer pluralen Gemeinschaft damit klarkommen, dass es in der Schule Menschen gibt, die mit Religion nichts zu tun haben wollen. Als Schülerin muss ich natürlich bereit sein, mein religiöses Gewand abzulegen, wenn ich zum Beispiel in einem Theaterstück mitspielen möchte, am Bunsenbrenner hantiere oder am Barren turne. Von pädagogischen Fachkräften fordere ich noch mehr Zurückhaltung in der Bekundung von Religiosität.
Mirjam Gläser: Ich würde dir da widersprechen. Ich bin Agnostikerin und habe mit Religion nicht viel am Hut. Ich würde trotzdem sagen, dass das Thema Religion in der Schule sensibler zu handhaben ist. Ich biete Fortbildungen für Berliner Lehrer_innen zum Thema Islam an und bemerke, dass die meisten mit Religion nichts anfangen können. Manchen ist sie auch richtiggehend zuwider. Ich finde das auch völlig in Ordnung, ich glaube nur, dass man in einem professionellen pädagogischen Kontext auch auf Jugendliche zugehen können sollte, die sich sehr religiös verorten. Das Thema Islam in der Schule hat doch oft etwas mit dem Bedürfnis nach Anerkennung zu tun. Das typische Beispiel, das wir kennen, ist die Einforderung eines Gebetsraumes durch Schüler_innen. Dann lässt sich eine Schule darauf ein und richtet einen Raum der Stille ein. Nach einem halben Jahr berichten uns die Lehrkräfte dann empört, dass die Jugendlichen den Raum gar nicht nutzen. Warum? Weil es ihnen nicht ums Beten ging, sondern primär darum, mit ihren Bedürfnissen im Schulalltag vorzukommen.
Sakina Abushi: Deswegen glauben wir, dass das Thema Islam oder Religion ein wichtiger Teil der Lehrer_innenausbildung sein sollte. Die Leute müssen keine Islam-Expert_innen werden, aber es wäre nicht verkehrt, wenn sie wüssten, was der Ramadan oder die Scharia ist und was es mit Dschihad auf sich hat. Sie sollten religiös alphabetisiert sein, sich also mit bestimmten religiösen Grundbegriffen und Traditionen auskennen. Was sagst du dazu?
Kurt Edler:Unbedingte Zustimmung! Kenntnis in Religionsfragen sollte Teil der pädagogischen Bildung sein. Der Mensch lebt nicht von Brot allein – natürlich ist es diskriminierend, wenn wir zu einem Jugendlichen mit religiösen Bedürfnissen sagen: Das hat hier keinen Platz, oder: Geh mit deinem Bedürfnis woandershin. Auch der Beutelsbacher Konsens besagt im Übrigen, dass das, was für das Kind wichtig ist, auch für mich als Pädagoge wichtig sein muss – Stichwort Schülerinteressenorientierung. Wieso werden in Schulen, in denen 70 Prozent der Schüler muslimisch sind, keine muslimischen Feste gefeiert, aber Advent und Weihnachten? So bekommen die Schüler das Gefühl, dass das eine „deutsche“ Schule ist und dass sie keine „richtigen Deutschen“ sind. Das finde ich hochproblematisch.
Mirjam Gläser: Da sind wir genau deiner Meinung.
Kurt Edler: Und jetzt kommt das Aber. Ich bitte euch, zwei Dinge zu bedenken: Erstens: Wir müssen auch in Schulen den Artikel 7 des Grundgesetzes vor Augen haben, in dem der Religionsunterricht als einziges ordentliches Lehrfach an Schulen geschützt wird. Er soll nach den Grundsätzen der Religionsgemeinschaften gegeben werden. Deswegen darf auch kein nichtreligiöser Lehrer gezwungen werden, gegen seinen Willen Religionsunterricht zu erteilen. Dieser Passus hat etwas mit unserer NS-Vergangenheit zu tun: Der Staat muss religiösen Menschen in der Schule Freiräume zugestehen. Deswegen kann es einfach nicht sein, dass der Atheist Kurt Edler dem muslimischen Kind erklärt, was Religion ist. Ich bin stolz darauf, dass wir in Hamburg den meiner Meinung nach im Bundesvergleich fortschrittlichsten Ansatz verfolgen, was islamischen Religionsunterricht angeht: Der Unterricht wird von Religionsvertretern gegeben, die eine Lehramtsprüfung abgelegt und auf das Grundgesetz bzw. die Landesverfassung geschworen haben. Das sind meiner Meinung nach die geeigneteren Personen, um mit Kindern über den Glauben zu sprechen, weil sie über eine professionelle Qualifikation und ein persönliches Verhältnis zum Glauben verfügen.
Mirjam Gläser: Ich kann dir da nicht widersprechen – auch wir bilden in unseren Fortbildungen für Lehrer_innen ja keine Lehrkräfte für Islamunterricht aus, sondern vermitteln grundlegende Kenntnisse, die wichtig sind, um auf Schüler_innen eingehen zu können. Einen professionellen Islamunterricht halten wir ebenfalls für wichtig.
Kurt Edler: Mein zweiter Punkt wäre dieser: In der Schule darf keine Missionierungsarbeit gemacht werden. Denn Fakt ist, dass teilweise von kleinen radikal-religiösen Gruppen Druck auf die Schulen ausgeübt wird. Es gibt Prozesse, die man nicht mehr mit individuellen religiösen Erlebnissen erklären kann. Wenn zum Beispiel in einer Mittelstufenklasse vor den großen Ferien zwei Mädchen Kopftuch getragen haben und hinterher sind es auf einmal zwanzig, dann hat da etwas stattgefunden, und wir wären dumm, wenn wir das nur unter „Religion“ verbuchen würden. Da begegnen wir den Folgen einer Konfessionalisierungsstrategie, die von naiven Linken und Multikultis unwillentlich befördert wird.
Lasst uns doch mal ehrlich sein: Wir haben in den letzten Jahren eine so perverse, bestialische Gewalttätigkeit im Namen des Islams erlebt, eine Entwicklung von Abgründen, die einen teilweise an die Antike oder das frühe Mittelalter erinnern. Alles im Namen einer bestimmten Religion! Man kann nicht den Terrorismus und den IS herausdefinieren und sagen, das wären keine echten Muslime. Man kann den Islamismus nicht totschweigen. Das ist ebenso hilflos wie jene alte rhetorische Figur aus 68er-Zeiten, als wir gesagt haben: Marx war ein guter Kerl, und Stalin war kein Marxist. So einfach sind die Dinge aber nun mal nicht.
Sakina Abushi: Man kann uns wirklich nicht vorwerfen, dass wir Islamismus nicht thematisieren würden. Aber unser Credo lautet: Wer von Islamismus spricht, darf über Islamfeindlichkeit nicht schweigen. Ich kann ehrlich gesagt nicht nachvollziehen, wieso du von einer kleinen radikalen Minderheit auf die gesamte muslimische Community in Deutschland schließt. Wir erwarten doch auch nicht von allen nominell christlichen Mitbürger_innen, dass sie sich zu fundamentalistischen Strömungen oder Bewegungen in anderen Ländern äußern und verhalten. Du nimmst eine deutsche Minderheit in Kollektivhaftung.
Kurt Edler: Das stimmt nicht. In moralische Haftung nehme ich nur die Leute, die mit Scheuklappen in der Parteipolitik oder in der Pädagogik herumlaufen und Phänomene wie den Islamismus ignorieren. Meinen türkischen Nachbarn in Altona würde ich damit nie kommen. Die finden den IS so furchtbar, dass sie krank sind davon. Übrigens: Eine muslimische Community gibt es nicht. Wir haben weder eine christliche Community noch eine muslimische Community, sondern wir haben Bürgerinnen und Bürger, die alle nominell zu irgendwelchen Gruppen gehören. Was weiß ich, ob ich aufgrund meines Geschlechts, Alters und meiner beruflichen Herkunft zu irgendwelchen Kreisen gerechnet werde, vielleicht zur gehobenen Mittelschicht oder weiß der Teufel was. Das interessiert mich auch gar nicht. Wenn ihr von einer muslimischen Community sprecht und für sie eintretet, dann betreibt ihr Identitätspolitik und macht euch letztlich zur Lobbyorganisation.
Mirjam Gläser: Identitätspolitik ist für mich ein absolut schwieriger Begriff. Das ist ein Vorwurf, der in aller Munde ist, hinter dem aber wenig Substanz und viel Abwehr steckt.
Kurt Edler: Dann gebe ich euch ein Beispiel. Zwei Jungs gehen die Treppe im Schulhaus hoch und finden einen Zehn-Euro-Schein. Sie heben ihn auf, bringen ihn zur Sekretärin und geben ihn ab. „Hier, den haben wir gefunden.“ Der Schulleiter hört das und sagt: „Mensch, das finde ich toll von euch, dass ihr das macht.“ Da sagt einer der beiden Jungen: „Das ist doch selbstverständlich, wir sind Muslime.“ Diese Jungs sind in der moralischen Bewertung von Verhalten im öffentlichen Raum so stark durch religiöse Identitätspolitik aufgeladen, dass sie alles so einordnen. Ein anderes Beispiel aus Wilhelmsburg: Ein junger Mann, der in einem Jugendtreff arbeitet, hat mir erzählt, dass seine Jungs sich früher immer gegenseitig fragten: „Bist du auch Türke?“ Jetzt, fünf Jahre später, fragen sie: „Bist du auch Muslim?“ Ein drittes Beispiel: Ich sitze im Schulflur, neben mir sitzt auf der Bank ein 14-jähriges Mädchen. Ein Schulkamerad ruft über den gesamten Flur: „Merve, bist du eigentlich Schiitin oder Alevitin?“ Und alle anderen hören das und wissen, er fragt eigentlich: Bist du nun Pest oder Cholera? Ist das alles etwa kein Hinweis auf Identitätspolitik?
Mirjam Gläser: Du beschreibst etwas anderes, nämlich dass sich Identitätsmarker von Jugendlichen gewandelt haben. Das hat aber auch etwas mit der öffentlichen Debatte über Muslim_innen in Deutschland zu tun, mit Selbst- und Fremdzuschreibungen. Und auch auf den Vorwurf des Lobbyismus würde ich gerne noch eingehen: Ich finde nicht, dass wir Lobbyarbeit für eine religiöse Gruppe machen. Worum es uns geht, ist eine gründliche Auseinandersetzung mit antimuslimischem Rassismus.
Kurt Edler: Was für ein Begriffsungetüm! Ich halte diesen Begriff für fragwürdig.
Mirjam Gläser: Vielleicht kann ich ihn dir näherbringen. Ich zum Beispiel habe lange in der Rechtsextremismusprävention gearbeitet, wo es sehr wichtig war, rechtsextreme Einstellungen zu definieren. Seit ich bei ufuq.de arbeite, hat sich mein Blick geweitet. Die Auseinandersetzung mit Rassismus bedeutet für mich nicht nur das Sprechen über individuelle Einstellungen, sondern die Beschäftigung mit Strukturen und hegemonialen Diskursen in der Mitte der Gesellschaft. Wenn wir über Islam und Islamismus sprechen, dann ist es für mich total wichtig, zu fragen: Wie verhält sich eigentlich die Schule zu Rassismus? Befördert diese Institution strukturellen Rassismus? Ich finde es wichtig, dass sich insbesondere Lehrer_innen über ihre eigene Haltung Gedanken machen.
Kurt Edler: Das finde ich auch. An deutschen Schulen gibt es täglich zehntausende rassistische Diskriminierungen, da brauchen wir eine deutliche Schärfung des Bewusstseins im schulischen Raum. Trotzdem gefällt mir der Begriff „antimuslimischer Rassismus“ nicht. Für mich ist das ein ideologisches Zweckwort, das im Grunde nur die Parteilichkeit seiner Benutzer widerspiegelt, aber wissenschaftlich nicht sehr seriös ist. Ich spreche lieber von Menschenrechts- und Demokratiefeindlichkeit. Die Mitte der Gesellschaft gibt es für mich übrigens auch es nicht, genauso wenig wie eine muslimische Community.
Sakina Abushi: Was ist konkret deine Kritik am Begriff „antimuslimischer Rassismus“?
Kurt Edler: Ich verstehe, was mit dem Begriff gemeint ist, und ich kann ihn emotional nachvollziehen. Wenn Ali mit seinen Kumpels vor einer Hamburger Diskothek steht und der Türsteher sagt: „Im Augenblick haben wir zu viele Schwarzköpfe. Du musst draußen bleiben“, dann ist das unglaublich hart, wenn da drinnen vielleicht das Mädchen wartet, auf das er ein Auge geworfen hat. Solche Geschichten erleben Jugendliche täglich. Das Problem jedoch ist, dass ihr mit Workshops zum Thema „antimuslimischer Rassismus“ Opfernarrative verstärkt, weil ihr ein Phänomen so „framet“, dass es euch ideologisch in den Kram passt.
Sakina Abushi: Wenn du solche Geschichten kennst, wie kannst du uns dann vorwerfen, Opferdiskurse zu verstärken? Diese Diskriminierungserfahrungen, die realen Missstände sind ja Realität für Jugendliche in Deutschland. Aus unserer Sicht ist es besser, dass wir Rassismuserfahrungen in den Schulen aufgreifen und benennen, als dass extremistische Akteur_innen das irgendwo anders tun.
Kurt Edler: Ich sehe, dass da eine paternalistische und bevormundende Haltung zum Tragen kommt, die den jungen Menschen unfrei macht und nicht mündig. Wenn ihr Jugendliche einfach nur in den Arm nehmt, streichelt und sagt: „Du wirst hier diskriminiert“, dann ist das keine aufgeklärte und realistische Pädagogik. Ich würde stattdessen sagen: „Die Welt ist ungerecht. Du wirst unglaublich viele neue Demütigungserfahrungen in deinem Leben machen, du musst aber trotzdem versuchen, ein guter Mensch zu bleiben und darfst niemals zur Waffe greifen.“ Ihr seid, vielleicht auch aufgrund eigener Betroffenheit der einen Mitarbeiterin oder des anderen Mitarbeiters, zu parteilich und legt zu viele Emotionen in die Sache hinein.
Sakina Abushi: Wenn du so argumentierst, dann müsstest du auch weiblichen Fachkräften in der Mädchenarbeit Parteilichkeit und Befangenheit vorwerfen. Weder in der Pädagogik noch in der politischen Bildung gibt es einen Befangenheitsvorbehalt. Im Gegenteil: Eigene Erfahrungen sind für uns eine Ressource, um mit Jugendlichen ins Gespräch zu kommen.
Kurt Edler: In Ordnung, aber eine Eignung, pädagogisch mit Jugendlichen zu arbeiten, hat man nur dann, wenn man seine eigene Opferrolle verarbeitet hat und anderen Mut machen kann, mit dieser Gesellschaft in Kontakt zu bleiben, obwohl die Situation vor der Disko sich am nächsten Abend schon wiederholen kann.
Mirjam Gläser: Erstens: Ich mag das Wort Opfer nicht. Wir sprechen lieber von Menschen, die von Diskriminierung und Rassismus betroffen sind. Zweitens: Ich glaube, wir definieren Rassismus und Diskriminierung unterschiedlich. Ich definiere Rassismus und Sexismus als gesellschaftliche Verhältnisse. Ich als Frau bin von Sexismus betroffen, und gleichzeitig trage ich zu einer Verstetigung sexistischer Strukturen im Zweifelsfall bei. Wenn man Rassismus als gesellschaftliches Verhältnis begreift, dann ist es sehr wichtig, dass auch Menschen, die selbst Rassismuserfahrungen gemacht und diese selbstredend auch reflektiert haben, in der pädagogischen Arbeit vorkommen. Das heißt ja nicht, dass ich den Jugendlichen sage, dass diese Betroffenheit immer im Vordergrund steht. Aber eine Pädagogin mit Rassismuserfahrungen kann als Vorbild für Jugendliche gelten, die sich selbst mit Rassismus auseinandersetzen müssen.
Kurt Edler: Ich kann mir das nur bedingt vorstellen. Meine Erfahrung ist, dass es für das durchschnittliche Lehrerkollegium glaubwürdiger ist, wenn ich über die Diskriminierung von Muslimen spreche, als wenn Muslime das selber tun.
Sakina Abushi: Den Vorwurf der Befangenheit könnte man aber auch umdrehen. Von Rassismus betroffen sind wir ja alle, ob man nun rassistisch diskriminiert wird, ob man selber diskriminiert oder ob man als Zeuge oder Zeugin involviert ist. Rassismus ist ein gesellschaftliches Problem, das uns alle betrifft. Von daher könnte ich genauso zu dir sagen: Du referierst über Rassismus und Diskriminierung aus einer gesellschaftlich privilegierten Position heraus. Du bist doch genauso betroffen, genauso voreingenommen wie ich. Dass dir von dieser Gesellschaft, diesem Kollegium mehr Autorität zugestanden wird, heißt nicht, dass ich grundsätzlich nicht zu dem Thema sprechen kann.
Kurt Edler: Ich rede über die potenzielle Wirkungslosigkeit einer Präventionsstrategie, die sich zu stark von Viktimisierungsnarrativen und von Generalisierungen über „die Gesellschaft“ leiten lässt. „There is no society“, hat Margaret Thatcher gesagt.
In diesem Satz steckt ein Körnchen Wahrheit. Verallgemeinerungen über die so genannte „Gesellschaft“ in den Kategorien von vor 50 Jahren helfen doch niemandem weiter. Eine Pädagogik, die über einen falschen Moralismus und mittels Anklagen gegen „die Gesellschaft“, „die Mehrheit“ oder „die Mitte“ arbeitet, wird entweder wirkungslos bleiben oder – im schlimmeren Fall – eine depressive Sichtweise befördern, die letztlich zu einer Radikalisierung beiträgt. Aus Frust wird Wut, aus Wut am Ende Hass.
Mirjam Gläser: Ich fühle mich von dir missverstanden, wenn du sagst, dass wir moralisieren. Ich finde, wir tun genau das Gegenteil. Wenn ich Rassismus thematisiere, dann, weil ich glaube, dass es wichtig ist, sich mit Rassismus als gesellschaftliches Verhältnis auseinanderzusetzen. Ich bin doch ein Teil davon, ich bin Teil dieses Systems. Ich rede nicht nur über die anderen, sondern ich rede zuallererst über mich selbst. Die Auseinandersetzung mit Rassismus heißt eben nicht, das Problem woanders zu suchen, sondern sich mit rassistischen Strukturen zu beschäftigen. Wir leben in der dritten oder vierten Generation nach dem Nationalsozialismus, der ein durch und durch rassistisches System war. Ich finde es nicht verwunderlich, dass wir rassistisches und antisemitisches Denken in uns tragen. Das klar zu benennen, sehe ich als unsere Aufgabe.