„Ich bin Paris!“ und „Ich bin Muslim!“ schließen sich nicht aus. Anregungen für die Arbeit mit Jugendlichen
15. November 2015 | Radikalisierung und Prävention

„Terror, nicht in unserem Namen!“ Unter diesem Motto steht die Mahnwache, die am 16. November 2015 von der Türkischen Gemeinde zu Berlin, der Islamischen Föderation und der Islamischen Gemeinschaft in Deutschland vor der Französischen Botschaft organisiert wird. Der Schock und die Empörung, aber auch die Angst vor eine Spaltung der Gesellschaft und einer wachsenden antimuslimischen Stimmung wurden auch in vielen Kommentaren sichtbar, die in den sozialen Netzen veröffentlicht wurden.

Die polarisierten Debatten über islamistische Gewalt spiegeln sich in der pädagogischen Arbeit. Beispielhaft dafür stehen Berichte von Lehrkräften und Sozialarbeiter_innen über Diskussionen, die sich nach den Anschlägen in Paris im Januar 2015 auch unter und mit Jugendlichen entwickelten. Auch die jüngsten Anschlägen in Paris lassen ähnliche Konflikte erwarten. Umso wichtiger ist es, einem Denken in „Wir“ und „Sie“ auch in der Bildungsarbeit entgegenzuwirken. Es muss klar werden, dass sich „Ich bin Paris!“ und „Ich bin Muslim!“ nicht ausschließen, sondern zusammen denkbar sind.

Einige aktuelle Kommentare von Muslim_innen eignen sich besonders, um mit Jugendlichen über die Auswirkungen der jüngsten Anschläge ins Gespräch zu kommen und die gemeinsame Verantwortung herauszustellen.

So betont die Berliner Juristin Betül Ulusoy die Angst, die viele Muslim_innen nach den Anschlägen umtreibt: „Dennoch haben auch Muslime eine Berechtigung, ihre Ängste auszudrücken, denke ich. Wir sind schließlich gleich mehrfach betroffen: Trauer um die Ermordeten, Angst vor weiteren Anschlägen durch muslimische Terroristen, aber auch Angst vor steigenden Vorbehalten und Hass gegenüber Muslime, Anschläge auf unsere Moscheen und Angriffe auf Frauen mit Kopftuch. Nach jedem Terroranschlag durch muslimische Extremisten steigen die Angriffe auf Muslime selbst.“

Gleichwohl sieht sie auch die Muslim_innen selbst in der Pflicht, um einer Abwendung gerade von jungen Muslim_innen entgegenzuwirken. „Wie kann es sein, dass Menschen im Namen unserer Religion Anschläge verüben? Wie kann es sein, dass ich Nachrichten von jungen Menschen erhalte, die in Deutschland leben und Wahlen und Demokratie ablehnen? Wie kann es sein, dass Jugendliche nach Syrien in den Krieg ziehen – und wieder zurückkommen? Und: Was können wir tun, um extremistisches Gedankengut in unseren Reihen im Keim zu ersticken?“ (Facebook, 14.11.2015)

Diese Frage wirft auch Younes Kil auf: „Wenn wir den Virus, welchen unsere Gemeinschaft befallen hat bekämpfen wollen, brauchen wir seriöse, wissende und von den Jugendlichen ernst genommene Persönlichkeiten, welche den klassisch traditionellen Islam breitflächig vermitteln können. Wir werden mit Waffengewalt keine Chance haben. Dieser Virus muss mit Argumentation bekämpft werden.“ (Facebook, 14.11.2015)

Für die Islamische Gemeinschaft der schiitischen Gemeinden Deutschland geht es dabei auch um eine theologische Auseinandersetzung mit den religiösen Hintergründen des Terrors: “Es ist notwendig, dass die Ursachen, die zu diesem Terror führen, bekämpft werden. Theologische Verirrungen, wie sie derzeit existieren, bieten das Fundament und den Nährboden. Die Ablehnung von Andersdenkenden durch Takfir (d.h. die Praxis, jemanden zum Ungläubigen und als nicht lebenswert zu erklären) muss selbst abgelehnt und aus allen Predigten, Ansprachen und Büchern verwiesen werden. Nur so lässt sich der Terror dauerhaft und in seiner Wurzel bekämpfen.“

Mit Mahnwachen und Presseerklärungen, in denen die Anschläge verurteilt und vor einem wachsenden Rassismus gewarnt wird, ist es daher auch für Ulusoy nicht getan: “Muslime dürfen auf sich selbst schauen. Die Anschläge auf sich selbst beziehen. Ich-bezogen sein. Aber wir müssen dabei die richtigen Fragen stellen. Und die richtigen Konsequenzen ziehen: Wir dürfen bei all der Lobby-Arbeit und Aktionen nach Außen den kritischen Blick nach Innen nicht vergessen. Wir müssen uns stärker unserer Jugend annehmen. Nicht nur Aufklärung nach Außen anbieten, sondern mehr religiöse Aufklärung für Muslime selbst. Wir müssen uns um unsere Mitglieder kümmern. (…) Nach der Trauer dürfen wir darum nicht in ein ‚wir’ und ‚ihr’ verfallen, uns selbst bemitleiden und darum zurück ziehen. Wir müssen ein Mal mehr mit der Arbeit beginnen, unermüdlich – In der muslimischen Community und an uns selbst. Das erfordert den Einsatz von jedem Einzelnen von uns! Und wir müssen – mehr als sonst – als Gesellschaft zusammenhalten: Muslime und Nicht-Muslime. Sonst gewinnen die Terroristen und das will keiner von uns.“ (Facebook, 14.11.2015)

Das sieht der Hamburger Blogger Akif Sahin ganz ähnlich. Für ihn ist es nicht mehr ausreichend, sich auf die Behauptung zurückzuziehen, der Terror habe mit dem Islam und Muslim_innen nichts zu tun:„Der Mord an Unschuldigen wird mit perfiden Tricks und religiösen Texten begründet. Da hilft es wenig, wenn man als Muslim behauptet, das habe mit dem Islam nichts zu tun. (…) Heute werden Jugendliche von Anwerbern in Deutschland direkt angesprochen, ob sie nicht für den IS in Syrien kämpfen wollten. Ihnen wird sogar Geld geboten. Und oft haben weder die Sicherheitsbehörden noch die Eltern der Betroffenen eine Handhabe gegen solche Anwerbeversuche.“

Daher müssten sich die islamischen Verbände verstärkt auch in der Präventionsarbeit mit muslimischen Jugendlichen engagieren: „Uns darf es nicht kalt lassen, dass immer noch Jugendliche in den Bann dieser Ideologen und Feinde unserer Gesellschaft gezogen werden. Muslime müssen sich an der Bildung und auch in der Prävention ihrer eigenen Geschwister beteiligen. Nur so kann man – zumindest ansatzweise – verhindern, dass noch mehr Menschen Opfer der terroristischen Machenschaften dieser und anderer menschenverachtenden Organisationen werden. Nur so kann man verhindern, dass noch mehr Menschen für ihren Irrglauben in die Hölle wandern.

Letztlich, so Sahin, gehe es aber um mehr: „Wir brauchen ein grundsätzliches Umdenken. Welchen Sinn hat es, wenn muslimische Organisationen einen exklusiven Rahmen schaffen, in dem sie gegen Gewalt und Terror demonstrieren? Wäre es nicht sinnvoller sich Aktionen auszudenken, die man gemeinsam mit gesellschaftlichen Trägern aller Couleur veranstaltet? Wäre es nicht besser allein dadurch ein Zeichen zu setzen, dass man an Demonstrationen teilnimmt, die von einer breiten Basis getragen werden, statt „nur“ von Muslimen? (…) Vielleicht sollte man als Muslime endlich anfangen nicht mehr in der Vergangenheit zu leben, sondern im hier und jetzt auf einen Neuanfang setzen – gerade in der Bewertung der Gesellschaft in der man jetzt lebt.“ (islam-blogger.de, 14.11.2015)

Weitere interessante Kommentare

Ferid Heider, Berliner Imam: „Es ist erschreckend wie einige unserer Geschwister argumentieren und versuchen solche Anschläge zu rechtfertigen oder zu relativieren. (…) Muslime und muslimische Einrichtigungen in ganz Europa und nicht nur in Frankreich werden die ersten Opfer dieser Anschläge sein und als erste die Konsequenzen zu spüren bekommen.“ (Facebook, 13.11.2015)

Neuköllner Begegnungsstätte: „Dieser feige Terrorakt ist gegen die gesellschaftlichen Werte und das friedliche Miteinander gerichtet. Es muss entschlossen und vor allem gemeinsam dagegen gehandelt werden. Insbesondere rufen wir die Muslime dazu auf, vereint und entschlossen gegen die terroristische Gefahr vorzugehen.“ (Facebook, 13.11.2015)

Abdelkarim, Komiker, „Distanzieren sie sich von dem Anschlag?“ (nach den Anschlägen im Januar, Die Anstalt im ZDF).

Skip to content