„Ich bin Feministin und Arbeiterin“ – ein Gespräch mit meiner Mutter anlässlich des Internationalen Frauentags am 08. März
7. März 2023 | Gender und Sexualität, Geschichte, Biografien und Erinnerung

Die Mutter unserer Autorin kam als Jugendliche nach Deutschland. Sie arbeitet als Küchenhilfe und Reinigungskraft und blickt mit Stolz auf ihre Tochter, die als Akademikerin erfolgreich ist. Gemeinsam schauen sie zurück und fragen nach dem Zusammenhang von Feminismus und sozialem Aufstieg.

Meine Mutter kam als Jugendliche im Alter von 12 Jahren im Rahmen der Familienzusammenführung nach Deutschland. Bis zu diesem Zeitpunkt hatte sie nur das Dorfleben der 60er und 70er Jahre der Türkei gekannt. Ein Aufwachsen in Armut prägte ihr junges Leben. Die Kinder gingen im Dorf auf die Grundschule und wurden von wenig motivierten Lehrer*innen unterrichtet. Der Unterricht bereitete sie nicht auf eine weiterführende Schule oder einen sozialen Aufstieg vor, sondern auf das Leben in einer von Landwirtshaft geprägten Dorfgemeinschaft und damit einhergehend auf traditionelle Geschlechterrollen. Heute ist das Schulgebäude eine Ruine und die wenigen Kinder, die im Dorf noch leben, werden mit dem Schulbus in die 11 km entfernte Stadt zur Schule gefahren.

Anfang der 70er Jahre zog meine Mutter mit ihren Geschwistern meiner Großmutter nach, die aufgrund des Anwerbeabkommens gemeinsam mit ihrem zweiten Ehemann nach Berlin kam. Trotz fehlender deutscher Sprachkenntnisse und Erfahrungen mit dem Bildungssystem erlangte meine Mutter ihren Hauptschulabschluss. Im Anschluss begann sie im Krankenhaus eine Ausbildung zur Altenpflegerin und brach relativ schnell wieder ab, weil sie den Geruch des Todes, wie sie sagt, ständig in der Nase hatte. Sie wechselte als Küchenhilfe in die Küche und hatte wenige Jahre später zusätzlich einen Minijob als Reinigungskraft.

Mein Bildungsweg unterscheidet sich fundamental von dem meiner Eltern. Ich bin hier in die Kita gegangen, besuchte die Grundschule, dann das Gymnasium, machte das Abitur und ging auf die Universität. Es stellte sich mir nie die Frage, ob ich einen Ausbildungsberuf erlernen sollte. Es war klar, ich würde studieren. Von außen betrachtet ähnelt mein Werdegang dem eines Akademikerkindes. Mit einem Unterschied: Ich war die Erste in unserer gesamten Familie (Familienmitglieder in der Türkei eingeschlossen), die studieren konnte. Gleichzeitig hat es sich nie wie ein Bildungsauftrag meiner Eltern angefühlt, bis heute nicht. Allerdings konnten mich weder meine Eltern noch andere in unserem Umfeld über das (duale) Studium, die Studienfächer oder die Berufsmöglichkeiten beraten. Nach dem Abitur habe ich mich hilflos gefühlt. Die feinen Unterschiede zwischen den sozialen Klassen oder Herkunftsmilieus, die Bourdieu trefflich beschrieben hat, habe ich sehr deutlich wahrgenommen. Es fehlte mir an kulturellem, sozialem und ökonomischem Kapital.

Heute bin ich eine erfolgreiche berufstätige Akademikerin und habe eine Tochter im Grundschulalter. Meine Mutter ist weiterhin als Küchenhilfe in einer Großküche tätig und hat zusätzlich einen Minijob als Reinigungskraft. Meine Großmutter ist schon lange in Rente und lebt in der Türkei. Anlässlich des Internationalen Tags der Frauen* und Arbeiterinnen* habe ich mich mit meiner Mutter über Anerkennung, Feminismus und sozialen Aufstieg unterhalten.

 

Tochter:

Du hast dein Leben lang sehr hart gearbeitet. Und ich erinnere mich, wie du mir sagtest, dass die Arbeit von Reinigungskräften genauso wichtig und wertvoll ist wie die von anderen Berufsgruppen.

Mutter:

Niemand möchte in vermüllten oder dreckigen Räumen arbeiten. Sauberkeit kommt an erster Stelle. Ich leiste mit meiner Arbeit einen wichtigen Beitrag für die Gesellschaft. Die Patient*innen im Krankenhaus benötigen neben medizinischer Versorgung auch hygienisch zubereitete, gesunde und schmackhafte Nahrung. Und die Corona-Pandemie hat sehr deutlich gezeigt, dass gerade die systemrelevanten Berufe diejenigen sind, die nicht entsprechend ihrer Relevanz vergütet werden. In der Regel sind es Frauen, die in diesen systemrelevanten Berufen arbeiten.

Tochter:

Der 8. März steht an. An diesem Tag werden, wie jedes Jahr, Frauen* auf die Straßen gehen und ihre Forderungen stellen. Was wünschst du dir anlässlich des Internationalen Tags der Frauen* und Arbeiter*innen?

Mutter:

Vor allem wünsche ich mir Gerechtigkeit und Gleichberechtigung. Diese Forderungen betreffen so viele Bereiche: Arbeitsmarkt, Politik, Soziales und Bildung. Ich wünsche mir gleiche Bezahlung für gleiche Arbeit sowie Karriereaufstiegschancen für Frauen. Im Parlament soll der Anteil von Männern und Frauen gleich sein, damit die Politik ihren Fokus mehr auf die Umsetzung von Frauenrechten legen kann. Ich wünsche mir, dass die Tätigkeit von Hausfrauen vergütet wird, denn auch sie leisten viel für die Gesellschaft. Frauen sollen effektiver vor Gewalt geschützt werden, es soll mehr Frauenhäuser geben, die Polizei soll schnell und unkompliziert Frauen helfen, die von Gewalt in der Partnerschaft betroffen sind – bevor sie dieser Gewalt zum Opfer fallen. Bildung ist wichtig, vor allem, um das Selbstvertrauen von Mädchen und jungen Frauen zu stärken.

Tochter:

Ich erinnere mich gut daran, wie sehr du dich für eine gute Bildung für mich eingesetzt hast.

Mutter:

Als du eingeschult wurdest, kamst du in eine „Ausländerklasse“. Die Klassenlehrerin meinte, dass sie montags gar keinen Unterricht machen könne, weil sich alle Kinder in ihrer Muttersprache unterhielten und nicht zu bändigen wären. Ich habe, zusammen mit anderen Müttern, versucht zu erreichen, dass die „Ausländerklassen“ aufgelöst werden. Aber der Schulleiter war ein Rassist und nicht umzustimmen. Ich gab nicht auf und erreichte, dass du zu Beginn der 4. Klasse in die „deutsche Klasse“ wechseln konntest. Ein Jahr später ging der Schulleiter in Pension und dann wurden auch die „Ausländerklassen“ aufgelöst und die Klassen neu zusammengestellt.

Tochter:

Ich weiß noch, wie mein Start in der „deutschen“ Klasse war. Ich habe mich verloren und einsam gefühlt. Meine ersten Rassismuserfahrungen, an die ich mich erinnern kann, habe ich in dieser Klasse gemacht. Die 5. und 6. Klasse habe ich dagegen sehr positiv in Erinnerung, ich bin gerne zur Schule gegangen, meine Noten waren gut. Das lag auch daran, dass die Klasse neu zusammengesetzt wurde, sie war viel heterogener als die Jahre zuvor. Weißt du noch, wie wir überlegten, ob ich aufs Gymnasium oder auf die Gesamtschule gehen soll? Wie sehr uns meine Klassenlehrerin mit ihrem Rat verunsichert hatte?

Mutter:

Deine Noten waren gut und deine Klassenlehrerin hatte dir eine Gymnasialempfehlung ausgestellt. Trotzdem meinte sie beim Elternabend, dass du lieber auf die Gesamtschule gehen solltest. Du würdest dem Druck auf dem Gymnasium nicht standhalten. Ich habe dann eine Studentin, die in den Semesterferien bei uns in der Küche arbeitete, um Rat gefragt, und sie meinte, du solltest auf jeden Fall aufs Gymnasium gehen.

Tochter:

Du selbst hattest nicht die Möglichkeit, einen hohen formalen Bildungsabschluss zu erreichen. Und später wolltest du keine berufsbegleitende Ausbildung zur Diätassistentin beginnen. Wie sind Feminismus und sozialer Aufstieg deiner Meinung nach miteinander verbunden?

Mutter:

Der soziale Aufstieg über den Bildungsweg ist mir nicht gelungen, das stimmt. Und ohne den Bildungsabschluss habe ich mich nicht getraut, eine berufsbegleitende Ausbildung anzufangen. Frauen wie ich, die sozial nicht aufsteigen konnten, wünschen sich, dass ihre Kinder in sozial anerkannte Positionen gelangen. Letztendlich erreichen sie über ihre Kinder Erfolg und sozialen  Aufstieg. So wie ich über dich.

Und der soziale Aufstieg kann natürlich besser gelingen, wenn juristische sowie soziale Ungerechtigkeiten zwischen Männern und Frauen minimiert werden. Das Patriarchat ist hinderlich für den sozialen Aufstieg von Frauen. Mehr kluge und starke Frauen sollten in allen Bereichen vertreten sein und mitreden.

Auch wenn ich nicht über einen formal hohen Bildungsabschluss aufsteigen konnte, habe ich es in den letzten Jahren geschafft, mehrere Gehaltserhöhungen auszuhandeln. Ich kämpfe um bessere Arbeitsbedingungen und eine bessere Bezahlung, auch wenn ich diesen Kampf nicht auf akademischer Ebene führe. Ich bin Feministin und Arbeiterin.

Tochter:

Spielt Feminismus in deinem Alltag eine Rolle?

Mutter:

Ja, natürlich. Die Forderungen der Frauen sind noch nicht erfüllt. Der Kampf geht weiter. Frauen werden weiterhin unterdrückt, den Männern werden immer noch mehr Rechte zuteil. Ich sehe das täglich bei mir auf der Arbeit. Die Frauen arbeiten in der Küche, verrichten schwere körperliche Arbeit und die Köche, d. h. die Männer, sitzen im Besprechungsraum und unterhalten sich mit der Begründung, Hilfstätigkeiten auszuführen wäre nicht ihr Job. Oder wenn eine Leitungsperson, in der Regel ein Mann, nach unten in die Küche kommt, grüßt er nur die Männer, also den Küchenchef und die Köche. An den Frauen läuft er schnurstracks vorbei. Es fällt den Leitungspersonen schwer, die Arbeit der Küchenhilfen anzuerkennen und sie zu grüßen. Diese Ungerechtigkeiten sehe ich jeden Tag auf der Arbeit. Und ich spreche diese und weitere Ungerechtigkeiten an, ich setze mich für Verbesserungen für die Küchenhilfen ein. Ich scheue mich auch nicht, den Betriebsrat zu kritisieren. Stell dir vor, der meinte, wir sollen uns über eine Tariferhöhung von 2,5 % freuen. Da meinte ich zu ihm, ob er denn wisse, wie viel Euro das im Monat bei unseren Gehältern macht und dass ich keinen Grund habe, mich über 2,5 % Gehaltserhöhung zu freuen. Bei einer Inflationsrate von über 10 %!

Tochter:

Du hast dich nie über deine körperlich schwere Arbeit beschwert. Im Gegenteil, bis heute gehst du gerne arbeiten, ich habe noch kein einziges Mal gehört, dass dir die Arbeit zu viel wäre. Hängt das vielleicht mit der Anerkennung, die du auf der Arbeit erfährst, zusammen?

Mutter:

Ich mache meine Arbeit gerne, sie ist wichtig und ja, auf der Arbeit werde ich anerkannt und geschätzt. Das liegt daran, dass ich meine Aufgaben sehr verantwortungsbewusst und verlässlich erledige und hilfsbereit bin. Wenn ich mich beispielsweise mit einer Bitte an meinen Vorgesetzten wende, dann versucht er, dieser nachzukommen. Trotz der Kritik, die ich hin und wieder an meinem Vorgesetzten oder dem Betriebsrat äußere, schätzen sie mich als Menschen und Kollegin sehr.

 

Das Gespräch mit meiner Mutter hat mir große Freude bereitet. Ihre Lebens- und Berufserfahrungen waren und sind für mich eine stete Erinnerung daran, dass die Forderungen der Arbeiterinnen* bei weitem noch nicht erfüllt sind und sie mehr Anerkennung und Wertschätzung verdienen. Genau diese Haltung versuche ich auch meiner Tochter zu vermitteln. Sie soll den Wert von Arbeit nicht nach der Vergütung bemessen, sondern nach gesellschaftlicher Relevanz. Und sie soll nicht vergessen, wer dieses Land nach dem 2. Weltkrieg mit aufgebaut hat, wer in den Fabriken die schweren und gesundheitsunverträglichen Arbeiten verrichtet hat.

Meinem Baba möchte ich an dieser Stelle auch danken. Er würde sich höchstwahrscheinlich nicht als Feministen bezeichnen, aber für mich ist er einer. Mein Baba kann sowohl kochen, putzen, fürsorglich und umsorgend sein als auch Gardinenstangen anbringen, Fahrräder reparieren, beim Armdrücken gewinnen und Schränke zusammenbauen. Und das Wichtigste: Er hat mich stets in allem unterstützt und mich nie in eine genderspezifische Rolle gedrängt, es gab für mich keine Grenzen dafür, was ein Mädchen tun sollte. Genau so mache ich es auch mit meiner Tochter.

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