Gutachten zum Neutralitätsgesetz: Rassistische Zuschreibungen sind keine Grundlage für die Debatte über das Neutralitätsgesetz
17. September 2019 | Diversität und Diskriminierung, Religion und Religiosität

ufuq.de kritisiert das vom Berliner Senat vorgestellte Rechtsgutachten zum Berliner Neutralitätsgesetz in zentralen Teilen als unwissenschaftlich und geprägt von rassistischen Zuschreibungen über „die Muslim*innen“. Unsere langjährige Arbeit an Berliner Schulen zeigt zudem, dass solche Zuschreibungen in vielen Schulkonflikten eine wesentlich größere Rolle spielen als die im Gutachten konstruierte „islamische Religionskultur“.

Die Berliner Bildungssenatorin Sandra Scheeres (SPD) hat am 5. September 2019 das Rechtsgutachten zum Berliner Neutralitätsgesetz (pdf) vorgestellt, das sie 2018 in Auftrag gegeben hatte. Das Rechtsgutachten sollte die Frage klären, ob das Neutralitätsgesetz mit dem Grundrecht auf Glaubensfreiheit (Art. 4 Grundgesetz) und dem Benachteiligungsverbot (§§ 7 ff Allgemeines Gleichbehandlungsgesetz) vereinbar ist. Anlass war unter anderem ein Gerichtsurteil, in dem Ende 2018 das Land Berlin dazu verpflichtet wurde, Schadensersatzzahlungen an eine Lehramtsbewerberin zu leisten, die von einer Schule wegen ihres Kopftuchs abgelehnt wurde – unter Verweis auf den Beschluss des Bundesverfassungsgerichts von 2015, demzufolge ein pauschales Kopftuchverbot für Lehrkräfte mit dem Grundgesetz nicht vereinbar ist.

Das Gutachten des Rechtswissenschaftlers Prof. Dr. Wolfgang Bock (Dozent an der Universität Gießen) konzentriert sich in seinem Hauptteil auf Darstellung und Diskussion von Gesetzeslagen sowie von bisherigen gerichtlichen Entscheidungen und ihren Grundrechtsabwägungen zwischen Religionsfreiheit und staatlicher Neutralität. Grundlage zentraler politischer Aussagen und Empfehlungen des Gutachtens ist aber ein von Prof. Bock selbst so genannter „Exkurs“ über „Elemente und Struktur der islamischen Religionskultur“. Hier erklärt der Jurist, kurz gesagt, warum Muslim*innen so seien, wie sie sind – und dass so viele von ihnen deshalb auch gar nicht anders könnten, als frauen- und demokratiefeindlich zu sein.

Ohne jeden Bezug auf aktuelle theologische Diskussionen und muslimische Intellektuelle – die beiden einzig von ihm namentlich angeführten Kronzeugen sind Vordenker der islamistischen Muslimbruderschaft – reiht Prof. Bock hier diverse Behauptungen über eine zeitlose „islamische Religionskultur“ aneinander. Ganz in fundamentalistischer Manier beschreibt er mit diesem Terminus ein autoritäres und patriarchales Islamverständnis, dessen Verbreitung er aus Umfragen in Staaten des Mittleren Ostens umstandslos auf alle „Muslim*innen“ dieser Welt hochrechnet – also zum Beispiel auch auf solche, die in dritter oder vierter Generation in Berlin leben. Was sich aber schon in der Wirklichkeit sogenannter „muslimischer“ Gesellschaften viel differenzierter darstellt, hat mit den in Berlin real existierenden Muslim*innen, ihren Religionsverständnissen, ihren Lebenswelten sowie einstellungs- und handlungsleitenden Erfahrungen noch weniger zu tun. Das zeigen eine Vielzahl aktueller Studien und Untersuchungen wie der Bertelsmann-Religionsmonitor oder die Studie „Vielfalt im Klassenzimmer“ des Sachverständigenrats deutscher Stiftungen für Integration und Migration von 2017, die Prof. Bock nicht zur Kenntnis nimmt.

Stattdessen greift er auf pauschale Zuschreibungen zurück und behauptet unter anderem, dass die Unterordnung von Frauen in Familie und Gesellschaft Teil der „islamischen Religionskultur“ sei, die Jungen und Männer dazu erziehe und verpflichte, dem „Grundgesetz widersprechende Forderungen nicht nur zu erheben, sondern auch durchzusetzen“ (S. 106 f). Solche Zuschreibungen sind in der Regel charakteristische Elemente rechtspopulistischer und rassistischer Diskurse. Hier dienen sie aber – nicht zu vergessen – als Grundlage der zentralen Schlussfolgerungen eines von öffentlichen Stellen in Auftrag gegebenen „Gutachtens“.

Damit sollen Konflikte in der Migrationsgesellschaft und an Berliner Schulen nicht weggeredet werden. Es geht aber darum, diesen Konflikten pädagogisch zu begegnen – und nicht darum, Kulturkämpfe zu führen. Genau diese fördert aber das Gutachten, wenn es eine „Religionskultur“ postuliert, in deren quasi natürlicher Konsequenz circa 30 Prozent der Muslim*innen – nicht zuletzt Jugendliche in Berliner Schulen – frauenfeindlich seien und eine „Islamisierung“ der Gesellschaft anstrebten (auch das ein Begriff aus dem Repertoire von Gegner*innen der Migrationsgesellschaft). Allein die Existenz von Lehrerinnen mit Kopftuch, so die anschließende Behauptung des Gutachtens, würde nämlich diese Jugendlichen gemäß ihrer „religionskulturellen“ Prägung dazu ermuntern, anderen Muslim*innen ihren Islam und damit zum Beispiel auch das Kopftuch aufzuzwingen. Damit führe das Kopftuch von Lehrerinnen – so schlicht verläuft die Argumentation – unweigerlich zur Störung des Schulfriedens, ein Verbot sei damit nicht nur rechtens, sondern in der Sache zwingend.

Als Menschen oder gar als praktisch in Schulen wirkende Lehrkräfte kommen Lehrerinnen mit Kopftuch in der von Prof. Bock vorgelegten Betrachtung nicht vor, sondern lediglich als Abziehbilder. Vor dem Hintergrund unserer Erfahrungen in vielen Berliner Schulen stellen wir daher eine Gegenbehauptung auf:

Lehrerinnen mit Kopftuch sind Lehrerinnen, das ist ihr Beruf, den haben sie wie alle anderen Lehrer*innen studiert und gelernt. Als solche werden sie sich selbstverständlich gegen jede Form von Mobbing, Zwang und gegebenenfalls auch Missionierung wenden. Eine Lehrerin mit Kopftuch, die also gegenüber „ihren“ Jugendlichen in der Klasse und auf dem Schulhof selbstverständlich dafür eintreten wird, dass Schülerinnen kein Kopftuch tragen müssen, wenn sie es nicht wollen, trägt maßgeblich dazu bei, dass es nicht mehr, sondern weniger „religionskulturelle“ Konflikte in der Schule geben wird. (Vgl. Aussagen von Berliner Schüler_innen zur Neutralität an Schulen und zum Kopftuch von Lehrer_innen.)

Bei ufuq.de arbeiten wir seit Jahren in Berlin und bundesweit sowohl mit Lehrkräften als auch mit Jugendlichen. Die „religiös-kulturellen Konflikte“, von denen hier die Rede ist, kennen wir. Oft sind sie auch der Anlass, dass Schulen unsere Präventionsprojekte nachfragen. Auf den zweiten Blick stellt sich dann heraus, dass es bei vielen Konflikten nur vordergründig um Kultur und Religion geht, vor allem aber um legitime Wünsche von Jugendlichen nach Anerkennung, Repräsentation und Teilhabe – selbst wenn sie diese manchmal ziemlich provokativ und mitunter auch in illegitimer Weise zum Ausdruck bringen.

Vor diesem Hintergrund kritisiert ufuq.de das Rechtsgutachten zum Berliner Neutralitätsgesetz in zentralen Teilen als unwissenschaftlich, populistisch und geprägt von rassistischen Zuschreibungen über „die Muslim*innen“. Unsere langjährige Arbeit an Berliner Schulen hat gezeigt, dass gerade solche Zuschreibungen in vielen Schulkonflikten eine wesentlich größere Rolle spielen als eine im Rechtsgutachten behauptete „islamische Religionskultur“.

Wir appellieren daher an den Berliner Senat, sich in der Entscheidung über die Zukunft des Neutralitätsgesetzes eindeutig von rassistischen und rechtspopulistischen Argumentationen abzugrenzen, die sich nicht dem Schulfrieden und der Suche nach pädagogischen Lösungen verpflichtet fühlen, sondern politisch-ideologische Kulturkämpfe anfeuern.

Die dazu veröffentlichte ufuq.de-Pressemitteilung finden Sie hier (pdf).

Ähnliche Beiträge
Weiterlesen
Ansprechpartner*innen
X
Skip to content