Glaube und Lokalpatriotismus – global-lokaler Islam in Hamburg
17. Juli 2017 | Diversität und Diskriminierung, Jugendkulturen und Soziale Medien, Religion und Religiosität

In der Studie der Islamwissenschaftlerin Laura Haddad sollte es eigentlich darum gehen, wie Muslim_innen ihren Glauben praktizieren und welches Selbstverständnis sie ausmacht. Dabei stellte Haddad fest: Dieser individualisierte Ansatz greift zu kurz, denn für viele Muslim_innen in Hamburg stellt die Stadt einen wichtigen Bezugsrahmen dar. Es gibt regelrechten Lokalpatriotismus und viele beschreiben auch den Islam und das Zusammenleben in Hamburg als etwas Besonderes. Haddad spricht daher von einem „Hamburger Islam“. Dieser wird wiederum nicht nur von den Muslim_innen, sondern auch von der Gesellschaft geprägt. Im Interview mit Julia Gerlach (ufuq.de) berichtet Haddad von ihrer Forschung und erklärt, welche Schlüsse sich für die pädagogische Praxis daraus ergeben.

Laura Haddad, ihr Buch „Anerkennung und Widerstand: Lokale islamische Identitätspraxis in Hamburg (Globaler lokaler Islam)“ ist gerade erschienen. Sie haben dafür ausgiebig Feldforschungen unter Muslim_innen in Hamburg betrieben. Worum geht es in ihrer Studie?

Ich interessiere mich besonders für die Verortung des Islams hier in Deutschland, aber mir ging es vor allem darum, wie sich einzelne Muslim_innen individuell zum dominanten Islamdiskurs positionieren. Ich wollte diese subjektive Herangehensweise und die Subjektivierungen und Identitätskonstruktionen von jungen Musliminnen und Muslimen in Deutschland genauer untersuchen. Zugleich habe ich mich schon immer für lokale Ausdrucksformen des Religiösen interessiert und hielt es für zu kurz gegriffen, nur die Mikroebene und die Position Einzelner zu untersuchen – gerade, wenn es darum geht, den sehr problemorientierten Islamdiskurs aufzubrechen. Klar ist, dass der Diskurs über den Islam ja nicht nur von den Muslim_innen geprägt wird, sondern auch von den anderen Akteuren der Gesellschaft. Ich wollte wissen, ob es neben dem sehr defizitorientierten öffentlichen Diskurs nicht auch positive Ansätze gibt. Auf lokaler Ebene habe ich solche Ansätze gefunden.

Sie gehen also davon aus, dass der Islam und der Diskurs über den Islam von Muslim_innen und Nicht-Muslim_innen gleichermaßen geprägt wird?

Genau, die getrennte Betrachtung der Muslim_innen und Nicht-Muslim_innen ist eine nicht sehr zeitgemäße Trennung, als ob die Muslim_innen nicht zur Gesellschaft gehörten. Als ich mit der Studie 2012 begann, wurde der Staatsvertrag zwischen dem Hamburger Senat und der Schura Hamburg unterschieben. Dieser ist ein gutes Beispiel dafür, wie der Islam hier institutionalisiert wird. Ich habe mich intensiv mit diesem Prozess und den Akteuren beschäftigt. Als zweites Fallbeispiel wählte ich einen islamischen Jugendclub hier auf der Veddel, das ist ein Viertel in Hamburg, das lange einen sehr schlechten Ruf hatte. Ich habe im Rahmen einer ethnographischen Studie jede Woche mit einer Jugendgruppe zusammengesessen, um zu sehen, was sie beschäftigt. Als drittes wählte ich die al-Nour Gemeinde aus, die zu der Zeit die ehemalige evangelische Kapernaun-Kirche erworben hat. Diese soll als Moschee genutzt werden und um den Umbau gibt es eine große Diskussion. Das Interessante hier war, dass es zunächst einen hitzigen Aufschrei gegen diese Umwidmung der Kirche gab. Auf lokaler Ebene kam es aber zu einer guten Diskussion und zu einem Aufeinanderzugehen von beiden Seiten. Diese drei Fallbeispiele spielen auf sehr unterschiedlichen Ebenen, aber sie zeigen alle, wie Muslim_innen aber auch die Gesellschaft insgesamt an dem Diskurs über den Islam mitwirken.

Sie sprechen in der Studie von einem Hamburger Islam. Was ist das?

Das ist natürlich ein Konstrukt, das ich aus den Positionierungen und Praktiken herauskristallisiert habe. Der Begriff ist eine Verkürzung und auch eine Provokation. Es heißt ja immer wieder, „der Islam ist so“ oder „die Muslime machen das so“. Dabei gibt es sehr viele Forschungen, dass es „den“ Islam nicht gibt. Das war auch zunächst meine Sichtweise und ich wollte die Vielfalt darstellen. Bei meiner Studie bin ich dann darauf gestoßen, dass sich die Leute sehr stark mit Hamburg identifizieren, dass es eine weltoffene Stadt ist und dass Hamburg in mancher Hinsicht eine Vorreiterrolle spielt, was die Institutionalisierung des Islams und das Zusammenleben der Religionen angeht. Darauf sind die Menschen stolz. Das ist sowohl bei Muslim_innen als auch bei den anderen so. Man kann also schon sagen, dass es einen spezifischen Hamburger Islam gibt. Dieser ist geprägt ist von den städtischen Logiken.

Ich kann mir gut vorstellen, dass sich der Hamburger Islam stark von dem Pariser Islam unterscheidet – und von dem in Ägypten sowieso. Aber gibt es auch einen Unterschied zwischen dem Hamburger Islam und dem Berliner Islam?

Ich würde schon sagen, dass es Unterschiede gibt, dass es in den Städten unterschiedliche Narrative gibt. Das lokale Zusammenleben ist ein Grund, miteinander zu kooperieren. Wie genau sich die Narrative unterscheiden, dazu kann ich nichts sagen, da ich dies nicht wissenschaftlich untersucht habe. Was den Hamburger Islam angeht, so ist er davon geprägt, dass in Hamburg die Zusammenarbeit und das Zusammenleben in der Stadt vergleichsweise gut funktioniert. Das mag auch damit zusammenhängen, dass es nach dem 11. September 2001 einen ziemlichen Schock gab. Bei der Polizei, aber auch bei den muslimischen Gemeinden. Beide mussten sich damit auseinandersetzen, dass sie nicht bemerkt hatten, dass es unter ihnen Attentäter gab. Zunächst führte dies zu großem Misstrauen. Bald entstand daraus allerdings eine Zusammenarbeit, und auch die Gemeinden sind recht stark zu dieser Kooperation bereit. Es gibt mehr Transparenz und es gibt den gemeinsamen Willen, dass so etwas nicht wieder passiert. Da machen nicht alle mit, aber viele – und typisch für die Mehrheit der Hamburger Muslim_innen ist, dass sie kooperationsbereit sind.

Anders herum kann man also schlussfolgern: Wenn die Rahmenbedingungen freundlich und positiv sind, bildet sich auch ein entsprechendes Selbstverständnis unter den Muslimen heraus?

Natürlich gibt es auch in Hamburg das Bestreben, den Islam zu regieren. Der Staatsvertrag ist ja ein Versuch, die Muslim_innen an das Grundgesetz zu binden. In meinen Fallstudien zeigt sich aber auch, dass Muslim_innen hier nicht nur Opfer sind, sondern auch Handelnde, die die Verhältnisse und Prozesse mitgestalten. Die Muslim_innen, mit denen ich hier zu tun hatte, sind sehr interessiert daran, mitzugestalten. Sie fühlen sich nicht hilflos, sondern aktiv.

Was heißt das zum Beispiel für den Umgang mit „dem“ Islam in der Schule? Wenn die Rahmenbedingungen das Islamverständnis von Muslim_innen prägen und damit das Zusammenleben beeinflussen, dann wäre es umso wichtiger, genau auf die religiöse Praxis der Einzelnen oder der Schüler_innenschaft der speziellen Schule zu schauen und nicht so sehr darauf, was man allgemein mit „dem Islam“ verbindet. Das könnte das Zusammenleben stark vereinfachen.

Man kann das Zugehörigkeitsgefühl der Muslim_innen zur Umma und auch die Identifizierung mit einem universellen Islam oder auch dem, was jetzt gerade in der islamischen Welt passiert, nicht völlig ignorieren. Es gehört für Muslim_innen dazu. Es macht aber Sinn, die Aufmerksamkeit gerade auch darauf zu lenken, was hier und jetzt passiert: Was können wir machen, damit wir besser miteinander leben? Was kann man gestalten und wie kann man sich beteiligen, auch wenn man nicht alles gut findet, was die Politik macht? Das war ein sehr spannendes Ergebnis. Das hat sich zum Beispiel auch in dem Jugendclub von Milli Görüs auf der Veddel herausgestellt. Hier gab es eine Kooperation mit einer jungen Hamburger Künstlerin, und es krachten Weltbilder aufeinander: Wie stelle ich mir mein Leben vor? Wie lebe ich als Frau? Das war sehr spannend. Auch mit mir stimmten die Jugendlichen nicht in allem übereinstimmten. Zugleich hatten wir aber viele Überschneidungspunkte und punktuell einfach sehr viele Gemeinsamkeiten. Diese hervorzuheben ist sehr viel konstruktiver und zielführender, als den großen Wertekonflikt in den Vordergrund zu stellen.

Geht es also vor allem darum, Gemeinsamkeiten zu suchen, statt bei Konflikten zu überlegen, was das mit dem Koran zu tun hat?

Ja, denn selbst wenn etwas im Koran steht, bedeutet es noch lange nicht, dass wir es auch genauso machen sollen. Und selbst wenn es Menschen gibt, die es genauso machen, kann man trotzdem fragen: Was meinst Du dazu? Wie willst Du das leben?

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