Mit Computerspielen Demokratie fördern? Erfahrungen aus dem Projekt „Call of Prev“
11. Oktober 2023 | Demokratie und Partizipation, Jugendkulturen und Soziale Medien, Radikalisierung und Prävention

Screenshot Call of Prevention

Gaming bildet einen festen Bestandteil der heutigen Jugendkultur, stößt bei Erwachsenen jedoch häufig auf Vorbehalte. Dabei eignen sich Computerspiele gut, um Jugendliche auch für politische Themen zu interessieren und eröffnen der politischen Bildung damit neue Wege. Wie das gehen kann, zeigt der Verein cultures interactive mit seinem Projekt „Call of Prev“.

Computer spielen, kurz: Gaming, stellt für viele Jugendliche einen wesentlichen Bestandteil ihrer Freizeit dar. Erwachsene begegnen Gaming dagegen nicht immer mit hoher Wertschätzung. Oft betrachten sie es als Zeitverschwendung, unkreativ oder sogar als potenziell schädlich. Die Integration von Spielen in Workshops kann allerdings die Attraktivität für Jugendliche erhöhen und bietet darüber hinaus neue Ansätze für die politische Bildung.

Gaming und Computerspiele als Faktoren in Hinwendungsprozessen zu extremistischen Szenen sind in den letzten zehn Jahren ins Zentrum der Aufmerksamkeit gerückt. Sowohl für das Phänomen des Rechtsextremismus (vgl. u. a. Baeck/Speit 2020; Huang/Prinz 2021) als auch für den islamisch begründeten Extremismus (vgl. u. a. Al-Rawi 2016; Dauber et al. 2019; Lakomy 2019; Schlegel 2020: Rauscher 2020) wurde dies umfangreich wissenschaftlich erforscht. Die Nutzung von Gaming durch extremistische Akteure legt es nahe, Gaming-Formate auch für die politische Bildung und die Extremismusprävention zu entwickeln.

Spiele – insbesondere Computerspiele – bieten enorme Potenziale, die Gunst der Jugendlichen zu gewinnen. Genau diese machen sich auch Extremist*innen zunutze, wenn sie Gamification einsetzen, um Jugendliche anzusprechen, ihre Ideologie attraktiv zu verpacken und auf psychologische Bedürfnisse zu reagieren (vgl. Schlegel 2020; 2021).

Was aber bringt Gamification und/oder der Einsatz von Computerspielen in der politischen Bildung? Gut konzipierte Spiele können die Selbstwirksamkeit, die eigene Kompetenz, Autonomie, aber auch – je nach Spiel – das Gefühl der sozialen Verbundenheit mit den Mitspielenden steigern. Zudem können Aktivitäten des Gaming die Aufmerksamkeit erhöhen, weil das Gelernte mit den Gefühlen von Spaß, Aufregung und Unterhaltung verbunden wird (vgl. Schlegel 2020). Darüber hinaus können pädagogisch sorgsam aufgebaute Spiele demokratiefördernde, prosoziale bzw. extremismuspräventive Wirkungen entfalten.

Verantwortung spielerisch lernen

Das von Cultures Interactive entwickelte Spiel „Adamara: Harsh Waters“ ist in einer postapokalyptischen Welt auf der fiktiven Schiffsstadt Adamara angesiedelt: Die ganze Welt steht unter Wasser, es ist nicht klar, ob es noch irgendwo Land gibt. Die Bewohner*innen der Stadt sind angesichts dieser Frage gespalten und haben sich einer von zwei konkurrierenden Gangs angeschlossen: den „Wind Chaser“ und „Silver Anchors“. Während die „Wind Chaser“ alle Menschen zu dem Abenteuer der Suche nach neuem Land animieren wollen, halten die „Silver Anchors“ dieses Ansinnen für wahnsinnig und propagieren, man solle zuhause bleiben und das Beste aus der Situation machen. Die Gangs stehen miteinander im ständigen Konflikt und unterstellen sich wechselseitig üble Absichten. Dieser Gangkonflikt und die sich daraus ergebende Polarisierung zieht sich durch alle Milieus der Wasserstadt, egal ob arm oder reich.

Der*die Spieler*in erfährt im Laufe des Spiels mehr über die politischen Zusammenhänge und Konfliktlinien in der Stadt, wobei sich auch für die Jugendlichen spannende Fragen stellen: Welche Gang vertritt meine Interessen am ehesten? Was will eigentlich die Strommagnatin Anita? Soll ich mich in die Beziehung von Bekannten einmischen? Möchte das Mädchen, das angeblich entführt wurde, am Ende gar nicht wieder nach Hause?

Das bietet in der gemeinsamen Auswertung viele Gesprächsanlässe und Raum für persönlichen Austausch. Deshalb sind die anschließenden Gespräche, in denen die Jugendlichen in vertraulicher Runde, offline, ihre Spielerfahrung – und auch die damit korrespondierende Lebenserfahrung – teilen, aus pädagogischer Sicht von großer Bedeutung.

Allerdings war das Feedback der Jugendlichen auf das Spiel durchaus gemischt: Mit fortschreitender Spielentwicklung wurde die Bedienung für die Spieler*innen immer einfacher, gleichwohl deckt sich das Spiel, das sich an RPGs (also Rollenspielen) orientiert, nicht immer mit den Spielgewohnheiten der Jugendlichen. Große Begeisterung unter den Jugendlichen löste hingegen die Arbeit am Editor, also dem Programm zur Erstellung und Bearbeitung von Games aus, die den Hauptteil des für ursprünglich fünf Tage konzipierten Workshops einnahm.

Jugendliche möchten selbst gestalten

Die Ursprungsidee des Projekts war, dass die von den jugendlichen Teilnehmenden der Workshops entwickelten Quests ins Spiel implementiert werden würden. Dadurch wären sie auch für andere Jugendliche in darauffolgenden Workshops spielbar gewesen. Die Idee war gut  –  allerdings zeigten die Teilnehmenden in den „Call of Prev“-Workshops von Anfang an wenig Interesse, eine bereits bestehende Spielwelt zu ergänzen. Fasziniert waren sie vor allem von der Möglichkeit, mittels Karten- und Aktionseditor ganz neue Spielwelten zu gestalten, indem sie eigene Charaktere entwarfen (character design), Welten bauten (game design) und selbst ausgedachte Geschichten umsetzten (storytelling).

Hier offenbarte sich in der Praxiserprobung das große Potenzial von Gaming für die politische Bildung und Präventionsarbeit: Das Workshop-Format ermöglicht es den Jugendlichen, sich mit den für sie spannenden Aspekten im Zusammenhang mit dem Spiel  zu beschäftigen. Die Aufteilung zwischen storytelling, game design und character design bietet ihnen die Möglichkeit, nach eigenen Stärken und Interessen zu wählen und sich intensiver mit der jeweiligen Gestaltung zu befassen. Damit wird auch die Kreativität gefördert.

Für pädagogische Fachkräfte sowie politische Bildner*innen kann der Einsatz von Spielen hilfreich sein, um die Jugendlichen besser zu verstehen. So machen die Karten und Quests deutlich, was die Jugendlichen beschäftigt: Das können Quests sein, in denen es vor allem darum geht, zu kämpfen oder sich in ausgefeilten Dialogen gegenseitig zu provozieren, oder auch solche, in denen Probleme, Wertvorstellungen oder Weltbilder der Teilnehmenden sichtbar und besprechbar werden – etwa die Auseinandersetzung mit Queerfeindlichkeit oder Rassismus in der sozialen Umgebung. Gerade im Kontakt mit eher verschlossenen Jugendlichen kann das Türen eröffnen: Auch wenn sie sich nicht in Gruppendiskussionen einbringen, machen sie über die Gestaltung von Karten und Quests deutlich, was sie bewegt und was ihnen wichtig ist.

Darüber hinaus bietet sich die Arbeit mit dem Editor auch als Selbstwirksamkeitserfahrung an: Mehrfach berichteten Jugendliche in Workshops erstaunt und begeistert von ihren Erfolgen – und sie erhielten auch von uns das entsprechende Feedback.

Und nicht zuletzt lassen sich anhand der Quests – ob im Einzelgespräch, Kleingruppengespräch oder einer Diskussion in der ganzen Gruppe – auch gesellschaftspolitische Fragen ansprechen und Handlungsoptionen diskutieren. Ein wesentliches Merkmal von Spielen ist die Möglichkeit, relevante Entscheidungen zu treffen und dabei unbewusst Erfahrungen zu bearbeiten: Welchen Weg gehe ich entlang? Welche Antwortoption wähle ich? Möchte ich mich eher durch das Spiel kämpfen oder versuche ich, andere mit Worten zu überzeugen? So ergeben sich Diskussionen und Lernanlässe nicht nur aus den entwickelten Geschichten und Dialogen, sondern auch aus dem eingesetzten Gameplay, also der Interaktion mit dem Spiel und der optischen Gestaltung der Spielwelt.

Literatur

Baeck, J.-P. & Speit, A. (2020): Rechte Egoshooter – Von der virtuellen Hetze zum Livestream-Attentat, Berlin.

Dauber, C. E., et al. (2019). Call of Duty: Jihad – How the Video Game Motif has Migrated Downstream from Islamic State Propaganda Videos. Perspectives on Terrorism, 13(3), 17–31.

Lakomy, M. (2019): Let’s Play a Video Game: Jihadi Propaganda in the World of Electronic Entertainment. Studies in Conflict and Terrorism, 42, 4.

Rauscher, A. (2020): Playing Propaganda. Die Games-Appropriationen des IS. In: Zywietz, B.: Propaganda des „Islamischen Staats“. Formen und Formate. Springer VS.

Schlegel, L. (2020): Jumanji Extremism? How games and gamification could facilitate radicalization processes. Journal for Deradicalization, 23, 1- 44.

Schlegel, L. (2021): Connecting, Competing, and Trolling: “User Types” in Digital Gamified Radicalization Processe. Perspectives on Terrorism, 15 (4).

 

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