Nicht erst seit wenigen Jahren besuchen Menschen mit Flucht- und Verfolgungserfahrung NS-Gedenkstätten in Deutschland. Sie bereichern mit ihren Erfahrungen die Erinnerungsarbeit dort. Daniel Gaede, der lange für die Gedenkstätte Buchenwald tätig war, liefert einen kurzen Befund mit Ausblick für die pädagogisch Verantwortlichen (nicht nur) in Gedenkstätten.
Der Eindruck, dass erst seit 2016 Menschen mit eigenen Flucht- und Gewalterfahrungen in deutsche Gedenkstätten kämen und besonders betreut werden müssten, täuscht beträchtlich, wie die folgenden Beispiele aus der Gedenkstätte Buchenwald zeigen: Ende der 90er-Jahre kommt eine Gruppe von chilenischen Lehrerinnen und Lehrern für einige Monate nach Deutschland, um das hiesige Bildungssystem intensiv kennenzulernen und dann neue Ideen für die eigene Praxis zu entwickeln. Im Rahmen von Hospitationen in Schulen und Bildungseinrichtungen sind sie auch für zwei Tage in der Gedenkstätte Buchenwald; die Auseinandersetzung mit dem Konzentrationslager (1937-1945) sowie dem sowjetischen Internierungslager für Deutsche, die unter dem Verdacht der Beteiligung an den NS-Verbrechen zwischen 1945 und 1950 in Buchenwald festgehalten wurden, löst eine Diskussion aus, in der die Gäste sehr intensiv und emotional aufgewühlt bald ihre eigene Lage in Chile thematisieren. Ihre Fragen lauten: Was haben wir selbst, unsere Freunde und Familien mit der Pinochet-Diktatur nach dem 11. September 1973 erlebt? Wie sollen wir darüber unterrichten, ohne alte Gräben neu aufzureißen? Wie können wir darüber sprechen, dass wir politisch in völlig unterschiedlichen Lagern zu Hause sind? Und wie kommt es, dass wir erst so weit reisen mussten, um überhaupt miteinander ins Gespräch über uns selbst zu kommen?
Nach der „Arabellion“ lädt der Deutsche Bundestag Stipendiaten aus Tunesien, Marokko, Ägypten und dem Libanon nach Berlin ein. Sie sollen bei einzelnen Abgeordneten hospitieren und erfahren, wie dieses Parlament funktioniert. Zum Umgang mit der NS-Geschichte und den Folgen sollen sie für 24 Stunden in der Gedenkstätte Buchenwald erleben, wie hier komplexe Geschichte über Biografien vermittelt wird. „Warum müssen wir uns mit diesen Toten von damals beschäftigen – angesichts der gegenwärtig tobenden Konflikte in unseren Ländern?“, will ein Teilnehmer gleich zu Beginn wissen. Mit seinem Einverständnis wird die Beantwortung der Frage ans Ende des Programms verschoben. Alle Teilnehmenden verstehen sehr gut Deutsch und erhalten zunächst Lagerdokumente über Menschen aus ihren Herkunftsländern, die von Nationalsozialisten meist aus Frankreich bis nach Buchenwald verschleppt und hier ermordet wurden.
Die NS-Zeit ist nicht nur europäische Geschichte
Die Verzahnung von NS- und Kolonialgeschichte wird an diesen Schicksalen direkt ablesbar, und es wird für alle deutlich, dass es hier um mehr als allein europäische Geschichte oder deutsch-israelische Bezüge geht, die vom Holocaust beeinflusst werden. Abends fragt mich ein Teilnehmer, Muslim aus Ägypten, ob er mit seinem Freund, einem maronitischen Christen aus dem Libanon, noch an der Gedenkplatte für die Opfer des Konzentrationslagers beten und singen dürfe. Ich bejahe, begleite beide; weitere aus der Gruppe schließen sich an. Am Ende des Programms sind sich die Teilnehmenden einig, dass die Fahrt von Berlin nach Buchenwald doch sinnvoll war: Sie haben über die vorgestellten Biografien einen eigenen Zugang zu dieser Geschichte gefunden. Ein Teilnehmer aus Marokko wäre am liebsten gleich geblieben, um weiter zu recherchieren – möglicherweise kommt er in diesem Sommer für einige Monate in die Gedenkstätte.
Studierende der Sozialen Arbeit aus Frankfurt/Main und Haifa kommen 2016 für ein Tagesprogramm in die Gedenkstätte: Es geht neben der Ortsgeschichte auch sehr um die eigenen Bezüge und Identitäten. „Sprechen Sie uns nicht als ,israelische Gruppe‘ an“, meint eine Teilnehmerin, „sagen Sie einfach ,Studierende der Sozialarbeit aus Haifa‘.“ Jüdische Teilnehmende aus Israel schmerzt diese Abgrenzung, doch für diese israelische Palästinenserin ist es essenziell, sich über die Ziele der gemeinsam angestrebten Profession und nicht über den Pass definieren zu lassen. Im selben Jahr möchten die Betreuer einer Gruppe geflüchteter afghanischer Jugendlicher ihren Schützlingen vermitteln, was sie selbst als Jugendliche zu DDR-Zeiten in der Nationalen Mahn- und Gedenkstätte an prägenden Erfahrungen gemacht haben.
Auf Nachfrage kommt heraus, dass sie eher wenig über die traumatisierenden Fluchterfahrungen ihrer Schützlinge wissen, denn trotz persönlicher Sympathien ist ein sprachlich differenzierter Dialog zwischen Betreuern und Betreuten bislang unmöglich. So überrascht es nicht, dass die Jungen eher verhalten auf die Geschichte Buchenwalds reagieren, dafür aber die Dolmetscherin (wie die jungen Flüchtlinge aus Afghanistan, aber schon länger in Deutschland lebend) am liebsten gleich als Tante adoptiert hätten und Telefonnummern austauschen. Diese Begegnung mit einem Menschen, der mit ihrem Herkunftsland und ihrer Sprache vertraut ist, war am Ende bedeutsamer als die Gedenkstätte, die bestenfalls als Resonanzboden für ihre Auseinandersetzung mit Gewalterfahrungen diente.
Alle geschilderten Begegnungen in Buchenwald stellen offensichtlich einige Anforderungen an die für Betreuungsprogramme Verantwortlichen, was das Wissen nicht nur über den Ort, sondern auch über die Gäste angeht. Die Beispiele zeigen auch, dass die Auseinandersetzung mit Gewalterfahrungen in den Herkunftsländern keineswegs eine neue Aufgabe darstellt, die erst mit der Ankunft von Geflüchteten aus Syrien, Afghanistan, dem Irak oder Nordafrika aufgetaucht wäre. Daher sind auch keine neuen methodischen Ansätze zu entwickeln, wenn Adressatenorientierung und die auch in der Pädagogik geforderte Inklusion bereits ernst genommen werden. Aus dieser Perspektive ergibt sich für jede zu betreuende Gruppe die Notwendigkeit, die jeweiligen Erfahrungen, Interessen, Aneignungsformen und Motive der Gruppenmitglieder als Ausgangspunkte der Programmgestaltung zu nehmen.
Deutschland ist von Migration geprägt
Deutschland mit seinen permanent verschobenen Grenzen ist seit Jahrzehnten kein Land mit stabiler, nach außen klar abgegrenzter Bevölkerung. Stattdessen ist das Land geprägt von Auswanderungs- und Einwanderungswellen, von denen die jüngste gar nicht die größte ist. Deutschland heute ist eher von Fluktuation geprägt; allein in den Jahren von 1991 bis 2013 sind mehr als 21 Millionen Menschen ein- und rund 15,9 Millionen ausgewandert. (Vgl. den Migrationsbericht 2013 des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge, S. 11f.)
Obwohl zu diesen Migrant_innen Millionen von Menschen aus der Türkei zählen, die inzwischen mit hier geborenen Kindern und Enkeln in Deutschland wohnen und einen Großteil der hier lebenden Muslim_innen ausmachen, hat die Auseinandersetzung mit islamischen Glaubensvorstellungen erst in den letzten Jahren deutlich zugenommen, allerdings oft verbunden mit negativem Vorzeichen, Angst und offener Ablehnung.
Wir wissen noch zu wenig übereinander
Über die religiösen, sozialen, kulturellen und politischen Hintergründe vieler Flüchtlinge wissen nicht nur die Mitarbeitenden in Gedenkstätten viel zu wenig. Und umgekehrt ist auch der Zugang von Menschen aus diesen Ländern zu hiesigen Debatten und Auseinandersetzungen mit der NS-Vergangenheit allein schon sprachlich blockiert: Informationen auf den Internet-Seiten der Gedenkstätten in Arabisch, Farsi, Türkisch oder afrikanischen Sprachen sind kaum vorhanden – wieweit verlässliche Informationen in diesen Sprachen im Internet überhaupt zu finden sind, wäre eine lohnende Recherche.
Auch die Forschung über das Schicksal von Menschen, die aus dem Nahen und Mittleren Osten oder aus Nordafrika stammten und in die NS-Lager verschleppt wurden, ist bislang nicht gründlich betrieben worden. Diese Defizite sollten prioritär angegangen werden. Denn als Bindeglied zwischen den in Gedenkstätten behandelten Geschichten und der Historie der Herkunftsländer können solche Biografien konkrete, differenzierte Zugänge liefern, die es ermöglichen, die Themen Nationalsozialismus, Rassismus, Krieg in Europa und Shoah mit der orientalisch-afrikanischen Geschichte zu verknüpfen.
Von dort gesehen ist Europa eher mit der Kolonialgeschichte, den zum Teil verheerenden Folgen der ökonomischen und militärischen Politik des Westens im Nahen und Mittleren Osten und insbesondere mit dem Dauerkonflikt Israel-Palästina verknüpft. All diese Erfahrungen lassen den – zumindest bis vor Kurzem noch betonten – Bezug europäischer und amerikanischer Politiker auf das Respektieren der Menschenwürde und der Menschenrechte leicht als zynische Verbrämung reiner Machtinteressen erscheinen. (Aktuell wird selbst dieser Anspruch zunehmend aufgegeben, nicht nur vom neuen amerikanischen Präsidenten.)
Während die Geschichte der Shoah zeitlich durch den Kampf gegen den historisch tradierten und bis heute existenten (und, nebenbei, aus Europa stammenden) Antisemitismus und räumlich durch die weltweite Präsenz von nicht nur jüdischen Überlebenden und der Diaspora universale Bedeutung erlangt hat, ist es schwierig, die historischen und aktuellen Bezüge zwischen der arabisch-islamischen Welt und den Ländern des Westens differenziert und zugleich konstruktiv zu beschreiben. Dies gilt nicht erst seit Huntingtons Thesen zum „Clash of Civilizations“, doch besonders seit dem 11. September 2001 und den nun unablässig gepflegten Antagonismen vom „freien Westen“ und vom „gewalttätigen, rückständigen Islam“, die nicht nur Kriege in Afghanistan und dem Irak, sondern auch massive Einschränkungen von Freiheiten zugunsten der „nationalen Sicherheit“ in den westlichen Staaten zur Folge hatten.
Integration und Arbeitsmöglichkeiten, Einbürgerung und politische Teilhabe vermitteln mehr an demokratischen Werten als jeder Gedenkstättenbesuch
Erst in dieser weiten Perspektive wird verständlich, warum eine Demokratieerziehung für Flüchtlinge unter Zuhilfenahme der NS-Geschichte und entsprechend gestalteter Gedenkstättenbesuche (freundlich formuliert) ignorant und selbstbezogen, wenn nicht (härter gesagt) zynisch ist: Sie nimmt die Umbrüche in den Herkunftsländern und damit die Fluchtgründe genauso wenig ernst wie die mangelnde Integration von Migrant_innen oder die Bedrohung der Geflüchteten in Deutschland durch rechtlich unsicheren Status, hochgespülte Ressentiments und gewalttätige Übergriffe. Als Erstes nehmen hier angekommene Menschen wahr, wie sie registriert, kategorisiert und sehr unterschiedlich behandelt werden – wenn formale Abläufe in dieser Demokratie monatelanges Warten in Ungewissheit zur Folge haben, muss man sich nicht wundern, dass einige lieber in die Kriegsgebiete zurückkehren wollen, als hier weiter gedemütigt zu werden.
Gelingende Integration und Aufnahme mit Wohn-, Lern- und Arbeitsmöglichkeiten sowie einer Chance auf Einbürgerung und damit politischer Teilhabe vermitteln mehr an demokratischen Werten als jeder Gedenkstättenbesuch. Viel eher sind da die Diskussionen um „sichere Herkunftsländer“, Familiennachzug und laufende Abschiebungen der Lackmustest, wieweit diese Gesellschaft ihre Lektionen aus der NS-Zeit gelernt hat, und entscheidend für die Frage, wieweit Angekommene hier Sicherheit finden und Werte dieser demokratischen Gesellschaftsordnung übernehmen.
Im Übrigen geht in Europa nach aller bisheriger Erfahrung weniger eine Gefahr von Flüchtlingen aus als von rechtsextremistischen oder islamistischen Gewalttäter_innen, die meist selbst in westlichen Gesellschaften aufgewachsen sind. Und deren Gewalttätigkeit verweist eher auf mangelnde gesellschaftliche Integration als auf fehlendes Geschichtswissen oder zu wenig Bildung. Zudem sind die meisten Opfer von islamistisch begründeten Gewalttaten selbst Muslim_innen und lebten außerhalb Europas; sie werden hier nur nicht wahrgenommen.
Und nicht zufällig erfahren die hierher Geflüchteten gerade von jenen ehrenamtliche Hilfe, die selbst Fluchterfahrungen gemacht haben oder aus dem persönlichen Umfeld kennen oder sich bereits länger kritisch mit den globalen Folgen westlicher Wirtschafts-, Sozial-, Umwelt- und Sicherheitspolitik befassen: Sie sehen in den Geflüchteten nicht Repräsentant_innen des arabischen Antisemitismus oder fanatische Islamist_innen, sondern Flüchtlinge vor unerträglichen Lebensbedingungen, die hier suchen, was vorgeblich für alle vorhanden ist: die Anerkennung ihrer Menschenwürde und ihrer Menschenrechte.
Wird sie versagt, sind Enttäuschung, Angst, Verzweiflung, Wut und bei manchen auch Gewalt (gegen sich selbst und/oder andere) mögliche Konsequenzen. Insofern ist weiterhin die möglichst frühzeitige Zuwendung und Unterstützung das beste Mittel gegen Fanatismus und populistische Vereinfachung – auch wenn es nicht bei allen hilft. Ideologien, mit denen brutale Gewalt legitimiert und Täter_innen zu Held_innen stilisiert werden, kennen wir aus der Analyse (nicht nur) des Nationalsozialismus, der neuen Rechten und populistischer Parteien, die wie alle Fanatiker_innen gern mit Ängsten, Unterstellungen und Provokationen arbeiten.
Umgang mit eigenem und fremdem Leid
Mit Leiderfahrungen sinnvoll und hilfreich umzugehen, ist gerade an Orten, an denen zunächst die Spuren systematischer Verbrechen zu sehen sind, für Betroffene nur sehr begrenzt zu leisten. So gesehen sollten Projekte und Initiativen von Gedenkstätten zunächst darauf ausgerichtet sein, „unbelastete“ Gedenkstättenbesucher_innen über die hinter den Verbrechen stehenden Wertvorstellungen sowie Mechanismen von Aus- und Eingrenzung in der NS-Gesellschaft aufzuklären und dann darin zu bestärken, ähnlichen Praktiken heute entgegenzuwirken. Überlebende der Lager brauchen ebenso wie Geflüchtete, die zunächst mit eigenen Traumata umgehen müssen, erst einmal sicheren Grund unter den Füßen, bevor sie mit genügend emotionaler Distanz Gedenkstätten abstrahierend wahrnehmen und als Lernchance begreifen können.
Doch welche Wege gibt es, mit diesen einschneidenden Erfahrungen zurechtzukommen? Die in den Gedenkstätten seit vielen Jahren existierenden Kontakte zu Überlebenden sowie intensive Forschungen haben dazu geführt, die unterschiedlichen Umgangsweisen mit traumatischen Erfahrungen genauer beschreiben zu können. Neben
- der Verdrängung aus dem Wunsch, ein unbelastetes neues Leben beginnen zu können,
- dem Verlust jeglichen Vertrauens in andere oder der völligen Zerstörung einer bereits vorhandenen Weltsicht,
- der Integration der Erlebnisse in ein bereits bestehendes (ideologisches, religiöses) Weltbild,
- dem Versuch, diese Erfahrungen wissenschaftlich oder künstlerisch zu durchschauen und zu vermitteln,
- der Idee, dass man vor nichts mehr Angst haben müsse, nachdem man selbst die Lager überlebt hat (Resilienz) und
- dem Bestreben, durch eigenes politisches Engagement zur Realisierung der Menschenrechte und entsprechender politischer Ordnungen und Gesellschaften beizutragen,
gibt es vielleicht noch weitere Möglichkeiten, wie individuell, von Gruppen, Gesellschaften und Staaten mit eigenem und fremdem Leid hilfreich umgegangen werden kann. Längst existiert ein weltweiter Austausch von Akteur_innen, die sich meist über nichtstaatliche Organisationen engagieren und feststellen, dass es trotz vieler kultureller Unterschiede eine sehr große gemeinsame Hoffnung auf Wahrnehmung, Anerkennung und Gerechtigkeit gibt und den Wunsch, das angeblich „Unsagbare“ doch in Worte zu fassen und anzunehmen (vgl. z. B. Carolin Emckes Essay „Weil es sagbar ist„). So gesehen ergeben sich eine ganze Reihe von Bezügen, in denen Gedenkstätten und die dort Tätigen eine wichtige Stimme im Konzert der weiteren Beteiligten haben, am eigenen Ort, in der eigenen Kommune und darüber hinaus. Es sind Wege, auf denen alle Beteiligten Begegnungen erleben können, die – bei aller Schwere – eher bereichernd und zukunftsweisend als belastend sind.
Dieser Beitrag erschien zuerst 2017 in der Publikation Discover Diversity (pdf) der Kreuzberger Initiative gegen Antisemitismus (KIgA). Wir danken dem Autor und den Herausgeber_innen für die Erlaubnis, den Beitrag hier zu veröffentlichen.