Auf den Kontext kommt es an: Fanatismus als Symptom eines gestörten sozialen Systems
9. Oktober 2016 | Radikalisierung und Prävention

Symbolbild; Bild: ufuq.de

Wie werden Menschen zu Radikalen? Welche Rolle spielt Ideologie? Wieviel Einfluss hat die Familie? Wieviel die Schule? Welche Auswirkungen hat die gesellschaftliche Debatte und welchen Einfluss hat Politik? Michael Gerland ist Sozialpädagoge und arbeitet seit vielen Jahren in der systemischen Therapie, macht Familien- und Bindungsberatung. Diese systemische Herangehensweise verfolgt er auch bei der Analyse von Radikalisierungsprozessen: Er betrachtet die Menschen in ihren sozialen Systemen. Klar zeigen sich hier Parallelen zwischen dem Phänomen der Sekten in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts und Radikalisierungsprozessen von Konvertiten zum Islam. Es gibt viele Ähnlichkeiten, die es zu erkennen gilt, um Fanatismus vorzubeugen.

Sigmund Freud gab seinerzeit bereits den für uns interessanten Hinweis, „…dass es nicht in unserem Plan liegt zum Wahrheitswert religiöser Lehren Stellung zu nehmen. Es genügt uns, sie in ihrer psychologischen Natur als Illusionen erkannt zu haben. Für die Illusion bleibt charakteristisch“ so Freud weiter, „die Ableitung aus menschlichen Wün­schen… Wir heißen also dann einen Glauben Illusion, wenn sich in seiner Motivierung die Wunscherfüllung vordrängt.“ [1] Kein ernsthaft religiöser Mensch würde behaupten, dass die Ausübung einer Religion ein Wunschkonzert sei. In unserer Beratungspraxis spielen die Wünsche, die die Betroffenen Individuen jeweils mit ihrem religiösen Weltbild verknüpfen, hingegen eine zentrale Rolle.

Der US-amerikanische diagnostische und statistische Leitfaden psychischer Störungen (DSM 4) stellte 1996 unter der Kategorie „Religiöses oder spirituelles Problem“ eine psychiatrische Diagnosemöglichkeit unseres Phänomens zur Verfügung. Dort heißt es u.a.: „Diese Kategorie kann verwendet werden, wenn im Vordergrund der klinischen Aufmerksamkeit ein religiöses oder spirituelles Problem steht. Beispiele sind belastende Erfahrungen, die den Verlust oder das Infragestellen von Glaubensvorstellungen nach sich ziehen, Probleme im Zusammenhang mit der Konvertierung zu einem anderen Glauben oder das Infragestellen spiritueller Werte, auch unabhängig von einer organi­sierten Kirche oder religiösen Institution“. [2]

Parallelen zur Diskussion um radikale Sekten ab 1960er Jahren

Der Aufnahme dieser Kategorie in den DSM 4 ging ein zäher wissenschaftlicher Diskurs voraus, der sich entzündet hatte an einer zugespitzten öffentlichen Auseinandersetzung in den USA um den Umgang mit sog. Jugendsekten. Diese Auseinandersetzung nahm ihren Anfang bereits in den 1960er Jahren. Geprägt durch Gewalttaten diverser destruktiver Kulte wie der sog. Manson-Family, Jim Jones Peoples Tempel, den Bransch Davidians etc., erreichte sie ab Mitte der 1970er Jahre einen ersten Höhepunkt und zog sich bis in die 1990Jahre hin. Es mangelte an einer befriedigenden Erklärung, wie es dazu kommen konnte, dass insbesondere junge Menschen aus modernen Industrie­gesellschaften sich diesen Gruppen unterwarfen, bereit waren, für deren Ideologie in den Tod zu gehen oder andere zu töten. Aufgeschreckt durch die Morde und Massensuizide der Sonnentempler*innen, eine nicht mehr zu übersehende Einflussnahme von Scientolog*innen insbesondere auf den Mittelstand und die mittelständische Wirtschaft sowie bekannt gewordene Morde und Misshandlungen innerhalb des satanistischen Milieus wurde im deutschsprachigen Raum das Phänomen destruktiver Kulte endlich auch als Sicherheitsrisiko für die Gesellschaft wahrgenommen. Das führte u. a. dazu, dass durch einen Beschluss des Deutschen Bundestages 1996 die Enquête-Kommis­sion „Sogenannte Sekten und Psychogruppen“ ins Leben gerufen wurde, die nach inten­si­­ver Forschung 1998 ihren Abschluss-Bericht vorlegte. [3] Von deren Forschungs­ergebnissen, insbesondere zum Themenfeld Manipulation/Indoktrination, lässt sich für unsere Arbeit m. E. auch heute noch vieles in die Praxis transformieren.

Im Unterschied zur öffentlichen Auseinandersetzung heute kam seinerzeit indes kaum jemand auf die Idee, Fanatismus und Terror in einem kausalen Zusammenhang zur jeweiligen Religion zu stellen, auf die sich die Kulte bezogen. Etwa derart, dass die Existenz gewalttätiger Davidianer auf Texte der Bibel zurückzuführen sei. Es scheint eine der aktuellen Situation geschuldete Besonderheit zu sein, dass manche Kommen­tator*innen wie selbstverständlich den Terror von Al-Qaida und Konsorten auf einzelne Aussagen im Koran zurückführen wollen. Diese Haltung erleben wir z.T. selbst in Workshops, die wir für professionelle Helfer*innen anbieten. Seinerzeit war sich die Öffentlichkeit wohl darüber bewusst, dass in den heiligen Schriften, die sich diese Kulte jeweils zu eigen gemacht hatten, etliche Aufforderungen zur Gewalt zu finden sind – wenn man danach sucht. Jedoch herrschte weitgehend Einigkeit darüber, dass es den Gewalttätern und Fanatikern überlassen bleiben sollte, sich unhistorisch, instrumentell und fragmentarisch aus den religiösen Schriften zu bedienen.

Dennoch führte die „Glaubensfrage“ seinerzeit zu einer z. T. recht zugespitzten Auseinandersetzung innerhalb des Berater*innen- und Therapeut*innenmilieus. So gab es von Beginn an Kontroversen zwischen theologisch orientierten und säkularen Beratungseinrichtungen. Einige Theolog*innen stellten die Kompetenzen der säkularen Berater in Bezug auf die religiös/spirituellen Aspekte vehement in Frage. Über einen langen Zeitraum meldeten in Deutschland manche Vertreter*innen der Amtskirchen einen Anspruch auf Hegemonie in der Beratungsarbeit an. Zudem bemühten diese sie sich nach Kräften um Einflussnahme auf die konzeptionelle Ausrichtung säkularer Einrichtungen und Selbsthilfegruppen.

Über die Jahre fand allerdings durch die Praxis selbst eine Annäherung durch gemeinsames Lernen statt. Was schließlich auch zu einer gegenseitigen Akzeptanz führte. Bleibende Differenzen rückten in den Hintergrund, da sie keine relevante Rolle im gemeinsamen Ziel, Ausstiegshilfe zu gewährleisten, mehr spielen sollten. Heute stellen wir zumindest für Hamburg fest, dass dieser Prozess der Annäherung erheblich abgekürzt werden kann durch ein gut funktionierendes Präventions- und Interventionsnetzwerk. Die Arbeitsteilung zwischen säkularen und muslimischen Einrichtungen funktioniert stellenweise so gut, dass wir hin und wieder gemeinsam Klient*innen begleiten und gemeinsame Projekte initiieren können. Und ich denke, da wäre noch viel Luft nach oben! Das entspricht schlicht den Anforderungen des historischen Kontexts, der uns alle enthält und uns die Notwendigkeit des Zusammengehens durch die täglichen Meldungen über den Horror des Fanatismus und des Terrors jedweder Couleur ständig vor Augen führt.

Als säkulare Berater, die für sich ein systemisches Denken beanspruchen, sollte es uns besonders fernliegen, nach Ursachen für Radikalisierungsprozesse in einseitigen Kausalzusammenhängen zu suchen. Wir suchen zudem weder nach absoluten, noch nach ewigen Wahrheiten, auch wenn diese Begriffe wie Wortgespenster unsere Einrichtung permanent heimsuchen, sondern nach den Bedürfnissen und Interessen unserer Hilfesuchenden sowie nach dem Kontext, in dem diese sich entfalten oder gehemmt werden. Oder, um auf Freud zurückzukommen, nach den Wunschvorstellungen, die sich in den Glaubensmotiven der Individuen vordrängen. Im Beratungskontext existiert Wahrheit nur im Sinne einer subjektiven Wahrnehmung. Als konkret vorkommende und daher in der Tendenz vorübergehende Wahrheit. Als Verhalten und Gedankentätigkeit, also als Sache der Tat. In diesem Sinne als Tatsache.

Wir können uns zudem Jürgen Manemann [4] ohne Umschweife anschließen, der vor Diabolisierung, Religionisierung, Soziologisierung und Ethnisierung im Umgang mit dem von uns vorgefundenen Phänomen warnt, da all dies für sich genommen einer Erklärung für die unterschiedlichen individuellen Zugänge zum Fanatismus entgegenstehen würde. Ich möchte dem hinzufügen, dass auch eine Pathologisierung irreführend sein kann. In diesem Sinne betrachten wir auch jede diagnostische Einordnung eines religiös begründeten Fanatismus zunächst skeptisch.

An uns wenden sich mehrheitlich Menschen aus dem Umfeld von Individuen, die sich dem fanatischen Milieu des sog. Salafismus angeschlossen haben oder die vermeidlich oder tatsächlich im Begriff sind, diesen Anschluss zu vollziehen. Das sind in erster Linie besorgte Angehörige, vor allem Eltern, aber auch andere Verwandte sowie Sozialarbeiter*innen, Lehrer*innen, Freund*innen oder gute Bekannte. Wir haben es also zu Beginn des Beratungsprozesses in den meisten Fällen mit Menschen zu tun, die nicht unmittelbar Teil dieses Milieus sind. Durch die Verhaltensauffälligkeiten der Betroffenen ihnen gegenüber erleben sie sich jedoch unmittelbar selbst davon betroffen.

Der Blick aufs System

Systemische Beratung und Therapie versteht sich als ein Ansatz, in dem die Betrachtung der sozialen Beziehungen sowie des jeweiligen Kontextes, in dem diese Beziehungen vorkommen, den Boden der Intervention bilden.

In der systemisch/therapeutischen Terminologie wird die Person, deren Verhaltens- bzw. Kommunikationsmuster von ihrem sozialen Umfeld als problematisch empfunden wird, als „Index-Klient“ bezeichnet. Wir verstehen dessen Verhalten nicht als ein Muster, welches allein der betreffenden Person zuzuschreiben wäre. Vielmehr nehmen wir den Index-Klienten bloß als denjenigen wahr, der innerhalb eines problematischen Beziehungsgeflechtes zuerst für fehlgeleitet erklärt wird. Als eine Person, bei der, stellvertretend für ein soziales System, erkennbar unerwünschte Verhaltensweisen bzw. Symptome auftreten.

Fanatismus wird nach unserem Ansatz folglich als Symptom eines gestörten sozialen Systems begriffen. Die ständig von allen Beteiligten in den Vordergrund gerückte Ideologie der Fanatiker*innen wird dementsprechend nicht als ursächlich für diese Störung betrachtet. Vielmehr sehen wir darin lediglich eine Rechtfertigung, also eine mehr oder weniger gelingende Rationalisierung des*r Index-Klient*in für sein*ihr Verhalten. Da die Ideologie jedoch zweifellos starken Einfluss auf die Genese einer fehlgeleitenden Kommunikation im System sowie auf die Symptombildung selbst nimmt, spielt sie in der Beratungsarbeit eine gewisse Rolle. Dies sollte nach unserem Ansatz jedoch den Verlauf der Beratung nicht bestimmen.

Wir können jedoch nicht darüber hinwegsehen, dass der öffentliche Diskurs zum Phänomen des gewaltbereiten Fanatismus derzeit, und wohl auch noch in naher Zukunft, von allen Seiten ideologisch geführt wird. Dieser Diskurs wirkt sich selbstverständlich auf unsere Ratsuchenden, und damit auf unsere unmittelbare Arbeit aus. Zudem bestimmen dieser Diskurs und die damit zusammenhängenden Reaktionen der Politik auch die Erwartungen unserer Auftraggeber*innen an uns. Wir haben es in unserem Arbeitsfeld, ob wir wollen oder nicht, mit Kommunikationsstrukturen und Inhalten zu tun, die sich in ihrem nicht zu übersehenden Bezug auf unmittelbare gesellschaftliche Ereignisse gegenüber anderen Bereichen der psychosozialen Arbeit deutlich absetzen. Allein die Tatsache, dass nach jedem Terroranschlag ein erhöhtes Aufkommen an Beratungsbedarf festgestellt werden kann, sowie die in solchen Zeiten ständig durch Presseanfragen blockierten Telefone in unserem Büro machen deutlich, wie diese Ereignisse unsere Arbeit beeinflussen. Wir kommen nicht darum herum die Einflüsse des Makrosystems stets mitzudenken und entsprechend zu honorieren, da sie bis in unser tägliches Geschäft hinein ein Gewicht haben, dass uns in unserer Arbeit nicht selten als Last aufgebürdet wird.

Um den notwendigen Zusammenhang und die Verschränkungen zwischen den Individuen, ihren unmittelbaren Lebensbereichen und dem gesellschaftlichen System zu verdeutlichen, soll uns das systemische Modell der „Ökologie der menschlichen Entwicklung“ nach Urie Bronfenbrenner [5] als Bezugsrahmen dienen.

Wir gehen davon aus, dass es sich bei unseren Index-Klienten, wie bei allen Individuen, um Personen handelt, die sich in einem lebenslangen Entwicklungsprozess befinden, welcher durch die Interaktion mit der Umwelt sowie den intersubjektiven Beziehungen zwischen den darin tätigen Menschen bestimmt wird. Bronfenbrenner schreibt: „Die Ökologie der menschlichen Entwicklung befasst sich mit der fortschreitenden gegenseitigen Anpassung zwischen dem Aktiven, sich entwickelnden Menschen und den wechselnden Eigenschaften seiner unmittelbaren Lebensbereiche. Dieser Prozess wird fortlaufend von den Beziehungen dieser Lebensbereiche untereinander und von den größeren Kontexten beeinflusst, in die sie eingebettet sind…die in Entwicklung begriffene Person (wird) nicht als Tabula rasa betrachtet, auf der die Umwelt ihre Eindrücke hinterlässt, sondern als wachsende dynamische Einheit, die das Milieu, in dem sie lebt, fortschreitend in Besitz nimmt und umformt… man muss sich die Umwelt aus ökologischer Perspektive topologisch als eine ineinander geschachtelte Anordnung konzentrischer, jeweils von der nächsten umschlossener Strukturen vorstellen. Diese Strukturen werden als Mikro-, Meso-, Exo-, und Makrosysteme bezeichnet.“ [6]

Der Tatsache, dass Entwicklung eine historische Dimension besitzt, wird Bronfenbrenner gerecht, in dem er seinem Modell ein „Chronosystem“ hinzufügt. Marx als Philosoph nahm einige Grunderkenntnisse der „Ökologie der menschlichen Entwicklung“ bereits vorweg, als er bemerkte, dass die „Menschen ihre eigene Geschichte (selbst machen), aber… nicht aus freien Stücken, nicht unter selbstgewählten, sondern unter unmittelbar vorgefundenen, gegebenen und überlieferten Umständen…“ [7] und von daher „das menschliche Wesen kein dem einzelnen Individuum innewohnendes Abstraktum (ist), sondern in seiner Wirklichkeit … das Ensemble der gesellschaftlichen Verhältnisse.“ [8]

Unser Arbeitsauftrag erfordert es, gemeinsam mit unseren Netzwerkpartnern, ergebnisoffen bis in alle Ebenen der aktiven Systeme und Subsysteme vorzudringen, um dem Phänomen des gewaltbereiten Fanatismus auf die Spur zu kommen.

Auf der Ebene des Makrosystems und diverser Exosysteme nehmen wir derzeit folgende auf unsere Arbeit einwirkende Dynamiken wahr:

  • die Reflexe bzw. Affekte der Menschen und ihrer Institutionen auf gesellschaftliche Krisenerscheinungen,
  • der gesellschaftliche und institutionelle Umgang mit der Religionsfreiheit,
  • der Einfluss der politischen Institutionen und der Staatsorgane auf unsere Einrichtung,
  • der bereits erwähnte öffentliche Diskurs
  • sowie die Verstrickungen all dieser Elemente miteinander.

Ohne angemessen auf die gegenwärtigen globalen Krisenerscheinungen eingehen zu wollen, wären m. E. doch einige wenige Erscheinungsformen sichtbar zu machen und deren Zusammenhang zu unserer Arbeit zu benennen. Seit einigen Jahrzehnten erleben wir eine Beschleunigung globale Umwälzungsprozesse auf allen nur denkbaren Ebenen. Seien sie politisch, ökonomisch, technologisch, geostrategisch, ökologisch, überall ergreifen diese Prozesse Besitz von unserem Alltag. Die politisch Verantwortlichen erscheinen dabei vielen Bürger*innen als Getriebene dieser Entwicklung, die auf ständig neue Ereignisse reflexartig reagieren. Auch die Errichtung von Beratungsstellen wie unserer könnte man durchaus als Reflex auf einen längst gärenden Zustand gesellschaftlicher Verfehlungen und ein damit zusammenhängendes Gefühl von Verunsicherung und Bedrohung innerhalb der Bevölkerung deuten. Unser Beratungsalltag hat deshalb mitnichten vorrangig mit Prävention im herkömmlichen Sinne zu tun. Wir stehen nicht selten am Brunnen, in den das Kind bereits hineingefallen ist. Hierin sehen wir zugleich unsere Herausforderung und unsere Kompetenz!

Die Reaktionen der Politik auf alle möglichen Krisenerscheinungen der letzten Jahre werden zudem oft als alternativlos kommuniziert. Damit ist immer gemeint: alternativlos zum Erhalt eines etablierten Systems. Klassische Systemiker*innen würden behaupten, die Politik reagiere homöostatisch. Damit gehen für viele Menschen bedrohliche Botschaften einher. Zum einen die, dass das System krank sei und nur noch durch Kriseninterventionen am Leben zu halten, zum anderen, dass die politisch Verantwortlichen nicht befähigt sind, alternative Behandlungsmethoden zu ermöglichen, ja nur zu denken.

Ein kollektives Gefühl der Ohnmacht breitet sich aus

Der daraus folgende, eher resignative Gemütszustand trifft auf einen fortwährenden Verlust der Integrationskraft bedeutender gesellschaftlicher Institutionen. Mit statischer Genauigkeit können wir beobachten, dass nicht nur dem Parlament die Wähler*innen davonlaufen, sondern auch den Parteien die Genossen, den Gewerkschaften die Werktätigen und den Amtskirchen die Gläubigen. Ein kollektives Gefühl von Alternativlosigkeit, sprich Ohnmacht, kann sich dementsprechend ungehemmt ausdehnen und vertiefen. Die auf diesem Humus gedeihende Angst des ‚Auf-sich-allein-gestellt-Seins‘ steht dabei in einem krassen Widerspruch zur Ausdehnung paternalistischer Fürsorgemaßnamen durch die Staatsorgane – von der Überwachungskamera an der Straßenecke bis zum selbstverständlich gewordenen Datenaustausch zwischen dem Jobcenter, der Krankenkasse und den Geldinstituten. Je mehr der Staat in das Leben der Individuen eingreift, desto mehr Individuen, so scheint es, fühlen sich vom Staat im Stich gelassen. Diese Art von Betrachtung mag hier und da ungerechtfertigt sein oder übertrieben wirken. Das ändert jedoch nichts daran, dass die Gemüter ein vielseitiges Eigenleben aus Überlebensstrategien und Abwehrmechanismen daraus entwickeln können und befähigt sind, sich dem kulturellen und politischen Normativ zu entziehen. Und besonders junge Menschen lassen sich von den Erklärungen staatlicher Pressesprecher*innen wenig beeindrucken.

All das zusammen genommen bedeutet für unsere Arbeit, dass die Vermittlung bürgerlicher Wertevorstellungen, die neuerdings wieder verstärkt ins Feld geführt werden, derzeit weder durch den Staat noch durch die tradierten gesellschaftlichen Institutionen ausreichend gewährleistet ist. Eine öffentliche Debatte darüber, was diese Werte inhaltlich bedeuten, findet kaum statt. Es sei denn in Talkshows, deren Debattenkultur meist dadurch gekennzeichnet ist, dass kein*e Teilnehmer*in den anderen ausreichend zu Wort kommen lässt. Junge Menschen sind somit gehalten, abstrakte Begriffe wie Freiheit, Freizügigkeit, Demokratie oder Menschenrechte selbst mit Sinn füllen. In welchem Kontext soll das geschehen? In den Schulen, in den Familien? Was wir oft wahrnehmen, ist, dass sich diese beiden Lebensbereiche gerne gegenseitig die Verantwortung dafür zuschieben. Und wir erleben junge Menschen, die es von keinem der beiden mehr erwarten.

Wir müssen zudem zur Kenntnis nehmen, dass die Vermittlung der Begriffe, die wir mit bürgerlichen Werten verbinden, in einem kaum zu unterschätzenden Ausmaß den Absatzstrategen der Konsumgüterindustrie überlassen wurden (Schülein, 1881). Es scheint, dass Oscar Wilde recht behalten sollte, als er schrieb, dass „die Leute heute den Preis jedes Dinges (kennen), aber von nichts den Wert.“ [9] Freiheit, Freizügigkeit, individuelle Entfaltung, Menschenrechte, Solidarität, Gerechtigkeit…, es gibt wohl kaum einen Begriff, dessen Inhalt nicht schon irgendwann verknüpft wurde mit Produktwerbung. Zudem richtet sich die Absatzstrategie zunehmend an jugendliche Konsumenten.

Insbesondere der Begriff Gerechtigkeit hat für junge Menschen augenscheinlich eine herausragende Bedeutung! Jedenfalls verlangen diese ständig danach, Gerechtigkeit zu erfahren, und entwickeln ihre subjektive Begriffsbildung entsprechend an diesen Erfahrungen. Unter ungünstigen Umständen entwickelt sich daraus der Eindruck allgemeiner Ungerechtigkeit, nicht selten auch Sozialneid. Verbunden mit dem Gefühl mangelnder Selbstwirksamkeit kann das in Verzweiflung, Wut und projektivem Hass umschlagen. Ein gefundenes Fressen für fanatisch-fundamentalistische Rattenfänger*innen.

Derweil findet in der Bildungslandschaft eine deutlich wahrnehmbare Verdichtung auf originäre Wissensvermittlung statt. Education als ganzheitliches Konzept geht durch die Anforderungen der Wirtschaft in den von der Politik zunehmend hierfür ausgerichteten Strukturen der Bildungslandschaft immer mehr verloren.

Die durch die Filter der Werbebranche vermittelten Leitbilder, in die die Jugendlichen hineinversetzt werden, versprechen ihnen indes viel und halten wenig. Johann August Schülein hält fest, dass dadurch „…oral-narzisstische Bedürfnisse mobilisiert werden, deren Befriedigungswünsche in einen latenten Widerspruch zur Realität geraten. …Mit dem damit verbundenen Jugendkult, der nicht mehr nur an ein generelles Leistungsprinzip geknüpft ist, sondern zunehmend auch an die Illusion von Unvergänglichkeit und Allmacht, werden infantile Weltbilder produziert und verfestigt. Das macht es den Jugendlichen besonders schwer erwachsen zu werden.“ [10]

Aus der Ursachenforschung von Jugenddelinquenz wissen wir, dass solch eine Dynamik die epidemische Ausbreitung von Abhängigkeitserkrankungen sowie andere abweichende Verhaltensmuster bei Jugendlichen begünstigt. Hinzu kommen die alljährlich vorgetragenen ermahnenden Erhebungen über den Internetkonsum bei Jugendlichen. Gibt man bei Google „free Wargames“ ein, erhält man auf Anhieb ca. eine halbe Millionen Links. Wir können diesbezüglich festhalten, dass junge Jihadisten, insbesondere aus post-modernen Gesellschaften, in der Regel schon einige Tausend Feinde im virtuellen Raum erlegt haben, bevor sie das erste Mal eine Waffe in den Händen tragen.

Es kommt auf den Kontext an

Dennoch stellt sich für uns auch hier kein monokausaler Zusammenhang her. Etwa derart, dass das Internet an allem schuld sei. Es kommt auch hier auf den Kontext, die Persönlichkeit und auf die Dynamik an, die diese beiden Elemente antreibt. Die Werte, die in den beliebten Fernsehserien, den sozialen Netzwerken und den PC-Spielen noch ungefiltert durchdringen, sind die Freiheit der Vermarktung und die damit verbundene freie Konkurrenz. Wobei sich letzteres innerhalb bestimmter Lebensbereiche nicht selten in hemmungslose Rivalität bis hin zum Mobbing als Alltagserscheinung überträgt. Nicht nur junge Menschen reproduzieren so eine Mentalität des ‚Jeder gegen Jeden‘ und der Ausgrenzung aller nicht „Wettbewerbsfähigen“. Nichts anderes ist Mobbing!

Derweil versorgen uns die Medien mit einer Fülle von Informationen, deren notwendiges gedankliches Selektieren kaum noch angemessen möglich scheint. All dem fühlen sich entsprechend vulnerable Jugendliche hilflos ausgesetzt und reagieren darauf zunehmend verhaltensauffällig und anfällig für einfache, reglementierende Denkbestimmungen. Der Zulauf zu ideologisierten, gewaltbereiten Gruppierungen jeglicher Art legt auch davon Zeugnis ab.

Wenngleich in unserer Arbeit ein Dialog über Wertevorstellungen stattfindet und im Einzelfall dazu führen kann, Versäumtes nachzuholen, bilden wir uns nicht ein, dadurch einen nennenswerten Einfluss auf diesen gesellschaftlichen Kurs nehmen zu können. Wir dürfen diesen Aspekt jedoch keinesfalls Ignorieren. Alexandra Reuter bemerkt: „Werten wie Freiheit, Selbstbestimmung und Autonomie stehen Unfreiheit, Fremdbestimmung und Abhängigkeit gegenüber, und erstere sind in der öffentlichen Wahrnehmung unzweideutig positiv besetzt.“ Deren abstrakte, konsumorientierte Vermittlung konterkariert allerdings jede weitere Sinngebung. Reuter weiter: „die freie, selbstbestimmte Lebensführung kommt häufig hilfloser Orientierungslosigkeit gleich…  Tatsächlich ist es so, dass Reglementierung als Befreiung von Entscheidungsdruck wahrgenommen werden kann, oder aber als bedrückende Einengung, ähnlich wie das Recht auf Selbstbestimmung zum Autonomiegewinn genutzt werden kann oder aber zum Individualisierungszwang mutiert.“ [11] Der allseits glorifizierte Individualismus, der sich heutzutage hinter Begriffen wie freie Entfaltung oder Selbstverwirklichung verbirgt, wird von seinem eigenen Schatten überholt. Diesen Schatten tragen unsere Konvertit*innen deutlich vor sich her. Sie stehen nicht bloß im Schatten für sie unerfüllbar erscheinender gesellschaftlicher Ansprüche, sondern auch im Schatten unmittelbarer Lebensbereiche wie Familie, Schule oder Ausbildung. Und wie wir an der medialen Reaktion auf unsere jungen Konvertit*innen ermessen können, werden sie auch als Schattenwesen der Gesellschaft wahrgenommen. Als verhüllte Gespenster oder bösartige Krieger aus einer fremden Welt.

In der Beratungsarbeit ist dieser Aspekt der freiwilligen Unterwerfung kaum zu überschätzen. Werden die „positiven“ Effekte eines Verzichts auf Selbstbestimmung nicht nachvollzogen, können die Professionellen, ähnlich wie die meisten Angehörigen, die freiwillige Hingabe an eine totalitäre Ideologie kaum nachvollziehen. Dann muss ein falsches Verständnis von Manipulation à la Gehirnwäsche als Erklärungsmodell herhalten, (Reuter, 2000). So kann man sich zugleich der Tatsache entledigen, dass der Fanatismus, mit dem wir es zu tun haben, „ein Produkt jener Zivilisation ist, die jetzt (davon) bedroht wird… „Dschihad ist (…) kein Virus, das von außen in westliche Gesellschaften eindringt und Menschen befällt.“ schreibt Manemann. [12]  Es handelt sich wohl eher um ein Angebot, welches die weitverbreitete Nachfrage nach narzisstischer Bestätigung in unserer Gesellschaft bedient. Jan Philipp Reemtsma, der davon ausgeht, dass die narzisstischen Gewinne in der bürgerlichen Gesellschaft mühsam erarbeitet sein wollen und dennoch meistens bescheiden ausfallen, spricht vom unmittelbaren Gewinn für die narzisstische Persönlichkeit „aus der… Einzigartigkeit (…) der existenziellen Aktion der Zerstörung“ [13]. Reemtsma liefert damit einen denkwürdigen Hinweis darauf, warum narzisstische Persönlichkeiten – oft innerhalb erschreckend kurzer Zeit – vom Glaubensbekenntnis in den „heiligen Krieg“ ziehen und betrachtet Gewalt in diesem Sinne „als attraktive Lebensform“ für dieselben.

Wenn die Ideologie an Bedeutung verliert, kommt das eigentliche Problem zum Vorschein

Eine ideologische bzw. theologische Debatte ist für unsere Praxis in dem Moment von Bedeutung, in dem die Hilfesuchenden das von sich aus einfordern. Das kommt in verschiedenen Phasen innerhalb der Beratungsarbeit vor und ist nicht zwangsläufig als Einstieg zu handhaben noch als Abschluss zu bewerten. Eine sog. De-Radikalisierung findet nach unserem Ansatz ihren Maßstab auch nicht allein in der Distanzierung von einer Ideologie. Mitunter verliert die Ideologie für unsere Aussteiger*innen ohnehin ganz von selbst an Bedeutung. Dann nämlich, wenn das eigentliche Problem, das sich dahinter verbirgt, zum Vorschein kommt und von daher bewusst angegangen werden kann. Voraussetzung für eine diesbezüglich gelingende Auseinandersetzung ist nach unserer Auffassung die Herstellung tragbarer und verlässlicher Bindungen. Unser Streben, eine der Situation und den Bedürfnissen angemessene Bindung herzustellen, steckt also nicht zufällig in unserem Namen „Legato“.

Ebenso steckt dieser Begriff lateinischen Ursprungs, welch ein Zufall, im Wort Religion. Wobei wir die sozialen Bindungen ansprechen, während Religionen eine Bindung an eine darüber hinaus weisende spirituelle Instanz ansprechen. Wir sehen an dieser Stelle jedoch keinen Anlass, einen Widerspruch zu vertiefen. Zumal wir die Fanatiker, mit denen wir uns befassen, nicht als eigentlich religiös betrachten.

Dennoch tut sich hier eine Schwierigkeit für uns auf. Diese ist begründet in dem Dilemma einer gesetzlich garantierten Religionsfreiheit und einer Religion, die als Legitimationsideologie für Terror herhalten muss und so Teil einer von Ängsten bestimmten Debatte wurde. Es ist weder unser Auftrag, jemanden vom Glauben abzubringen, noch beschäftigt uns vorrangig die Interpretation religiöser Praktiken. Das wirkt auf viele hilfesuchende Angehörige zunächst einmal ernüchternd. Wir betrachten die Religionsfreiheit jedoch nicht nur als ein Gesetz, an das wir uns halten müssen. Wir betrachten sie darüber hinaus als eine Errungenschaft, die durch aufopferungsvolle Kämpfe gegen die weltliche Macht des Klerus durchgesetzt werden musste. Folglich auch als eine Möglichkeit für Individuen, die Religion zu wechseln oder aber sich von religiösen Weltbildern zu emanzipieren. Religionsfreiheit ist für uns daher weder selbstverständlich noch verhandelbar. In der Beratungsarbeit bedeutet das, dass wir unerlässlich differenzieren müssen zwischen der individuellen Entscheidung für ein frommes, konservativ-dogmatisches Leben in der Religion mit dem dazugehörigen Missionsauftrag einerseits und einer Entscheidung für ein Leben als ein zu allem bereite*r Fanatiker*in unter der Herrschaft einer totalitären Gruppe andererseits. Das ist unter den derzeitigen Umständen alles andere als einfach. Hierfür ist vor allem die Verstrickung der öffentlichen Debatte über dieses Themenfeld mit den konkreten Sorgen von Angehörigen verantwortlich, welche hin und wieder eine verhängnisvolle Allianz bilden, die obendrein dazu geeignet ist, bestimmte Charaktere weiter in die Arme der Fanatiker*innen zu treiben.

Wir müssen in der Praxis aber vor allem damit umgehen, dass wir es nicht vorrangig mit Menschen zu tun haben, die nach einer spirituellen Erfüllung in einem religiösen Rahmen suchen, sondern eher mit solchen, für die die Religion und deren Ausübung einen Fe­­­tisch­charakter eingenommen hat. Ein Fetisch, darin besteht m. E. dessen Wesen, ist eine Objektbeziehung, die sich zwischen die lebendigen Beziehungen drängt. Theologisch betrachtet zwischen die Beziehung von Mensch zu Gott. Sozialpsychologisch betrachtet zwischen die Beziehungen der Menschen untereinander. Letzteres ist für unsere Arbeit ausschlaggebend. Die Funktion des Fetischs gilt es im konkreten Fall transparent zu machen, um dessen Notwendigkeit aufzuheben. Darin besteht der Kern unserer Interventionen.

Vom Umgang mit Fetischen

Den Umgang mit Fetischen, die sich zwischen die lebendigen Beziehungen drängen, sind junge Menschen in der Regel gewohnt. Durch deren fehlgeleitete Anwendung konnten sich die Medien, insbesondere die sozialen Netzwerke, für viele Jugendliche bereits zu einem eigenen Lebensbereich, einem weiteren Mikrosystem emporheben. Das ist für Systemiker*innen von großer Bedeutung, insofern wir mit Salvadore Minuchin übereinstimmen, dass es die Mikrosysteme sind, in denen die Individuen sich bewegen, die die Matrix für ihre Identitätsentwicklung stellen. [14] Der Fetischcharakter zeigt sich in Vorgängen, in denen Menschen sich unentwegt wie weltabgewandt einer satellitengesteuerten Kommunikation hingeben. Handys machen ihren Namen alle Ehre, wenn sie mit den Händen mancher Benutzer wie verwachsen sind. Nur unscheinbare Daumen scheinen noch bewegungsfähig und huschen ohne Unterlass auf ein für die Kommunikation auf ca. 7 cm² reduziertes Feld hin und her. Reduziert ist auch der Sprachschatz. Auch Gestik und Mimik sind gefangen in den Halbheiten der digitalen Welt. Das „like“ und „unlike“ als erhobener oder gesenkter Daumen entspricht dabei vollkommen dem Wesen des binären Code: 0 / I, welcher die Grundlage der virtuellen Welt bildet, in der unsere Index-Klienten ihre Vorliebe für eine zwanghafte, subjektverleugnende Kommunikation erlernen konnten. So gleicht z.B. deren mechanisches Verständnis von „verboten“ und „erlaubt“ auffällig dieser simplen Ausgangsmechanik: Haram / Halal =  0 / I. „Gefangen im Netz der Halbheiten sei die Hinwendung an das Absolute ein genereller Aspekt der Psyche“, behauptet Huxley. [15]

Damit erschließt sich uns auch die Vorliebe originärer Fanatiker*innen vom Schlage eines Pierre Vogel, wenn er, gefangen in seinem mechanischen Religionsverständnis, seine Anhänger auf die Jagd nach Punkten für das Paradies schickt. Andere Prediger gehen, wie wir wissen, soweit, dass sie die Konvertit*innen ohne Umschweife in den Tod, also in das versprochene Paradies schicken, da das Punktesystem durch das Martyrium tausendfach aufgehoben wird. Ihre Anhänger greifen diesen Mechanismus offenbar aus freien Stücken auf und nehmen ggf. dafür ihren Abschied vom Wertekanon unserer Gesellschaft. Denn dieses mechanische Denken, welches sich jedem offenen Dialog entzieht, verbirgt sich auch hinter der Behauptung sowohl der Dschihadist*innen als auch mancher vermeintlicher Islamkritiker*innen, dass der Islam nicht mit der Demokratie vereinbar sei. Demokratie, in welcher Ausprägung auch immer, bedeutet zuallererst Bereitschaft und Befähigung zum Dialog! Dazu ist weder die Mechanik eines unpersönlichen „Personal Computer“ noch ein mechanisches Welt- und Menschenbild in der Lage. So erklärt sich auch die offensichtliche Engstirnigkeit, mit der die post-modernen Fanatiker*innen ihren nervtötenden Missionierungszwang ausleben. Bedauerlicherweise wird jedoch mechanisches, streng reglementiertes Denken und Handeln von den Betroffenen als sinnstiftend und befreiend wahrgenommen und im Falle unserer Klientel zusätzlich als göttliches Geschenk verklärt.

Entscheidend scheint mir die Dialogunfähigkeit zu sein, die nicht nur einhergeht mit einer negativen Einstellung gegenüber demokratischen Gepflogenheiten, sondern zugleich den Abbruch von Bindungen gegenüber der Familie, dem Freundeskreis und anderen sozialen Systemen befördert.

Einen dialogfähigen Kontext für gelingende Bindungs- und Ablösungsprozesse herstellen

Zunächst löst das verstörende Auftreten der Index-Klienten allerdings bloß Irritationen in deren Umfeld aus. Darin sehen wir durchaus auch eine Ressource! Wir behaupten darüber hinaus, dass in diesem Fall ein Beziehungsabbruch weder zwangsläufig noch unumkehrbar sein muss. Unsere Praxiserfahrungen bestätigen das. Erst wenn sich im Automatismus unseres Alltags Irritationen einschleichen, die unserem mehr oder weniger bewussten ständigen Streben nach Anerkennung und Sicherheit entgegenwirken, müssen wir uns in Frage stellen und in Frage stellen lassen. Hierin steckt der Schlüssel für gelingende Bindungs- und Ablösungsprozesse. Irritationen bewegen uns und sind zunächst als wichtige Ressource sozialer Systeme zu begreifen! Durch fehlgeleitete Kommunikation können, unter ungünstigen Bedingungen, solche Irritationen jedoch auch entwicklungshemmend wirken.

Solch eine Irritation kann beispielsweise ein 16jähriges Mädchen auslösen, dass nach den Sommerferien plötzlich vollkommen verschleiert das Klassenzimmer betritt. Aufgebracht durch Schlagzeilen über „Parallelgesellschaften“ und „Terrorismus“ und abgestoßen durch die neue Maskierung, welche die gewohnte Maskierung mittels unverhältnismäßigen Gebrauchs billiger Kosmetikprodukte ersetzt hat, verliert das soziale Umfeld die Fassung. Die Werte scheinen plötzlich in Gefahr, und das Mädchen scheint sich dieser Gefahr auszusetzen. Irritation kann sich dann in einem Abwehrmechanismus verkehren, der vorgibt Wertevorstellungen beschützen zu wollen, die scheinbar über Nacht unter dem Schleier ihre Gültigkeit eingebüßt haben.

So werden zuvor kaum ausreichend kommunizierte Wertevorstellungen beiderseits vorgeschoben, um sozialen Konflikten aus dem Weg zu gehen.

Eine von beiden Seiten als mühsam erlebte und von daher dysfunktionale Wertediskussion begegnet uns hin und wieder in der Auseinandersetzung zwischen Schülern und Lehrern. Insbesondere dann, wenn diese Diskussion als hektisch vorgetragener Reflex daherkommt. Das gilt jedoch generell für alle Lebensbereiche, in denen die Index-Klienten sich bewegen. Plötzlich dominiert eine Debatte um Wertevorstellungen wie aus heiterem Himmel den Alltag. Wobei nicht zu übersehen ist, dass diese Debatte von den Konvertiten provoziert wird. Was auch als ein verkümmertes Bedürfnis gedeutet werden kann.

Hin und wieder entdecken um Anerkennung ringende Lehrer*innen und Eltern plötzlich den Koran als Hilfsmittel, um die eigene Interpretation der Schrift gegenüber den Betroffenen sogleich mit den eigenen Wertevorstellungen kompatibel zu machen. Damit will man vermutlich Toleranz und Verständnis signalisieren, vielleicht auch dem Vorwurf der Islamfeindlichkeit zuvorkommen. Was natürlich meist schief geht. Nicht nur stellt sich oft heraus, dass beide Seiten in gleicher Weise religiöse Analphabeten in Bezug auf den Islam sind und somit ein sinnfreier Konflikt provoziert wird, es gibt den Beteiligten ungewollt obendrein noch weiteren Antrieb, sich voneinander zu entfernen. Der Schleier hätte damit seine Funktion als Fetisch hervorragend erfüllt.

Wir empfehlen den hilfesuchenden Angehörigen, sich nicht zu solchen scheintheologischen Debatten hinreißen zu lassen. Es kann für uns zudem nicht darum gehen, einen Textilschleier loszuwerden, sondern darum, seine falsch verstandene Funktion als Fetisch und Abgrenzungszauber zu enttarnen. Es geht um die Entschleierung zwischenmenschlicher Beziehungen und Erwartungshaltungen, die durch das beidseitige Klammern ans Textil und die damit verbundenen Interpretationen im Verborgenen bleiben müssen.

Die Familie als entscheidendes Bezugssystem

Nicht nur, weil unsere Arbeit vorrangig mit Familiensystemen konfrontiert ist, sondern auch, weil wir die Familie als entscheidendes Bezugssystem der individuellen Entwicklung begreifen, das ein Leben lang im Innern der Individuen nachschwingt, und sei es bloß als Mystifizierung, als Illusion, in der sich die eigenen Wunschvorstellungen vordrängen, haben wir uns mit den entsprechenden Familienmustern, die uns präsentiert werden, genauer zu beschäftigen.

In Übereinstimmung mit Beobachtungen aus anderen Beratungsstellen können wir drei sich stets wiederholende Familienmuster benennen, mit denen wir es in der Praxis vorrangig zu tun haben. [16]

1. Das fehlende Elternteil.
2. Fehlende innerfamiliäre Dialoge über Welt- und Menschenbilder, bzw. Werte und Moralvorstellungen.
3. Ein inadäquates Konsumverhalten.

Das fehlende Elternteil

Zu 1. Wir haben es in der Beratungspraxis auffällig oft mit Familien zu tun, in denen die Eltern getrennt sind und in denen die Erfahrungswelten der Kinder geprägt sind von den der Trennung vorausgegangenen Konflikten zwischen ihren Eltern. Konnten diese Konflikte nicht angemessen beigelegt werden, dann kommt zur Verlusterfahrung noch die mangelhaft erlernte Fähigkeit der Konfliktbewältigung hinzu. Werden Kinder hauptsächlich oder ausschließlich von einem Elternteil erzogen, bekommen sie zudem ein unvollständiges, oft verzerrtes Bild des anderen Elternteils vermittelt. Bei Konflikten, insbesondere während der adoleszenten Identitätskrise, sind z.B. Jungs hin und wieder mit der offen oder unterschwellig kommunizierten Botschaft konfrontiert: „Du bist genau wie dein Vater“. Das weckt das Interesse nach Identifikation mit einem Mann, den man kaum oder gar nicht kennt. „Ich bin wie Er“ heißt ja vor allem auch „Er ist wie ich“, und auch Er hatte Ärger mit meiner Mutter, sonst wäre Er noch da. Den Anlass dieses äußeren und inneren Konfliktes bildet idealtypisch die alleinerziehende, berufstätige Mutter, um deren knappe Zeit für Zuwendung die Geschwister miteinander konkurrieren. Damit sind sie gezwungen, ihre Rollenfindung in einem besonderen Konkurrenzverhältnis zu bewerkstelligen. Nehmen wir z.B. den ältesten Sohn als idealtypischen Index-Klienten, so hat er nicht nur das Gefühl, eine große Verantwortung tragen zu müssen, sondern fühlt sich zudem noch bei der Verteilung der Aufmerksamkeit und Zuwendung durch die Mutter benachteiligt. Dieser Sohn lebt, bewusst oder unbewusst, mit der Erfahrung, dass Konflikte zu unumkehrbaren Beziehungsabbrüchen führen können. Die daraus resultierende Verlustangst steht in einem unverhältnismäßig starken Widerspruch zu seinen naturwüchsigen Autonomiebestrebungen. Alles im Allen eine Gemengelage, welche die narzisstischen Bedürfnisse nahezu herausfordert.

Die Konfliktaustragung ist dementsprechend durch Verzweiflung und Wut gekennzeichnet. Die Alltagsüberforderung trägt zusätzlich dazu bei, dass die Konflikte nicht angemessen bearbeitet werden können. Das Muster der gescheiterten Ehe findet seine Neuinszenierung dann häufig in der Mutter-Sohn-Beziehung. Der abwesende Vater, das imaginierte Ebenbild, wird zum Mythos, der sich in das Wunschbild von einer heilen Familie einfügt. Der Vatermythos ist zudem gekennzeichnet von einem abstrakten Rollenbild, das sich aufgrund eines nicht vorhandenen lebendigen Vorbildes nicht selten aus Vorbildern speist, die von den virtuellen Traumfabriken vorgegeben werden.

An dieses Muster kann die Propaganda der Fanatiker mit ihrem reduzierten Religionsverständnis andocken, indem eine heile Familie versprochen wird mit einem Übervater (Allah), der alle seine Kinder gerecht behandelt und zu jeder Zeit Orientierung gibt, sowie eine Gemeinschaft von liebenden und geliebten Geschwistern (die Ummah) und – das vor allem – ohne eine ständig kontrollierende und fordernde Mutter. [17] Die zudem noch zusätzlich in Aussicht gestellte Kleinfamilie bedient gewohnte Bestätigungsfelder wie die Übernahme von Verantwortlichkeit. Allerdings in einem nicht hinterfragbaren Herrschaftsverhältnis. Die falschen Versprechungen bedienen sich eines Diesseits, in dem der Mann das Sagen hat, keine Frau ihm dreinredet und die Kinder folgsam und genügsam sind. Und eines halluzinierten Jenseits, wo dem treuen Glaubensbruder als Belohnung für die Entbehrungen durch Pflichterfüllung und entsprechend seiner persönlichen Wunschvorstellungen, unglaubliche Events in von klaren Bächen durchdrungenen Gärten an der Seite großäugiger Huris in Aussicht gestellt werden. Nicht nur, dass man eine heile Kleinfamilie plus Großfamilie zugesprochen bekommt, man bekommt auch noch die Gelegenheit, später eine als verkorkst empfundene Jugend mit der dazugehörigen Leichtigkeit in vollen Zügen nachzuholen. Als Jungfrau oder als Ritter. Was will man mehr? Hier werden die o.g. infantilen Wunschbilder im vollen Umfang bedient.

Die erste Phase einer Indoktrinierung ist entsprechend dadurch gekennzeichnet, dass die Konvertiten durch die als „Geschwister im Islam“ bezeichnete neue Peergroup mit Zuneigung nahezu bombardiert werden. Insbesondere die jungen Männer erhalten für einen Moment große Aufmerksamkeit von einem Anführer, um danach sofort im Siegesjubel der Bruderschaft aufzugehen. So gleicht das Ereignis der Konvertierung, beispielsweise anlässlich einer öffentlichen Kundgebung sog. Salafisten, oft einem Spektakel, in dem sich alles um den Konvertiten zu drehen scheint. Ein kaum vermittelbares Gefühl überwältigt den Konvertiten beim Sprechen des Glaubensbekenntnisses. Der Anspannung vor dem Auftritt auf der Bühne des Spektakels folgt eine enthemmte emotionale Entäußerung, der sich sogleich eine angenehme Leere anschließt. Ein in der Regel zuvor von Ohnmachtsgefühlen geplagter Mensch findet sich im Moment des Bekenntnisses in die Welt der Allmachtfantasien hineinkatapultiert und in die Gemeinschaft einer selbsternannten Elite aufgenommen. Ein unvergesslicher Egotrip, der zum Ausgangspunkt dessen wird, was für Außenstehende als Wesensveränderung wahrgenommen ­­wird, in Wirklichkeit jedoch bloß ein bereits vorhandenes narzisstisches Bedürfnis entfesselt. Lang gehegte Wunschvorstellungen von einer heilen Familie lösen sich gemeinsam mit allen Verlustängsten und Ohnmachtsgefühlen für einen Moment auf in den Verheißungen einer jubelnden Menge.

Fehlende innerfamiliäre Dialoge über Welt- und Menschenbilder, bzw. Werte und Moralvorstellungen.

Zu 2. Was die Vermittlung von Werten und Moralvorstellungen innerhalb der Familie betrifft, so haben wir es auf dem ersten Blick mit scheinbar entgegengesetzten Mustern zu tun. So finden wir Familiensysteme vor, die kaum oder gar nicht über solche Themen miteinander im Gespräch sind, es sei denn in Form von subtilen, nicht eindeutigen Botschaften an das Gewissen, sog. Double-Binds, die die Erwartungshaltungen der Erwachsenen an die Kinder transportieren sollen, ohne dass erstere für ihre Botschaften Verantwortung übernehmen müssen. Das wird gerne als „lockerer Erziehungsstil“ verklärt. Ein anderes Familienmuster zeigt sich durch nicht hinterfragbare und nicht verhandelbare Moralvorstellungen, die oft schon über mehrere Generationen hinweg weitergegeben worden sind und sich durch deren autoritäre Vermittlung tradiert haben.

Beide Muster haben gemein, dass jeder Dialog unmöglich gemacht wird. Das Bestreben nach Autonomie und Individuation wird hier wie dort zu einem schmerzhaften Prozess voll von Unsicherheiten und Ohnmachtsgefühlen.

Hingegen das Angebot der Fanatiker*innen: Hier herrscht Klarheit, und es gibt zugleich die Aufforderung, sich darüber unerlässlich zu verständigen. Ständig, so erzählen es Aussteiger*innen, finden Debatten junger Hobbyscholastiker*innen über jeden noch so unbedeutend erscheinenden Aspekt des Alltags und die angemessene moralische Haltung dazu statt, unterbrochen nur durch vorgeschriebene sowie zusätzliche Gebete und die Dauerbeschäftigung mit anderen Ritualen und Verhaltensnormen. Derart wird der neue Alltag der Konvertiten*innen von Beginn an auch zeitlich massiv vereinnahmt. Die Zusammenkünfte sind insofern bindend, als dass durch mehrfaches Fernbleiben die Loyalität hinterfragt und die Zuneigung entzogen werden kann. Vermeintlich Ausstiegswillige werden unablässig von den „Geschwistern“ mit ungebetener Kontaktaufnahme behelligt, in denen sich scheinbare Fürsorge und Ermahnungen abwechseln und Schuldgefühle mobilisieren. Die neue Familie ist alles, der*die Einzelne ist nichts. Dies kann, wie bereits gesagt, zeitweise durchaus als spannungsabbauend und entlastend empfunden werden. Selbst dann, wenn der Wille zum Ausstieg bereits vorhanden ist, der Betroffene sich jedoch noch in der sog. Floating-Phase befindet, d. h., sich innerlich permanent zwischen zwei Welten hin- und hergerissen erlebt.

Ein inadäquates Konsumverhalten

Zu 3. Hier geht es um übertriebenen Konsum, um Konsum als Fetisch. In letzter Konsequenz um Sucht bzw. süchtiges Verhalten. In einem emotionalen Kontext des ständig „Auf-sich-selbst-Zurückgeworfenseins“ besteht für das Individuum stets die Gefahr, in ein Abhängigkeitsverhältnis zu einem von ihm fetischisierten Objekt zu geraten. Selbst die Arbeit, also die bloße Sorge für den Lebensunterhalt oder lebenserhaltende Tätigkeiten wie das Essen können den Charakter eines Fetischs einnehmen und Suchtpotenzial freilegen. Peter Sloterdijk trägt eine interessante Sichtweise hierzu bei. Aus religionsphilosophischer Sicht beschreibt er Sucht als „Konsumismus im Absoluten.“ Ihm erscheint Sucht als ein diffuses, decodiertes Verlangen nach einer Befreiung vom Existenzzwang, sowie als „Ernstfall der Privatreligion.“ [18] Tatsächlich scheint es so, als würden die Jugendlichen, von denen hier die Rede ist, sich wie Süchtige zur Religion verhalten. Zwanghaft in der Ausübung der rituellen Handlungen und von nervösen, teils aggressiven Entzugserscheinungen geplagt, wenn diese Handlungen nicht rechtzeitig und ohne Abweichungen vollzogen werden können. Der Wunsch nach Befreiung vom Existenzzwang kann sich im Extremfall der Ausweglosigkeit mittels eines Sprengstoffgürtels verwirklichen.

Was die fragmentarische Aneignung der Theologie betrifft, so wird das vor jeder eigenen Denk-Anstrengung zurückschreckende Konsumverhalten unserer Konvertit*innen nur allzu deutlich. Sloterdijk behauptet daher treffend, dass „die Anfänge der Sucht in dem Unternehmen der Subjekte liegen, sich in ein Privatverhältnis zum Überwältigenden zu setzen.“ [19] Aus unserer Praxis wissen wir, dass in den Familien einiger Betroffener eine Suchtproblematik zumindest zeitweise vorhanden war. Zudem haben nicht wenige vor ihrer Konvertierung selbst exzessiven Alkohol oder Drogenmissbrauch betrieben oder auf andere Weise suchtartiges Verhalten gezeigt. Dieser Weg wird vorzugsweise erneut eingeschlagen nach einem Ausstieg aus dem Milieu. Man könnte das deuten als Kreislauf eines multiplen Entfremdungsprozesses. Betäubungsmittel als Surrogat für unbefriedigende Beziehungen und Religionsausübung als verlängertes Surrogat für die entbehrten Betäubungsmittel und zurück. Die rituelle Zwanghaftigkeit bestätigt m. E. nur den bereits erwähnten oral-narzisstischen Trieb und hat von daher mit Spiritualität wenig gemein, dafür umso mehr mit einem latenten Bedürfnis nach Spannungsabbau bzw. Spannungsvermeidung. In diesem Kontext wäre der oben beschriebene Event der Konvertierung der erste, und meist auch letzte Moment, indem das „Suchtmittel“ noch ausschließlich Glücksgefühle und Entspannung verursacht. Der nachfolgende Stress, der sich einstellt, wenn das vermeintliche Suchtmittel den Alltag eingenommen hat und die ständige Jagd nach diesem Glücksgefühl ohne Erfolgsaussicht vollzogen wird, kann zu diesem Zeitpunkt überhaupt nicht ermessen werden. Hier zeigt sich deutlich die Herausbildung eines Fetischcharakters in der Religionsausübung in gleicher Weise wie bei Suchtkranken, deren Rituale einzig dem Zweck des Stressabbaus und der Angstvermeidung dienen.

Die Schritte zur Fanatisierung ähneln denen des „sich Verliebens“

Die nach außen getragenen intra-psychischen Vorgänge, die augenscheinlichen Wesensveränderungen der Index-Klient*innen, werden als plötzliche Entfremdung wahrgenommen und mobilisieren ihrerseits starke Verlustängste bei den Angehörigen. Michael Lukas Möller vergleicht diese Situation m. E. recht zutreffend mit dem Eindruck, den frisch Verliebte in ihrer Umwelt hinterlassen inklusive der Verunsicherungen mancher Angehöriger oder Freunde, die damit gelegentlich einhergehen. Er benennt einige sichtbare Wesenszüge die, interessanterweise, zudem in der einen oder anderen Form in der Fachliteratur als Indikatoren für Manipulationsprozesse Eingang gefunden haben:

1. Beeinflussbarkeit
Voraussetzung dafür ist die innere Bereitschaft, die Empfänglichkeit, Aufgeschlossenheit, Neugierde und Verführbarkeit, Wege einzuschlagen, die die ausgetretenen Pfade des bisherigen Lebenswegs verlassen.

2. Idealisierung
Der ersten Begegnung folgt eine ununterbrochene Reihe angenehmster gegenseitiger Anerkennung. („love bombing“ durch die geliebten „Geschwister im Glauben“ oder durch die begehrte Person).

3. Isolation
Sinnen und Trachten ist ausschließlich auf den neuen Partner, bzw. das neue Milieu der „Rechtgläubigen“ gerichtet. Der Rest der Welt ist kaum noch von Interesse.

4. Trance
Eigenartig ist der Bewusstseinszustand. Er gleicht einer Trance. Dies entspricht der radikalen Bewusstseinseinengung/ Fokussierung auf ein einziges Objekt.

5. Disziplinierung
Vergiss mich nicht – denkt an mich, so lautet die Sehnsucht und Forderung der Verliebten. Der Wunsch des Anderen wird zum Befehl. Der Verliebte kann sich ebenso bis zur physischen und psychischen Erschöpfung für den anderen verzehren, wie das Mitglied einer totalitären Gemeinschaft.

6. Indoktrination
Endlos führen die Verliebten Gespräche über ihre ganze Existenz. Alles was wesentlich ist, wollen sie hören: jede Ansicht, jede Empfindung, jedes wichtige Ereignis im Leben. Im totalitären Milieu entspricht das der Infusion ihrer Doktrin, die in langen Nächten scholastischer Debatten vertieft wird.

7. Ritualisierung
Der Tagesablauf und das ganze Verhalten werden ritualisiert. Sie finden ihre eigenen Redewendungen, Gesten und Melodien und geben sich neue Namen. Das entspricht einem Rhythmisieren des neuen Daseins und damit der Festigung einer noch unklaren, wirren Realität.

8. Persönlichkeitswechsel
Vergleichbar unseren Konvertiten gewinnt der Verliebte eine neue Auffassung seiner Realität, die eine Mischung der beiden ursprünglich unterschiedlichen Wirklichkeiten darstellt.

9. Selbstaufgabe
Das Leben ist nicht mehr seins. Es gehört dem anderen. Der Andere, bzw. die Anderen sind sein Selbst, genau gesagt sein ideales Selbst.

10. Automatik
Nahezu automatisch, fast wörtlich und meist deutlich für die Umwelt zu identifizieren, wiederholen Verliebte Auffassungen ihres Partners, die auch für sie zu Überzeugungen wurden. Ähnlich geben unsere Konvertiten ihre Glaubens­sätze wieder.

11. Regression
Sie erscheinen nach außen zunächst wie glückliche Kinder, die etwas Neues für sich entdeckt haben, und werden dementsprechend nicht immer ganz für voll genommen. Was sie wiederum dazu veranlasst, sich der Umwelt gegenüber einer merkwürdig seligen Ernsthaftigkeit hinzugeben. Oder wahlweise ein altklug wirkendes Desinteresse, oder gar eine trotzige, teils wütende Ablehnung zu signalisieren.

12. Außensteuerung
Wie Gruppe und Führungspersonen alle Lebensregeln liefern, lassen sich auch Verliebte durch ihren Partner steuern. Der kann im Extremfall mit einem machen, was er will.

13. Innensteuerung
Während der Verliebtheit (oder der Konvertierung) können sich verinnerlichte Werte und Verhaltensnormen auflösen. Rückblickend kommen die jeweils Betroffenen oftmals ins Staunen darüber, zu welcher Radikalität im Verhalten sie in der Lage waren.

14. Identitätsveränderung
Die Selbstaufgabe führt in beiden Fällen nicht zu einem chaotischen Verlust der Identität. Vielmehr geht eine Identität in der anderen auf.

15. Sinnerfüllung
Der Wunsch, Teil von etwas Sinnvollen zu sein, ist in der neuen Gemeinsamkeit erfüllt. [20] Gleich Verliebten erleben sich unsere Konvertiten in ihrer neuen Umgebung angekommen und angenommen. Sie empfinden sich zugleich als „aufgehoben“ in der ganzen dialektischen Vielfalt dieses Begriffs

So wie in allen sozialen Beziehungen die mit einer Idealisierung beginnen und von Projektionen überflutet werden, folgt auch innerhalb des von uns vorgefundenen Milieus bald die Ernüchterung. Dies ist zuweilen mit extremen Schuld- und Schamgefühlen sowie starken Selbstzweifeln verbunden, die im Milieu noch verstärkt werden. Das gelingt deshalb, weil voreinander bereits viele Masken gefallen sind und ein Glaubensbekenntnis in diesem Fall mit der Erwartung der vollständigen Abkehr von der eigenen „sündhaften“ Geschichte einhergeht. Es herrscht eine „verschwörerische Intimität“ (Hantel-Quittmann, 1999). Da jeder Zweifel an der Gruppe und der Ideologie die ganze Angelegenheit in Frage stellt, müssen die Zweifel externalisiert werden. Zweifelnde werden zudem bezichtigt, sich in die Nähe des Externen/ Ungläubigen, ja des Satans zu begeben. Nur eine noch festere Anbindung an das Milieu und die Ideologie sowie das missionarische Dauerbekenntnis und die strikte Einhaltung der Gebote kann zur Erlösung von dieser unerträglichen Ambivalenz führen. Alle Gruppenmitglieder kennen diese Zumutungen und alle beteiligen sich daran. So bestätigen sie sich einander fortwährend in ihrer Destruktivität.

Eine Bestätigung von Möllers Sichtweise finden wir in der Praxis. Viele Index-Klient*innen berichten zudem von enttäuschenden Erfahrungen mit Partnerschaft und Liebe vor der Konvertierung, die zu einer existenziellen Identitätskrise geführt haben.

Die Fachliteratur stellt für die Hinwendung bestimmter Personen zu einem fanatischen Milieu folgende Formel zur Verfügung, die unter dem Begriff „Passung“ im Zusammenhang mit dem Indoktrinationsbegriff Anwendung findet:

A. Ein solcher Mensch muss die personalen Voraussetzungen in sich tragen, also über eine entsprechende Persönlichkeit verfügen.

B. Es bedarf des geeigneten Zeitpunktes, meist einer persönlichen Krise.

C. Das Angebot des totalitären Milieus muss zu A. und B. passen. [21]

Systemische Sicht bedeutet m. E., dass diese Formel eigentlich nur unter der Prämisse einer ganzheitlichen Betrachtung der „Ökologie der menschlichen Entwicklung“ in ihrer Tiefe und Reichweite verstanden werden kann.

Mit einem Wort: Auf den Kontext kommt es an!

 

Fußnoten

[1] Freud, 1974, S. 51

[2] DSM-IV, V62.89 (Z71.8)

[3] Vergl.: Deutscher Bundestag (13. Wahlperiode), 1998

[4] Vergl.: Manemann, 2015

[5] Vergl. Bronfenbrenner, 1881

[6] Bronfenbrenner, 1981, S. 37ff.

[7]  Vergl. MEW 8, 1969, S. 115

[8]  Vergl. MEW 3, 1969, S. 5

[9] Wilde, 2009, S. 89

[10] Schülein, 1981, S. 25ff.

[11] Reuter, 2000

[12] Manemann, 2015, S. 15

[13] Reemtsma, 2015, S. 14

[14] Vergl. Minuchin, 1997

[15] Vergl.: Huxley, 1949

[16] Vergl. Hantel-Quitmann, 1999, S. 23ff

[17] Vergl. Hantel-Quittmann, 1999 / H-Q`s Text beschreibt eine Therapie, in der die Klientin dieses Gleichnis assoziert.

[18] Sloterdijk, 1993, S. 118ff.

[19] Sloterdijk, 1993, S. 156

[20] Vergl. Moeller, 1979, S. 28ff

[21] Vergl. Hantel-Qitmann

 

Literatur

American Psychiatric Association (Hg.), Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders / DSM-IV-TR“, 1996.

Bronfenbrenner, Urie, „Die Ökologie der Menschlichen Entwicklung“, Stuttgart, 1881.

Deutscher Bundestag,  „Endbericht der Enquete-Kommission: Sogenannte Sekten und Psychogruppen“, Drucksache 13/10950, Bonn, 1998.

Freud, Sigmund, „Die Zukunft einer Illusion“, SA Bd. 9, Frankfurt a. M., 1974.

Hantel-Quitmann, Wolfgang, „Auf der Suche nach einer neuen Familie – Vom Sinn der Sekten“, in: AG Kinder- und Jugendschutz Hamburg e.V. (Hrg.): „Individuum – Sucht – Gesellschaft“, Hamburg, 1999.

Huxley, Aldous, „Die Ewige Philosophie“, Zürich, 1949.

Manemann, Jürgen, „Der Dschihad und der Nihilismus des Westens“, Bielefeld, 2015.

Marx, Karl, „Thesen über Feuerbach“, MEW Bd. 3, Berlin, 1969.

Marx, Karl,Der achtzehnte Brumaire des Louis Bonaparte“, MEW Bd. 8, Berlin, 1969.

Minuchin, Salvadore, „Familie und Familientherapie, Theorie und Praxis struktureller Familientherapie“, Freiburg i. B., 1997.

Moeller, Michael Lukas, „Zwei Personen – eine Sekte“, in: Kursbuch 55, Berlin, 1979.

Reemtsma, Jan Philipp, „Gewalt als attraktive Lebensform betrachtet“, in: Mittelweg 36, Heft 4, Hamburg, 2015.

Reuter, Alexandra, „Die einen und die anderen – oder die Totalität des Pluralismus“, in: standpunkt sozial – Hamburger Forum für soziale Arbeit, Heft 1, 2000.

Schülein, Johann August, „Sinnprobleme in Industriegesellschaften am Beispiel der Jugendsekten“, in: Schülein, Horn, Rammstedt (Hrg.), Politische Psychologie, Entwürfe zu einer historisch-materialistischen Theorie des Subjekts,  Frankfurt a. M., 1981.

Sloterdijk, Peter, „Weltfremdheit“, Frankfurt a. M., 1993.

Wilde, Oscar,  „Denken mit Oscar Wilde“, Zürich, 2009.

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