Falsche Signale. Zunehmender Islamismus an Schulen?
4. Dezember 2020 | Diversität und Diskriminierung, Radikalisierung und Prävention, Religion und Religiosität

Seit dem Mord an Samuel Paty melden sich immer wieder Lehrer*innen zu Wort, die ihre Ängste vor islamistischer Gewalt schildern und nach Maßnahmen gegen den offenbar anwachsenden Islamismus unter (muslimischen) Jugendlichen rufen. Doch was haben die Konflikte im Klassenzimmer tatsächlich mit islamistischer Radikalisierung zu tun? Ein Kommentar von ufuq.de-Co-Geschäftsführer Dr. Jochen Müller.

Ein wütender elfjähriger Junge droht einige Tage nach dem Mord an Samuel Paty seiner Lehrerin, zu der er eigentlich ein gutes Verhältnis hat, in einer emotional aufgeladenen Situation, sie zu enthaupten. Der Vorfall schafft es in alle Medien, die unisono nach dem „radikal-islamistischen“ Hintergrund eines offensichtlich verhaltensauffälligen Kindes fragen. In der Folge melden sich weitere Lehrer*innen, die Opfer „islamistischer Hetze“ geworden und von Schüler*innen bedroht worden seien. Auch diverse Lehrer*innenverbände veröffentlichten in den vergangenen Wochen eine ganze Reihe von offenen Briefen und Erklärungen, in denen sie ihre Erfahrungen mit Jugendlichen und ihre Ängste vor ihnen schildern und nach Maßnahmen gegen den offenbar anwachsenden Islamismus unter (muslimischen) Jugendlichen rufen.

Tatsächlich stehen Lehrer*innen und Schulen tagtäglich vor großen Herausforderungen. Viele ihrer Sorgen und Ängste sind verständlich. Denn es gibt sie, die teils in (verbal)aggressiver Weise ausgetragenen Konflikte im Klassenzimmer zu Geschlechterrollen, Evolutionstheorie, Händegeben, Nahostkonflikt, Schweigeminuten oder Fasten im Ramadan, um nur ein paar zu nennen. Aber: Mit islamistischer Ideologisierung haben sie in der Regel nichts zu tun – auch wenn sich Jugendliche auf den IS oder auf Attentate beziehen, weil es ihnen maximale Aufmerksamkeit garantiert. Das ist unsere Erfahrung aus vielen Jahren Arbeit an Schulen mit Jugendlichen und Lehrer*innen. Das schnell vergebene Islamismus-Label feuert aber solche Konflikte noch an und stellt Jugendliche, die in der Regel gar nicht besonders religiös sind, sich aber in irgendeiner, mitunter massiv provozierenden Form auf „ihre“ Religion oder „ihre“ Kultur berufen, unter Generalverdacht. Mehr noch: Der Verweis auf Islamismus lenkt davon ab, dass die genannten Konflikte sehr wohl von pädagogischen Fachkräften bearbeitet werden können (und müssen) und sich dazu nicht erst die Jugendlichen und ihre Eltern, Gesetze, die Politik oder gar die Religion ändern müssen.

In der Regel haben es pädagogische Fachkräfte also mit „problematischen“, konfliktiven oder aggressiven Positionen und Verhaltensformen von Jugendlichen zu tun, die nicht direkt auf eine extremistische Ideologie oder gar Zugehörigkeit zu einer entsprechenden Organisation schließen lassen. In diesen Fällen können Pädagog*innen auf der Grundlage ihres fachlichen Know-hows agieren (und damit auch etwaigen Radikalisierungsprozessen vorbeugen). Wenn Pädagog*innen aber gravierende Veränderungen bei „ihren“ Jugendlichen feststellen, die auf Radikalisierungsprozesse hindeuten könnten, sollten sie sich im Kolleg*innenkreis beraten und das Gespräch mit den Jugendlichen suchen. Verdichten sich in diesem Zuge die Anzeichen für eine extremistische Ideologisierung, können außerschulische Beratungsstellen eingeschaltet werden, die es inzwischen überall gibt und die sich des Falls professionell annehmen, indem sie die Schule im weiteren Vorgehen unterstützen.

Leider stecken Schule und Lehrer*innenausbildung in der Migrationsgesellschaft noch immer in den Kinderschuhen. Außerdem stehen Schulen und Lehrer*innen bei weitem nicht die Ressourcen zur Verfügung, die nötig wären, um solche gesamtgesellschaftlichen Aufgaben allein zu stemmen. Daran zu erinnern und mehr Ressourcen anzumahnen, ist wichtig und richtig. Aber die meisten der genannten Fragen und Konflikte ließen sich dennoch bearbeiten (viele Lehrer*innen und Schulen tun das auch schon), wenn die Jugendlichen in ihren Nöten, Bedarfen, Interessen, Biografien und Erfahrungen nicht abgestempelt, sondern ernst genommen werden. Denn erst wenn Gesellschaft und Schule den Jugendlichen keine alternativen Angebote machen, sind die Antworten interessant, die Islamisten, Nationalisten, Rassisten, Sekten, Drogen oder „Clans“ ihnen geben.

Ein aktuelles Beispiel: Wenn Jugendliche sich angeordneten Schweigeminuten zum Mord an Samuel Paty (oder zum Anschlag auf Charlie Hebdo) verweigern, ist das nicht Anzeichen von Islamismus und Sympathie für terroristische Mörder. Selbst wenn sie in diesem Kontext den Mord rechtfertigen, bleiben sie in erster Linie wütende Jugendliche. Sie ahnen, dass solche Schweigeminuten auch eine Machtdemonstration darstellen, fühlen sich überwältigt. Und sie stellen berechtigte Fragen: Warum wird hier geschwiegen, bei anderen vergleichbaren Ereignissen wie in Hanau oder Christchurch aber nicht? Wird mit zweierlei Maß gemessen? Solchen legitimen Fragen, Interessen und Gefühlen von Ungerechtigkeit und Ungleichheit kann in der Klasse nachgegangen und darüber gesprochen werden – um sich im Anschluss idealerweise darauf zu verständigen, in welcher Form und mit welchem Ziel gemeinsam und solidarisch der Opfer von Gewalt gedacht werden kann. Das braucht Zeit, Raum, ein offenes Ohr und das in kontinuierlicher Auseinandersetzung gewachsene Vertrauen in die Jugendlichen. Auf dieser Basis gelingt auch Konfrontation, wo sie erforderlich ist. Die Jugendlichen als „Islamist*innen“ zu verdächtigen, wäre hingegen genau das falsche Signal.

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