„Es ist gut, zornig zu sein“ – Ein Interview mit dem österreichischen Politikwissenschaftler Rami Ali
19. März 2019 | Jugendkulturen und Soziale Medien, Radikalisierung und Prävention

Seit Dezember 2017 ist in Österreich eine Regierung an der Macht, deren Politik von der rechtspopulistischen FPÖ geprägt ist. Uns hat interessiert, wie sich der politische Kontext auf die Arbeit von Aktivist_innen, Wissenschaftler_innen und Akteur_innen der Präventionsarbeit auswirkt. Dazu haben ufuq.de-Mitarbeiter*innen Sakina Abushi und Pierre Asisi den Politologen und Islamwissenschaftler Rami Ali aus Wien zum Gespräch getroffen. Rami arbeitet in der Jugend- und Erwachsenenbildung und ist Vorstandsmitglied des Vereins Turn – Verein für Gewalt- und Extremismusprävention, der das Online-Filmprojekt „Jamal al-Khatib – Mein Weg!“ umsetzt.

ufuq.de: Rami, ihr habt in Österreich seit mehr als einem Jahr eine Regierung, die aus der ÖVP und der rechtspopulistischen FPÖ besteht. Wie wirkt sich das auf deine Arbeit als Aktivist, als Wissenschaftler und als Akteur der Präventionsarbeit aus?

Rami: Die gesellschaftliche Stimmung könnte, gelinde gesagt, besser sein. Das trifft auf den gesamten deutschsprachigen Raum zu. Aber Österreich ist klein, und da spürt man solche Veränderungen wesentlich intensiver als in Deutschland. Es ist kraft- und zeitraubend, wenn am laufenden Band Dinge passieren, zu denen man Stellung beziehen muss. Ich habe auch den Eindruck, dass die Diskussionskultur in Deutschland ein bisschen anders ist als in Österreich. In Österreich reden wir gerne über Themen, die irgendwas mit Integration oder – noch besser – dem Islam zu tun haben, ohne dafür wirklich empirische Daten zu haben. Das können wir richtig gut in Österreich.

Das können wir aber auch.

Vielleicht, aber die Forschungslage in diesem Themenbereich ist in Deutschland viel besser! In Österreich nimmt das empirisch unbelegte Schwadronieren zum Teil wirklich absurde Züge an. Mit der neuen Regierung ist dieser Geist jetzt auch in das Parlament eingezogen, ja hat sogar Regierungsverantwortung. Ich beobachte, dass Positionen, die dem rechten bis rechtsextremen Spektrum entstammen, komplett in der Mitte der Gesellschaft angelangt sind. Dazu hat natürlich auch unsere Regierung beigetragen, die Rassismus und Fremdenfeindlichkeit salonfähig gemacht hat.

Heinz-Christian Strache, unser Vizekanzler (FPÖ), hat vor Kurzem dem Portal „Politically Incorrect“ (PI-News) ein Interview gegeben. „Politically Incorrect“ ist ein rechtsextremer, islamfeindlicher Blog, der vom bayerischen Verfassungsschutz als propagandistische Plattform verfassungsschutzrelevanter Netzwerke eingestuft wird. Das ist der politische Kontext, in dem wir derzeit arbeiten.

Wie sieht es im Präventionsbereich aus?

Das Präventionsspektrum ist sehr beschränkt. Die Fördermöglichkeiten sind begrenzt. Das ist auch der Grund, warum wir uns für das Projekt Jamal al-Khatib jetzt Fördergelder aus Deutschland gesucht haben: Die zweite Staffel wird von der Bundeszentrale für politische Bildung finanziert, die erste Staffel haben wir noch zu einem großen Teil – außer einer kleiner Förderung durch die Stadt Wien – ehrenamtlich produziert.

Jamal al-Khatib wird ein deutsches Projekt?

Genau. In Deutschland gibt es total viele coole Initiativen, die sogar von ihrer Arbeit leben können. Ob das jetzt politische Bildung ist, Präventionsprojekte oder Medienprojekte wie die Datteltäter, es gibt viele Projekte, die eine tolle Arbeit auf Augenhöhe leisten. All diese Projekte hätten in Österreich keine Chance auf staatliche Unterstützung.

Lass uns über das Projekt „Jamal al-Khatib – Mein Weg!“ sprechen. Jamal al-Khatib ist ein partizipatives Peer-to-Peer Projekt mit dem Ziel, islamistischer Propaganda alternative Erzählungen von jugendlichen Aussteigern aus der jihadistischen Szene entgegenzusetzen. Wir finden die Entstehungsgeschichte des Projekts interessant: Ihr habt bei der Erstellung der Materialien ja tatsächlich mit radikalisierten Jugendlichen zusammengearbeitet.

Das Projekt ist folgendermaßen entstanden: Ein Freund und Kollege von mir, der Sozialarbeiter ist, hat einen Jugendlichen betreut, der einen Ausreiseversuch unternommen hat. Dieser Jugendliche ist dann ins Gefängnis gekommen, nicht wegen des Ausreiseversuchs, sondern wegen kleinerer krimineller Aktivitäten. Er hatte dann sehr viel Besinnungszeit im Gefängnis und hat schließlich gesagt, er würde gerne etwas gegen den sogenannten „Islamischen Staat“ tun und ein Buch über seine Erfahrungen schreiben. Mein Freund hat ihm gesagt: „Ist ja cool, dass du was machen möchtest, aber ein Buch ist vielleicht nicht der beste Weg, um Jugendliche zu erreichen. Wie wäre es denn, wenn du kleinere Texte schreibst, die wir dann in Form von Videos rausbringen?“ Das hat ihm super gefallen.

So haben wir mit der Arbeit angefangen und die Gruppe von Jugendlichen, die an dem Projekt mitwirkten, ist mit der Zeit immer größer geworden. Die Hälfte von ihnen hatte tatsächlich Erfahrungen in der Szene, einige haben auch Ausreiseversuche unternommen. Die andere Hälfte hat vielleicht ab und an sympathisiert, sich da aber nicht reinziehen lassen. Jamal al-Khatib, der ja ein fiktiver Charakter ist, erzählt die Storys von diesen Jugendlichen, deren Erfahrungen ein breites Spektrum abdecken.

Welche Themen werden bei Jamal al-Khatib angesprochen?

Es gibt in den Videos ganz verschiedene Themen und damit auch unterschiedliche Anknüpfungspunkte für Jugendliche: Da wäre zum einen dieses Gefühl der Ohnmacht bei den Jugendlichen. Es geht ja in der ersten Staffel viel um Zorn, darum, dass es gut ist, zornig zu sein, und in welchen Kanälen man das rauslassen kann. Jamal spricht den Begriff der Heimat an, und was es für ihn bedeutet, wenn er ständig negative Dinge über den Islam in den Medien liest. Er fragt sich, warum es denn nicht auch positive Erzählungen gibt.

Auch Diskriminierung ist ein großes Thema bei den Jugendlichen. Es geht dabei um emotionale Integration, und wenn wir das nicht angehen, dann lassen wir ein Riesenfeld für andere Akteure, die diese Themen besetzen können. Wir müssen die Entfremdungserfahrungen von Jugendlichen benennen, sichtbar machen und aufarbeiten. Themen wie Heimat, Zugehörigkeit und Identität – das sind alles Dinge, die für die meisten muslimischen Jugendliche tatsächlich relevant sind, und die die Videos auch breit anknüpfungsfähig machen. Jamal al-Khatib ist deshalb ein Charakter, mit dem sich viele identifizieren können, auch wenn sie nicht exakt dasselbe durchlebt haben.

Ein weiteres Thema ist die Ablehnung von Demokratie als Staatsordnung – eine Haltung, die in neo-salafistischen Kreisen durchwegs populär ist. Hier versuchen wir zu vermitteln, dass die Werte, für die Demokratie steht, nämlich Freiheit, Gleichheit und Geschwisterlichkeit, doch eigentlich erstrebenswerte Werte sind. Wir schöpfen hier auch bewusst aus der islamischen Geschichte und authentischen Quellen. Die Jugendlichen reflektieren zum Beispiel auch über Entscheidungsfindungsprozesse im Freundeskreis, die ja auch dem demokratischen Prinzip folgen, und fragen dann: „Wenn das im Kleinen funktioniert, warum nicht auch im Großen?“

Ihr plant inzwischen die zweite Staffel. Um welche Themen soll es gehen?

Wir wollen die zweite Staffel thematisch ein bisschen breiter machen, gleichzeitig aber auch noch tiefer in die Themen einsteigen. Das betrifft zum Beispiel die Kernkonzepte dschihadistischer Ideologie, wie takfir oder al-wala‘ wa-l-bara‘. Wir werden diese Signalwörter des Dschihadismus, die zum Teil auch in islamistischen Strömungen zu finden sind, gezielt aufgreifen. Weitere Themen sind Demokratie und Islam, Ehre, Männlichkeitsvorstellungen und Geschlechterbeziehungen. Ganz wichtig wird in dieser Staffel auch ein Video sein, welches mit dem Zugang profeministischer Jugendarbeit zusammen mit jungen muslimischen Mädchen entstehen wird.

Ihr verwendet die Methode der narrativen Biographiearbeit, die auch in euren Workshops eine Rolle spielt. Worum geht es da genau?

Diese Methode ist die Grundlage des Projekts. Es geht darum, wirklich partizipativ mit den Jugendlichen zu arbeiten. Die Texte, mit denen wir arbeiten, sind die Erzählungen der Jugendlichen, ergänzt durch eine islamwissenschaftliche Untermauerung. Jede einzelne Änderung der Texte wird mit den Jugendlichen besprochen.

Ich finde diese Methode toll, stelle es mir aber auch sehr schwierig und zeitaufwendig vor, so zu arbeiten.

Aber es ist unglaublich befriedigend. Es ist deshalb so spannend, weil unsere Zielgruppe sich nicht auf die Jugendlichen beschränkt, die sich das Video am Ende anschauen, sondern weil auch mit den Jugendlichen, mit denen wir hier arbeiten, ein wichtiger Prozess stattfindet. Ein weiteres zentrales Element des Projekts ist die Idee, die Videos durch Online-Streetwork zu begleiten. Das bedeutet, dass wir nicht einfach die Videos ins Internet stellen und uns dann ausruhen. Jamal stellt in den Videos viele Fragen, er ruft dazu auf, stets den eigenen Weg zu hinterfragen und fordert die Zuschauer_innen zur Diskussion auf. Wir haben ein Online-Streetwork-Team, das sich um die Kommentare unter den Videos kümmert und mit den Jugendlichen ins Gespräch kommt, diskutiert und bei Bedarf auch weitervermittelt. Denn alternative Narrative in sozialen Medien reichen allein nicht aus. Man braucht zusätzlich einen konkreten Rahmen, um über die Inhalte zu sprechen.

Wie würdest du eure Zielgruppe beschreiben? Was eure Arbeit mit den Jugendlichen angeht, so habe ich den Eindruck, dass ihr eine stärker eingegrenzte Zielgruppe habt als wir bei ufuq.de, dass ihr also in der sekundären oder sogar der tertiären Prävention angesiedelt seid. Die fertigen Videos richten sich dann allerdings an ein breiteres Publikum.

Das stimmt, wir arbeiten ja auf verschiedenen Ebenen. Wir haben auch gemerkt, dass wir zu der Zielgruppe der potentiell radikalisierungsgefährdeten Jugendlichen durchdringen konnten: Wir haben ein Crawler-Programm programmiert, mit dem wir uns die Likes angeschaut haben: Wer hat Jamal al-Khatib geliked, und welche Seiten liked diese Person sonst noch? Es war eine Stichprobe von 500 Personen. Wir haben dann zum Beispiel gesehen, dass etwa ein Fünftel dieser Personen auch Pierre Vogel, Ansaar International und ähnlichen Seiten folgen. 15 Prozent folgten beispielsweise „Generation Islam“, 8 Prozent „Realität Islam“, 25 Prozent „Islamische Fakten“. Wir lernen daraus, dass wir Menschen erreichen, die nach Eindeutigkeit und Wahrheit streben. Sie haben Bedürfnisse, die wir versuchen, mit alternativen Angeboten zu befriedigen. Wir würden aber niemals behaupten, dass wir mit unseren Videos tief ideologisierte Menschen erreichen können. Es geht uns um Menschen, die noch suchen, die auf Identitätssuche sind, die auch einen gewissen Zorn verspüren, einen berechtigten Zorn wegen total vieler Ungerechtigkeiten, die passieren.

Gab es auch Fälle, in denen ihr bereits ideologisierte Personen erreicht habt?

Selten. Wenn wir positives Feedback von Jugendlichen bekommen haben, die wir als bereits ideologisiert wahrgenommen haben, dann haben sie oft gesagt, dass wir einen Zweifel bei ihnen gesät haben. Weil Jamal Fragen stellt, anstatt zu sagen: „So ist es.“ In einem Video zum Beispiel, in dem es darum geht, die Welt nicht in schwarz und weiß, in gläubig und ungläubig einzuteilen, fragt Jamal: „Wer sind denn die Menschen, die gegen PEGIDA demonstrieren? Wer sind denn die Menschen, die Geflüchteten aus muslimischen Ländern in Österreich helfen?“ Aber eine genaue Antwort gibt Jamal nicht. Die Zuschauer_innen sollen selbst darauf kommen, dass es hauptsächlich Menschen aus der Mehrheitsgesellschaft, Deutsche, Österreicher_innen und so weiter waren – also Menschen, die IS-Prediger als „Kuffar“, also als Ungläubige bezeichnen würden.

Du bist nicht nur in der Präventionsarbeit aktiv, sondern äußerst dich auch öffentlich zum Thema Islam in Österreich. Wenn man sich deinen Twitter-Account anschaut, merkt man schnell, dass du auch persönlich angegriffen wirst. So wurdest Du in der Vergangenheit beschuldigt, ein islamischer Fundamentalist oder radikaler Muslim zu sein.

Ja, das stimmt. Die Angriffe kommen oft aus einer rechten bzw. rechtsextremen Ecke. Ich persönlich kenne auch keine_n muslimische_n Wissenschaftler_in oder Aktivist_in in Österreich, die oder der nicht schon einmal in irgendeiner Art und Weise angegriffen wurde. Es gibt Personen, deren Ziel es ist, uns mundtot zu machen. Das ist auch Teil eines rassistischen Diskurses. Aber wir kennen das auch aus anderen exkludierenden Diskursen. So wird zum Beispiel Frauen vorgeworfen, „zu emotional“ und deshalb nicht rational genug oder „zu sensibel“ zu sein. Auch hier ist das Ziel, die Sprechenden zu delegitimieren und sie aus dem Diskurs auszuschließen. Der Widerstand dagegen ist alternativlos, auch wenn es zeit- und kraftraubend ist.

Wie genau sehen diese Angriffe aus?

Bestimmte Kreise durchforsten zum Beispiel mein Social-Media-Profil und versuchen dann, problematische Verbindungen herzustellen, oder sie werfen mir die Verharmlosung von einschlägigen Gruppen vor. Würde ich zum Beispiel im Hinblick auf Salafismus differenzieren und darlegen, dass es unterschiedliche Strömungen, etwa den intellektuellen, den aktivistischen/politischen und den dschihadistischen Salafismus gibt, so könnte man das als Verharmlosung werten und versuchen, mir einen Strick daraus zu drehen. Auch das habe ich erlebt. Das mit der Kontaktschuld kennt ihr in Deutschland ja auch, nämlich dass man versucht, eine Verbindung über mehrere Ecken zu irgendwelchen Gruppierungen herzustellen. Das ist eine Praxis, die sich in Österreich leider sehr bewährt hat, um den Sprechenden die Legitimation zum Sprechen zu entziehen.

Du wehrst dich in solchen Fällen auch gerichtlich.

Österreich ist ein Rechtsstaat. Wenn man jemanden als islamischen Fundamentalisten oder radikalen Muslim bezeichnet oder behauptet, eine Person verbreite Propaganda für den politischen Islam, kann man juristisch zur Rechenschaft gezogen werden, und daran werden sich diese Kreise gewöhnen müssen. Solche Unterstellungen sind für mich absurd, denn meine Arbeit richtet sich gegen all das, was mir unterstellt wird. Aber ich wehre mich, so gut ich kann. Die Leute, die andere verleumden, rechnen nämlich damit, dass man vor den finanziellen Kosten eines Gerichtsverfahrens zurückschreckt und sich daher nicht wehrt – und das stimmt ja auch, aber eben nur, solange man allein ist. Ich habe die Anwalts- und Gerichtkosten in der Vergangenheit durch Crowdfunding finanziert, jetzt habe ich eine Rechtsschutzversicherung abgeschlossen.

Das hört sich an, als ob du auch in Zukunft einiges zu tun haben wirst. Wie erklärst du eigentlich deiner Mutter, was du beruflich machst?

Ja, das ist ein bisschen schwierig. Meine Mutter sagt oft: „Ja, komm mal runter, beruhig dich wieder ein bisschen.“ Als ich 2013 der ägyptischen Regierung gegenüber Kritik geäußert habe, durfte ich fast vier Jahre lang nicht mehr nach Ägypten reisen. Das war für meine Mutter eine sehr schwierige Zeit, weil sie es immer gewohnt war, dass wir in den Sommerferien zusammen in Ägypten sind. Da hat sie oft gesagt: „Lass es doch sein.“ Aber ich dachte: „Ihr könnt vielleicht Aktivist_innen in Ägypten den Mund verbieten, aber nicht mir als Wiener.“ Für mich ist mein Aktivismus alternativlos, egal ob es um Ägypten geht oder um Österreich. Was mich antreibt, ist die Hoffnung, dass die Generation nach uns das nicht mehr machen muss. Dass unsere Kinder einfach sie selbst sein können, ohne diese permanente Skepsis, und mit einer Identität – oder mehreren –, die mehrdimensional und dynamisch ist, mit Zugehörigkeiten, die sich im Laufe eines Lebens auch wandeln können. Schauen wir mal.

 

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