In den Anfängen des ufuq.de-Projektes „Protest, Provokation und Propaganda“ war noch eine große Angst und Verunsicherung in der pädagogischen Arbeit mit Muslim_innen zu spüren. Heute fällt es vielen Pädagog_innen deutlich leichter, zu differenzieren und schwierige Situationen einzuordnen. Auch ist ein kritischer Blick auf die eigene Haltung heute bei den Teilnehmer_innen der Fortbildungen viel ausgeprägter. Was hat sich noch geändert? Mirjam Gläser und Alioune Niang berichten, wie sich die Projektarbeit entwickelt hat und welche Herausforderungen hinzugekommen sind.
Ihr arbeitet beide im Projekt „Protest, Provokation und Propaganda“ und macht seit mittlerweile mehr als drei Jahren Fortbildungen zu den Themen Islam, Islamfeindlichkeit und Islamismus für pädagogische Fachkräfte in Berlin. Haben sich die Fortbildungen in dieser Zeit verändert?
Mirjam Gläser: Als wir mit dem Projekt anfingen, konzentrierten sich die Anfragen auf die Themen Salafismus und Radikalisierung und kamen vor allem aus Schulen und von Behörden. Im Mittelpunkt stand oft der Wunsch nach Informationen: Was ist Salafismus? Wie kann man Salafismus erkennen? Mittlerweile geht es weniger um Salafismus an sich, sondern viel mehr um Konflikte in Schule und Jugendarbeit, die vielleicht religiös aufgeladen sind, bei denen aber klar ist, dass es nicht um eine Radikalisierung im engeren Sinne geht. Inhaltlich stehen heute Themen wie Migrationsgesellschaft, Islam, Diskriminierung und Rassismus im Vordergrund, die natürlich auch für die Präventionsarbeit relevant sind.
Interessant ist aber, dass sich die eigentlichen Fragen, mit denen die Teilnehmer_innen in ihrer Arbeit konfrontiert sind, kaum verändert haben. Wir hatten in der ganzen Zeit nur sehr wenige Fälle von Seiten der Teilnehmer_innen, bei denen es tatsächlich um eine konkrete Hinwendung zu salafistischen Szenen ging. In aller Regel geht es um allgemeine Konflikte im Umgang mit Religion und Religiosität.
Alioune Niang: Es gibt bis heute ein großes Bedürfnis, sich mit dem Islam auseinanderzusetzen: Worauf muss ich in der pädagogischen Arbeit mit Muslim_innen achten? Warum gibt es unterschiedliche Auslebungen des Islams? Wie kann ich Religion auch in meiner Arbeit ansprechen? Kopftuch, Ramadan, Essen – das sind Themen, die immer wieder kommen. Trotzdem ist es aus meiner Sicht auch heute noch wichtig, auch Informationen über Islamismus und Salafismus als Ideologie und Bewegung zu vermitteln. Die Teilnehmer_innen wollen Handwerkzeuge in Form von Wissen vermittelt bekommen. Dabei geht es um Handlungssicherheit für den Fall der Fälle, vorbereitet zu sein und zu wissen, wann ich mir Sorgen machen muss und wen ich dann ansprechen kann. Als ufuq.de 2015 mit dem Projekt begann, konnte man noch eine große Angst und Verunsicherung spüren, die Leute sahen sich in der Verantwortung, vorbereitet zu sein. Vielen Pädagog_innen fällt es heute deutlich leichter, zu differenzieren und schwierige Situationen einzuordnen.
Was heißt das konkret für eure Fortbildungen?
Gläser: Es geht immer noch um Islamismus und Radikalisierung, aber wir gehen heute viel stärker auf Diskriminierungserfahrungen ein, auf Rassismus und Geschlechterrollen. Themen wie Geschlechtergerechtigkeit oder Antisemitismus in Schule und anderen Bereichen werden ja ganz häufig an Muslim_innen festgemacht – und das hat natürlich Auswirkungen auf muslimische Jugendliche. Daher ist es für die Präventionsarbeit wichtig, auch an den Haltungen der Pädagog_innen zu arbeiten. Die Arbeit mit den Jugendlichen ist das eine. Genauso wichtig ist uns aber die Reflexion der Pädagog_innen über ihre eigene Haltung und ihre Wahrnehmungen. Sexismus und Rassismus sind ja keine Phänomene am rechten Rand, sondern finden sich in der Mitte der Gesellschaft. Solche Zusammenhänge sind auch für die Präventionsarbeit von Bedeutung.
Niang: Das Bewusstsein dafür, wie wichtig Selbstreflexion und ein kritischer Blick auf die eigene Haltung sind, ist heute bei den Teilnehmer_innen viel ausgeprägter. Das gilt übrigens nicht nur für Pädagog_innen, sondern zum Beispiel auch für Mitarbeiter_innen in Behörden. Welche Rolle spielt mein Blick auf die Jugendlichen? Wie verändert sich mein Umgang mit ihnen, wenn ich meine eigene Haltung reflektiere? Das sind Fragen, die sich Pädagog_innen und andere Fachkräfte heute viel eher stellen, und es gibt den Wunsch, dazu Anregungen zu bekommen. Das ist eine positive Entwicklung.
Ihr beschreibt eine größere Offenheit für solche Reflexionen und eine gestiegene Bereitschaft zur Arbeit an der eigenen Haltung. Steht das nicht im Widerspruch zu einer stärkeren Polarisierung der öffentlichen Debatte?
Niang: Ich glaube nicht, das schließt sich ja nicht aus. Genauso wie sich auf der einen Seite die Wahrnehmungen verhärten, gibt es gerade bei jüngeren Pädagog_innen eine sehr große Sensibilität und die Bereitschaft, sich auf solche Fragen einzulassen. Gleichzeitig fehlt es oft an Räumen, um sich über solche Themen auszutauschen und sich auch selbst zu hinterfragen.
Welche Erfahrungen habt ihr mit den unterschiedlichen Formaten gemacht? Wie schafft man einen Raum, um einen solchen Austausch zu ermöglichen?
Niang: Wir machen Fortbildungen mit einzelnen Kollegien oder Teams, aber auch Formate, in denen Teilnehmer_innen aus unterschiedlichen Handlungsfeldern zusammenkommen. Das ist besonders fruchtbar, weil man von den unterschiedlichen Erfahrungen und Rollen profitiert und im idealen Falle eine Vernetzung entstehen kann. Die Teilnehmer_innen sind dafür immer sehr dankbar.
Wir machen auch einzelne Fortbildungen mit Moscheegemeinden. Diese Kooperationen sind interessant, weil die Moscheen ja erstmal vor ganz anderen Problemen stehen, die zum Beispiel mit der ehrenamtlichen Struktur zusammenhängen. Aber dort sind eben auch Jugendliche und junge Erwachsene aktiv, die pädagogisch arbeiten und zugleich über religiöses Wissen verfügen, und das wollen die Gemeinden nutzen. Dabei geht es nicht unbedingt um Radikalisierung oder Präventionsarbeit, aber zum Beispiel um die Auseinandersetzung mit antimuslimischem Rassismus oder um die Förderung von pädagogischem Knowhow in der Arbeit der Gemeinden.
Gläser: Letztlich geht es auch um eine Professionalisierung der Jugendarbeit und des ehrenamtlichen Engagements. Das ist auch der Grund, warum wir solche Fortbildungen wichtig finden. Wir können Handwerkszeug vermitteln und stärken damit die Arbeit in den Gemeinden. Dabei geht es nicht um theologisches Wissen und Religionsunterricht, aber schon um Themen wie religiöse Vielfalt, die Wahrnehmung des Islams in der Gesellschaft oder Rassismus.
Niang: Das bietet auch die Chance zu einer Öffnung der Gemeinden, aber auch der Behörden, Schulen und anderen Einrichtungen. Es gibt ja das Bedürfnis der Gemeinden, auf andere zuzugehen und Vertrauen aufzubauen, aber die Umsetzung bleibt schwierig. Mit unseren Angeboten wollen wir sie dabei unterstützen.
Welche Rolle spielt denn Religion überhaupt in euren Fortbildungen?
Niang: Religion spielt eine große Rolle. Es geht natürlich auch um ein Wissen über den Islam, aber vor allem um ein Wissen über Religiosität: Welche Bedeutung hat Religiosität für mich – und für die Jugendlichen? Für viele Pädagog_innen ist es zunächst einmal irritierend, dass sich Jugendliche mit dem Islam identifizieren. Da ist es hilfreich zu wissen, dass religiöse Werte natürlich nicht nur mit der Religion zu tun haben, sondern dass es dabei letztlich oft um Fragen von Identität, Spiritualität, Lebensphilosophie und Zusammenleben geht. Also um ganz normale Themen, die alle betreffen.
Gläser: Ein Ansatz von ufuq.de ist es, religiöse Fragen in allgemeine, lebensweltliche Fragen zu übersetzen. Für viele Pädagog_innen ist es eine Entlastung, wenn sie merken, dass sie eben keine Islamexpert_innen sein müssen, um sich in ihrer Arbeit mit religiösen Fragen zu beschäftigen. Es ist daher wichtig, religiösen Fragen und Interessen von Jugendlichen einen Raum zu geben und sie in Fragen zu übersetzen, die das gesellschaftliche Zusammenleben betreffen. Aber es geht nicht nur um die Arbeit mit Jugendlichen. Die Themen Islam und Muslim_innen sind ja für die aktuelle gesellschaftliche Polarisierung ganz zentral, die Konstruktion von „Wir“- und „Die“-Gruppen funktioniert vor allem über diese Themen. Der Auseinandersetzung mit Religion wird daher in der politischen Bildungsarbeit der kommenden Jahre eine immer größere Bedeutung zukommen. Und wenn wir weiterdenken und uns fragen, welchen Themen wir vielleicht noch mehr Raum geben sollten, dann ist das aus meiner Sicht vor allem die Frage, wie wir Ambiguitätstoleranz fördern können – und zwar bei Jugendlichen wie bei Multiplikator_innen. Wie gehe ich mit Widersprüchen und Konflikten um? Die Attraktivität von extremistischen Ideologien jedweder Couleur besteht ja gerade darin, dass sie Eindeutigkeit und Klarheit vorspielen.
Niang: Deshalb ist es auch wichtig, immer wieder zu schauen, ob wir unsere Materialien und Methoden anpassen müssen. Zum Beispiel wenn es um Religiosität und die Bedeutung von Religion im Alltag geht. Manche Materialien, die vor einigen Jahren erstellt wurden, sind einfach überholt und gehen manchmal an den Bedürfnissen der Jugendlichen vorbei. Deswegen müssen wir auch immer aufpassen, dass wir wirklich mitbekommen, was die Jugendlichen beschäftigt – und wie sich die gesellschaftlichen Verhältnisse vielleicht verändern.
Woran macht ihr fest, ob eure Arbeit erfolgreich ist?
Gläser: Mir hat neulich jemand nach einer Veranstaltung gesagt: „I am still confused, but on a higher level!“ Das ist für mich ein Erfolg: Wenn jemand mit mehr Fragen als Antworten den Raum verlässt und trotzdem ein gutes Gefühl hat. Wir geben ja bewusst keine Antworten im engeren Sinne, sondern Anregungen, wie man mit Fragen und Konflikten umgehen kann. Wir wollen die Teilnehmer_innen im positiven Sinne irritieren und zum Denken anregen – und sie dazu ermutigen, Konflikte und Auseinandersetzungen zuzulassen. Denn Konflikte gibt es ja, und sie gehören zu einer pluralistischen Gesellschaft.
Niang: Und dafür schaffen wir einen Rahmen. In einer Fortbildung saßen kürzlich überwiegend Polizist_innen, aber auch zwei junge muslimische Pädagog_innen. Die Diskussion in der Runde war sehr emotional und kontrovers, aber am Ende kamen die Polizist_innen und die beiden Pädagog_innen zu mir und haben sich sehr für den regen Austausch bedankt. Für mich ist das ein Erfolg: Wenn wir solche Diskussionen offen führen können und am Ende trotzdem klar ist, dass alle Beteiligten von denselben demokratischen Grundlagen ausgehen mit unterschiedlichen Fassungen und Erfahrungen. Entscheidend ist zu betonen, dass jede Position seine Berechtigung hat.