Erinnerung zwischen Etablierung und Kritik vier Generationen nach dem Holocaust
10. April 2024 | Geschichte, Biografien und Erinnerung

Denkmal für die ermordeten Juden Europas; Bild: Dias Jakupov/ Unsplash

Die Etablierung institutionalisierter Formen des Gedenkens ist ein zentraler Baustein im Rahmen der Aufarbeitung des Nationalsozialismus. Mitunter entsteht dadurch jedoch das Bild einer Gesellschaft, die die „richtigen“ Lehren bereits gezogen hat. Astrid Messerschmidts Beitrag zeigt, dass differenziertes historisches Wissen nötig ist, um Nachwirkungen dieser Zeit in der Gegenwart verstehen zu können. Doch wodurch zeichnet sich eine solche kritische Erinnerungspädagogik in der Migrationsgesellschaft aus? Und welche Rolle kann dabei die außerschulische politische Bildungsarbeit spielen?

Prozesse der Geschichtsaneignung und der Geschichtsvermittlung gehen immer von der Gegenwart aus und sind von gegenwärtigen Verhältnissen beeinflusst, ohne ganz darin aufzugehen. Denn der historische Gegenstand selbst ist von eigenem Gewicht, er wirkt auf diejenigen, die sich auf ihn beziehen. Auf diesen beiden Ebenen, in der Gegenwart der Geschichtsbeziehungen und in der Konfrontation mit dem Eigensinn des Geschichtlichen verorte ich die Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus in Bildungskontexten.

Der Begriff der Erinnerung steht in diesem Text für eine gesellschaftstheoretische Kategorie kollektiver Bezugnahmen auf Tat- und Leidenskomplexe der Vergangenheit, die in der Gegenwart nachwirken. Dies muss heute betont werden, um Erinnerung nicht von persönlichem Erleben abhängig zu machen und die überindividuelle Bedeutung des spezifischen historischen Zusammenhangs, der mit der Metapher „Holocaust“ bezeichnet wird, zu unterstreichen. Die Bezeichnung „Holocaust“ verwende ich im Wissen um seine kultur-industrielle Verwertung, um deutlich zu machen, dass jede Autor:innenschaft nach Auschwitz involviert ist in die Besetzungen und Vereinnahmungen, die in den Jahrzehnten nach 1945 praktiziert worden sind.

Im folgenden Text skizziere ich Aneignungen der NS-Verbrechensgeschichte in pädagogischen Kontexten im Spannungsfeld von etablierten, institutionalisierten Praktiken des Erinnerns und dem kritischen Gehalt, der von dem historischen Gegenstand ausgeht und der verschwinden kann, wenn der Vergangenheitsbezug für eine gesellschaftliche Selbstvergewisserung benutzt wird (vgl. Messerschmidt 2015). Dabei schließen sich Etablierung und Kritik keineswegs aus. Ohne die Institutionen des Gedenkens wäre der Raum der Kritik hierzulande kleiner und enger. Mit ihren Bildungsangeboten bietet etablierte, institutionalisierte Erinnerungsarbeit Gelegenheiten für eine kritische Selbstreflexion, ohne dafür garantieren zu können. Zugleich sind die Institutionen der Geschichtsbewusstseinsvermittlung auf „critical friends“ angewiesen, die ein Gespür für Instrumentalisierungen, Verharmlosungen und Gleichsetzungen (vgl. Messerschmidt 2022) aufbringen, ohne deshalb Erinnerungsarbeit zu verwerfen.

Erinnerung zwischen Etablierung und Kritik

Den Prozess der Etablierung institutionalisierten Gedenkens schilderte Volkhard Knigge vor mehr als zwanzig Jahren anhand der veränderten Rolle, die die KZ-Gedenkstätten in der politischen Öffentlichkeit der Bundesrepublik Deutschland spielen. Mit dem Gedenkstättenförderkonzept des Bundes von 1999 veränderte sich die Institutionalisierung dieser Orte. Sie wurden, ähnlich wie Theater oder Museen, zu Teilen der „kulturellen Grundausstattung der Bundesrepublik“ (Knigge 2001, 136). Die Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus ist zweifellos in der Mitte der Gesellschaft angekommen und der Hinweis darauf, dass sie das bis 1990 keineswegs gewesen ist, wirkt für heutige Schüler:innen, Jugendliche und junge Erwachsene abstrakt und weit entfernt von ihren aktuellen Erfahrungen mit der Art und Weise, wie die NS-Verbrechen in Schule und medialer Öffentlichkeit thematisiert werden. Wie lässt sich in dieser Situation etablierten Erinnerns noch irgendetwas anderes aus der zeitgeschichtlichen Thematisierung gewinnen als Abgrenzung von einer monströsen Gewaltgeschichte und die Bestätigung der gegenwärtigen Demokratie? Schließlich geben die Verbrechen im NS-Herrschaftskontext immer eine Kontrastfolie für eine Gegenwart ab, die demgegenüber heil, friedlich und gerecht erscheint. Erfahrungen aus der Gedenkstättenpädagogik zeigen, dass „die Konfrontation mit der Monstrosität der nationalsozialistischen Verbrechen“ (Scheurich 2010, 41) die meisten Besucher:innen nicht dazu anregt, „die eigene (demokratisch verfasste) Gegenwartsgesellschaft auf uneingelöste Versprechen und Rechte hin kritisch zu befragen. Heutige Verletzungen von Menschen- und Grundrechten werden im Vergleich als nicht so dramatisch angesehen“ (ebd., 42). Gerade im Kontext schulischer Bildung werden die früheren Konzentrationslager häufig aufgesucht, um an ihnen das Andere der Gegenwart, den Kontrast zu Demokratie und Menschenrechten zu demonstrieren. In der Folge entsteht an den „moralisch hoch aufgeladenen Gedenkorten“ (ebd., 41) ein „Konformitätsdruck“ (ebd.), so als stünde am Tiefpunkt der Zivilisation die Orientierung für das richtige und angemessene Verhalten zur Verfügung.

Bildungsarbeit nach Auschwitz wird jedoch belanglos, wenn der Schauder über Grausamkeit und entgrenzte Gewalt den Zugang zum Thema bestimmt und der Eindruck vermittelt wird, die richtigen Lehren aus der Geschichte seien bereits gezogen und müssten von der jüngeren Generation nur noch nachvollzogen werden. Um sowohl die Eskalationsprozesse zu begreifen, die zur massenhaften Beteiligung an Gewalthandlungen führen, als auch den Prozess der Normalisierung dieser Gewalt, bedarf es eines differenzierten historischen Wissens. Erst ein Ansatz, der ideologische Elemente und darauf bezogene politische Praktiken verdeutlicht, macht klar, was nach wie vor an dieser Geschichte nachwirkt und kritisch zu reflektieren ist: Die völkische Ideologie rassistisch und antisemitisch begründeter Überlegenheitsansprüche, die damit verbundene Autoritätsbehauptung und Unterwerfungsbereitschaft, der Zusammenhang von Gehorsam und Gleichgültigkeit, der Mangel an aktiver Menschlichkeit und die Attraktivität der Zugehörigkeit zur sogenannten Volksgemeinschaft sind Elemente für eine analytische Auseinandersetzung, aus der Fragen an die Gegenwart hervorgehen. Es sind Fragen, die unsere strukturelle Einbindung in heutige Gewaltverhältnisse betreffen, ohne diese Verhältnisse mit dem Holocaust gleichsetzen zu können oder zu müssen.

„Erziehung nach Auschwitz“ als vernachlässigter pädagogischer Auftrag

Anknüpfend an Adornos Überlegungen in seinem berühmten Rundfunkvortrag von 1966 (Adorno 1971), die Auschwitz als „Bruch aller Menschlichkeit“ (Meyer/ Voßberg 2019, 148) verstehen, fragten Nikolaus Meyer und Timo Voßberg, wie der pädagogische Auftrag sich in den „institutionelle(n) Selbstbeschreibungen“ erziehungswissenschaftlicher Studiengänge wiederfindet. Dabei zeigte sich, dass die „reflexive Aufarbeitung der Verstrickungen pädagogischer Akteur*innen unterbleibt“ (ebd., 154) und die Zeit des Nationalsozialismus nur als eine Phase von vielen erscheint. Die Mittäter:innenschaft der pädagogischen Akteur:innen wird nicht thematisiert. Zwar wird auf die Auseinandersetzung mit Autoritäts- und Abhängigkeitsstrukturen verwiesen, diese jedoch nicht zeitgeschichtlich eingeordnet oder in einen expliziten Zusammenhang von Erziehung und Bildung nach Auschwitz gestellt. Vereinzelt erfolgen Bekenntnisse zu Konzepten der Frankfurter Schule[1], um sich in deren Tradition zu stellen. In den wenigen Fällen von Modulbeschreibungen, die sich auf Adornos Forderungen an die Erziehung beziehen, tauchen diese „in einer Art Anrufung“ auf, die „inhaltlich über das bloße Labeling kaum hinaus“ kommen (ebd., 157). Es kommt zu keiner dezidierten Thematisierung und somit auch nicht zu einer Übertragung in die Studienstruktur. Die Erziehungswissenschaften fallen letztlich nicht unter die sechs zentralen Disziplinen zur Vermittlung des Holocaust in Deutschland, die nach Verena Nägel und Lena Kahle (2018) die Geschichts-, Literatur- Kultur-, Politikwissenschaften sowie die Theologie und die Jüdischen Studien bilden. Deshalb bleibt es der mehr oder weniger zufällig gegebenen Zusammensetzung der Lehrenden in der Erziehungswissenschaft und in pädagogischen Studiengängen überlassen, ob und wie Inhalte einer reflexiven Aneignung der Geschichte und Wirkung des Holocaust angehenden Pädagog:innen vermittelt werden, damit diese selbst zur Vermittlung fähig werden. Zu den Vermittlungsfähigkeiten gehören ganz wesentlich geeignete Thematisierungen von Gegenwartsbezügen bei gleichzeitiger Differenzierung der gesellschaftspolitischen Kontexte.

Die außerschulische politische Bildung bietet hierfür viele Möglichkeiten, da sie von Bewertungen und Benotungen entlastet ist. In außerschulischen Kontexten werden bis heute anregende Erfahrungen gemacht, die für viele Beteiligte Zugänge zur Auseinandersetzung mit der Geschichte und Wirkung des Nationalsozialismus eröffnet haben, die sie ein ganzes Leben begleiten. Dieses bleibende Interesse bleibt aber aus, wenn der Holocaust als Belehrungsgegenstand in ein einheitliches und abgeschlossenes Narrativ gefasst wird.

Insbesondere in schulischen Kontexten der Geschichtsvermittlung wird der Zeitrahmen „1933 bis 1945“ häufig eingesetzt, so als sei dies eine Sonderzeit gewesen, losgelöst vom dem Davor und dem Danach. Darin kommt ein konventionelles Geschichtsverständnis zum Ausdruck, das Geschichte als reine Vergangenheit auffasst, ohne sich selbst darin als gemeint und angesprochen zu erkennen (vgl. Benjamin 1974 [1940], 695). Walter Benjamin hat einen kritischen Geschichtsbegriff erarbeitet, der die Unabgeschlossenheit vergangener Taten und Überzeugungen betont. Vergangenheit liegt demnach nicht einfach vor, sondern wird durch Bildungsprozesse angeeignet und zur Geschichte gemacht. Vor diesem Hintergrund sind Benjamins „Thesen zum Begriff der Geschichte“[2] für eine pädagogische Reflexion des Erinnerns an den Holocaust auch heute hoch relevant. Vergangenes historisch zu artikulieren, geht für Benjamin weit hinaus über das Wissen darum, „wie es denn eigentlich gewesen ist“ (ebd., 695).

„Es heißt, sich einer Erinnerung bemächtigen, wie sie im Augenblick der Gefahr aufblitzt“ (ebd.). Die Gefahr besteht in der Instrumentalisierung, der Konformität, dem Verlust von Widerständigkeit, die im Erinnern an- gelegt ist. Gefahr meint hier offensichtlich nicht, überwältigt zu werden von einem übermächtigen Gegner, sondern sich aufzugeben, sich im Konformismus einzurichten. Sich der Erinnerung bemächtigen bedeutet nun gerade, die Überlieferung nicht dem Konformismus zu überlassen, „der im Begriff steht, sie zu überwältigen“ (ebd.). Dies bedarf der kritischen Selbstreflexion derer, die Überliefertes tradieren und aktiv erinnern. Sie sind nicht sicher vor der Gefahr, aus der Überlieferung eine Legitimation ihrer Gegenwart abzuleiten, sie sind nicht sicher vor der Gefahr, die Vergangenheit für ihre Zwecke zu instrumentalisieren. Genau dies ist das Thema für heutige Kontroversen um das Erinnern an den Holocaust und dessen pädagogische Gestaltung. Es kommt darauf an, wie es als Gestaltetes begriffen wird, in wessen Interesse und mit welchem Maß an Bereitschaft zur Selbstreflexion. Im Benjamin’schen Sinne wäre ein Erinnern, das die Vergangenheit zum Gegenstand festgefügter Rituale macht und sie museal ausstellt, ein konformistisches Erinnern.

Für die Erinnerungspädagogik heißt das, den Umgang mit dem Nationalsozialismus nicht zu einer Angelegenheit nationaler Identität zu machen. Die Wissensvermittlung über den Holocaust – sein Ausmaß, die Art der Durchführung und seine ideologische Begründung – kann keiner Selbstbestätigung dienen über das eigene moralisch gefestigte Geschichtsbewusstsein oder über einen nationalkollektiven Konsens der Aufarbeitung. Pädagogische Erinnerungsarbeit hat zur Kritik an Gemeinschaftsvorstellungen beizutragen, in denen die Ideologie der Volksgemeinschaft und ihre rassistischen und antisemitischen Begründungen nachwirken. Für die Pädagogik ergeben sich daraus Anforderungen, die eigenen gesellschaftlich normalisierten Unterscheidungspraktiken zu überdenken.

Erinnerung in der postnationalsozialistischen Migrationsgesellschaft

In den pädagogischen Zugängen zur Zeitgeschichte mit ihrem zentralen Gegenstand Nationalsozialismus wird zwar einerseits festgestellt, „dass sich Jugendliche mit und ohne Migrationshintergrund in ihren Repräsentationen der NS-Vergangenheit manchmal nicht unterscheiden“ und dass der „Migrationshintergrund“ keineswegs immer eine Rolle spielt (Kölbl 2009, 68). Dennoch wird die dualistische Unterscheidung immer wieder bedient, wenn beispielsweise das Geschichtswissen von „deutsche(n) Jugendliche(n) ohne Migrationshintergrund“ mit jenem von „Jugendlichen in Deutschland mit Migrationshintergrund“ verglichen wird (ebd., 70). Migration wird zu einem Kriterium für die Wahl von Zielgruppen pädagogischer Forschung bei gleichzeitiger kritischer Reflexion der Migrationskategorie. Zwar bilden unterschiedliche Herkunfts- und Familienhintergründe soziale Ausgangspunkte für die Geschichtserinnerung. Relativiert werden diese Unterschiede aber durch den gemeinsamen gesellschaftlichen Kontext, innerhalb dessen sich Jugendliche mit Geschichte auseinandersetzen. Insofern kann es nicht um ein Entweder-Oder gehen. Weder eine Ignoranz gegenüber dem Migrationsaspekt noch dessen identitäre Aufladung entsprechen den gesellschaftlich-kulturellen Gegebenheiten. Anzustreben ist eher eine Kontextualisierung von Migration im Zusammenhang vielfältiger Differenzen und Zugehörigkeiten und ein Bezug zu den Erfahrungen in einem gemeinsamen gesellschaftlichen Raum, in dem Geschichte repräsentiert wird.

Paradoxerweise hat gerade der Bezug auf den Verbrechenskomplex von Auschwitz dazu beigetragen, die gegenwärtige Gesellschaft zu entlasten. Die Gegenüberstellung von Demokratie und Diktatur bewirkt nicht nur im Bildungsbereich, dass alltägliche Erfahrungen von Rassismus und Antisemitismus nicht als solche benannt werden. Um dies zu verändern, sind in den letzten Jahren vor allem in der außerschulischen politischen Bildungsarbeit Konzepte entwickelt worden, um Antisemitismus und Rassismus als Gegenwartsphänomene zu begreifen, genauer zu reflektieren und als Probleme innerhalb der demokratischen Gesellschaft sichtbar zu machen. Antisemitismuskritische (vgl. Grimm/Müller 2021), antiziganismuskritische (vgl. Unabhängige Kommission Antiziganismus 2021) und rassismuskritische (vgl. Fereidooni/Hößl 2021) Bildungsansätze bieten Grundlagen für eine kritische Erinnerungspädagogik, die Gegenwartsverhältnisse in Geschichtsbeziehungen vermittelt.

Unter Verhältnissen unabgeschlossener Geschichte, in denen die Denkmuster des Nationalsozialismus nachwirken und die ich deshalb als „postnationalsozialistisch“ bezeichne (vgl. Messerschmidt 2009), delegitimiert die Konfrontation mit den NS-Verbrechen jede ungebrochene nationale Identifikation. Die Schwierigkeiten in der politischen Repräsentation der Bundesrepublik Deutschland, sich selbst als Migrationsgesellschaft zu begreifen, führe ich auf die Nachwirkungen der völkischen Ideologie des Nationalsozialismus zurück. Dass die politische Bildung einen Beitrag für „eine postnationale Neudefinition sozialer und politischer Zugehörigkeiten leisten“ (Eis/Rößler 2015, 422) muss, steht außer Frage, insofern der gesellschaftliche Kontext als Migrationsgesellschaft anerkannt wird.

Das Fremdmachen ganzer zu Gruppen gemachter Teile der Gesellschaft widerspricht dem Anspruch einer gesellschaftlichen Erinnerungspraxis, die sich auf die Rekonstruktion und Reflexion einer Politik der Identitätsmarkierungen, Ausgrenzungen, Deportationen und Verfolgungen bezieht. Vom historischen Gegenstand selbst geht eine Kritik an den üblich gewordenen Unterscheidungspraktiken in der Migrationsgesellschaft aus. Diese Unterscheidungspraktiken funktionieren kontinuierlich, sie sind normalisiert und deshalb fallen sie kaum noch auf, zumindest nicht denjenigen, die zur Dominanzgesellschaft gehören und nicht gemeint sind mit dem Kriterium der Unterscheidung. Unterscheidungen funktionieren machtvoll durch das Zusammenfügen von Nation und Kultur – beides moderne Konzepte mit vormodernen Anklängen, denn beide sind offen für abstammungsbezogene Festlegungen von Zugehörigkeit und Nichtzugehörigkeit. Historisch-politische Bildung kann zur kritischen Auseinandersetzung mit nationalen Zugehörigkeitsordnungen beitragen und dabei die ideologischen Muster von Rassismus und Antisemitismus begreifbar machen. Bei beiden handelt es sich um moderne Ideologien der Ordnung (vgl. Bauman 1994). Im Antisemitismus werden die fremd gemachten Anderen einem Phantasma von Macht und Verschwörung zugeordnet, das sich vom kolonialrassistischen Denken unterscheidet.

Nach 1945 zeichnet sich der Antisemitismus durch ein distanzierendes Geschichtsverhältnis aus, das den Abstand zum Nationalsozialismus durch eine diskreditierende Repräsentation seiner Opfer absichert. Seine Grundstruktur besteht in einem Abwehrverhältnis zur Erinnerung an den Nationalsozialismus. Versucht wird, Geschichte abzuschließen, indem die Opfer diskreditiert werden und man sich selbst in eine unschuldige Position versetzt. Ohne die „Schuldabwehr-Komponente des sekundären Antisemitismus“ (Pfahl-Traughber 2007, 9) kann die Attraktivität dieses Antisemitismus nach Auschwitz nicht verstanden werden. Durch das Argumentationsmuster, bei dem den Juden[3] unterstellt wird, sie „nutzten die Erinnerung an den Völkermord für ihre eigenen Vorteile aus“, erscheint die Erinnerung an die NS-Verbrechen als „Akt der Aggression“ (ebd.). Diese „Umkehrung des Verhältnisses von Täter und Opfer“ macht bis heute einen wesentlichen „Kern des Antisemitismus nach Auschwitz“ aus (Holz 2005, 59). Zwar hat der Antisemitismus nach 1945 seine rassentheoretische Begründung weitgehend verloren, dabei aber nichts von seiner Anziehungskraft eingebüßt.

 

Literatur

Adorno, Theodor W. (1971 [1966]): Erziehung nach Auschwitz, in: ders.: Erziehung zur Mündigkeit. Vorträge und Gespräche mit Hellmut Becker 1959-1969, Frankfurt/M.: Suhrkamp, 8. Aufl., S. 88–104

Bauman, Zygmunt (1994): Dialektik der Ordnung. Die Moder- ne und der Holocaust, Hamburg: Europäische Verlagsanstalt, 2. Aufl.

Benjamin, Walter (1974 [1940]): Über den Begriff der Geschichte, in: ders.: Gesammelte Schriften (GS) Band 1.2, Hg.: Tiedemann, Rolf/Schweppenhäuser, Hermann, Frankfurt/M.: Suhrkamp, 693–704

Eis, Andreas/Rößler, Stefan (2015): Diversitätsreflexive Politische Bildung in der Migrationsgesellschaft – post- nationale Praktiken politischer Subjektivierung in der Spätmoderne, in: Leiprecht, Rudolph/Steinbach, Anja (Hg.), Schule in der Migrationsgesellschaft. Ein Hand- buch. Band 1, Schwalbach/Taunus: Wochenschau Verlag, S. 421–440

Fereidooni, Karim/Hößl, Stefan (Hg.) (2021), Rassismuskritische Bildungsarbeit. Reflexionen zu Theorie und Praxis, Schwalbach/Taunus: Wochenschau Verlag

Grimm, Marc/Müller, Stefan (Hg.) (2021): Bildung gegen Antisemitismus. Spannungsfelder der Aufklärung. Schwalbach/Taunus: Wochenschau Verlag

Holz, Klaus (2005): Die Gegenwart des Antisemitismus. Islamistische, demokratische und antizionistische Judenfeindschaft, Hamburg: Hamburger Edition

Knigge, Volkhard (2001): Abschied von der Erinnerung, in: Gedenkstättenrundbrief Nr. 100, Heft 4/2001, S. 136–142

Kölbl, Carlos (2009): Mit und ohne Migrationshintergrund. Zum Geschichtsbewusstsein Jugendlicher in der Einwanderungsgesellschaft, in: Georgi, Viola B./Ohliger, Rainer (Hg.): Crossover Geschichte. Historisches Bewusstsein Jugendlicher in der Einwanderungsgesellschaft, Hamburg: Edition Körber Stiftung, S. 61–74

Messerschmidt, Astrid (2009): Rassismusanalyse in einer postnationalsozialistischen Gesellschaft, in: Melter, Claus/Mecheril, Paul (Hg.): Rassismuskritik. Band 1: Rassismustheorie und -forschung, Schwalbach/Taunus: Wochenschau Verlag, S. 59–74

Messerschmidt, Astrid (2015): Erinnern als Kritik – politische Bildung in Gegenwartsbeziehungen zum Nationalsozialismus, in: Widmaier, Benedikt/Steffens, Gerd (Hg.): Politische Bildung nach Auschwitz. Erinnerungsarbeit und Erinnerungskultur heute, Schwalbach/Taunus: Wochenschau Verlag, S. 36–48

Messerschmidt, Astrid (2022): Erinnerungskonstellationen ohne Gleichsetzungen, in: Zeichen. Magazin der Aktion Sühnezeichen Friedensdienste, 1/2022, S. 14–17

Meyer, Nikolaus/Voßberg, Timo (2019): Die Verankerung einer „Erziehung nach Auschwitz“ in erziehungswissenschaftlichen Studiengängen deutscher Universitäten. Eine empirische Spurensuche in institutionellen Selbstbeschreibungen, in: Andresen, Sabine et al. (Hg.): Erziehung nach Auschwitz bis heute. Aufklärungsanspruch und Gesellschaftsanalyse. Frankfurter Beiträge zur Erziehungswissenschaft, Frankfurt/M.: Fachbereich Erziehungswissenschaften der Goethe-Universität Frankfurt am Main, S. 145–162

Nägel, Verena/Kahle, Lena (2018): Die universitäre Lehre über den Holocaust in Deutschland. Berlin: Freie Universität Berlin, letzter Aufruf: 09.08.2022.

Unabhängige Kommission Antiziganismus (2021): Perspektivwechsel. Nachholende Gerechtigkeit. Partizipation. Bericht der Unabhängigen Kommission Antiziganismus, Berlin 2021, letzter Aufruf: 09.08.2022.

Pfahl-Traughber, Armin (2007): Ideologische Erscheinungsformen des Antisemitismus. In: aus Politik und Zeitgeschichte, 31/2007, S. 4–11

Scheurich, Imke (2010): NS-Gedenkstätten als Orte kritischer historisch-politischer Bildung, in: Thimm, Barbara et al. (Hg.): Verunsichernde Orte. Selbstverständnis und Weiterbildung in der Gedenkstättenpädagogik, Frankfurt/M.: Brandes & Apsel, S. 38–44

Wiggershaus, Rolf (1987): Die Frankfurter Schule. Geschichte – Theoretische Entwicklung – Politische Bedeutung. München/Wien: Hanser Verlag

 

Fußnoten

[1] Bezeichnung für eine Denkschule, deren Zentrum das 1923 in Frankfurt am Main gegründete „Institut für Sozialforschung“ darstellt, das zunächst von Max Horkheimer und später von Theodor W. Adorno geleitet wurde und zum Ziel hatte, eine kritische Theorie der Widersprüche der kapitalistischen Gesellschaft zu entwickeln und sich dafür auf Marxismus und Psychoanalyse zu beziehen. 1933 gingen dessen Vertreter ins Exil, schließlich in die USA und setzten sich dort mit Massenkonsum und Kulturindustrie auseinander. Sie kehrten um 1950 nach Deutschland zurück und setzten sich mit den Folgen des Nationalsozialismus im Kontext einer fragilen Demokratisierung auseinander (vgl. Wiggershaus 1987). Einer der berühmtesten Texte von Horkheimer und Adorno ist zweifellos die 1944 im Exil verfasste „Dialektik der Aufklärung“. Darin skizzieren sie die innere Widersprüchlichkeit der modernen Vernunft und die Gewaltförmigkeit der Überwindung des Mythos durch die Rationalität. Der gleichnamige Band mit dem Untertitel „Philosophische Fragmente“ enthält zudem den bedeutenden Text „Elemente des Antisemitismus“, der die psychischen Strukturen der antisemitischen Ideologie nachzeichnet. Bis heute sind diese Texte für die Sozial- und Kulturwissenschaften von hoher Relevanz und bewegen jede Generation aufs Neue.

[2] Das Institut für Sozialforschung in Los Angeles veröffentlichte die Thesen 1942.

[3] Hier erübrigt sich eine geschlechterreflexive Schreibweise, da es sich nicht um eine personalisierte, sondern um eine projektive Kategorie handelt.

 

Bildnachweis: © Sven Vee / Titel: Eine große Gruppe von Zementblöcken, die nebeneinander sitzen / unsplash.com

 

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