Empörung wirkt nicht – Was tun gegen Antisemitismus (und andere Ideologien der Ungleichwertigkeit)?
25. April 2018 | Demokratie und Partizipation, Diversität und Diskriminierung, Geschichte, Biografien und Erinnerung, Religion und Religiosität

Die jüngsten antisemitischen Vorfälle in Berlin sorgen erneut für Debatten über einen vermeintlich „muslimischen“ Antisemitismus. Für eine wirksame pädagogische Praxis müssen wir aber zunächst darüber nachdenken, wie solche Einstellungen, Ideologien und Verhaltensformen entstehen. Jochen Müller skizziert Handlungsoptionen gegen Antisemitismus in der Einwanderungsgesellschaft.

In Berlin müssen offenbar Menschen wegen ihres vermeintlichen oder tatsächlichen Jüdischseins mit Beleidigungen rechnen oder damit, verbal oder körperlich angegriffen zu werden. Kinder werden auf dem Schulhof von Mitschüler_innen beleidigt, gemobbt oder bedroht, wenn sie jüdisch sind bzw. als Juden wahrgenommen werden. Und in der Rapperszene gehört neben Sexismus auch Antisemitismus gewissermaßen zum „guten Ton“. Besonders bedrückend ist das alles, wenn es in Deutschland stattfindet, wo die Großelterngeneration den industriell betriebenen, systematischen Massenmord an sechs Millionen deutscher und europäischer Jüd_innen zu verantworten hat. Nie wieder Faschismus, nie wieder Krieg und nie wieder Antisemitismus waren Lehren, die spätestens nach 68 die Mitte der Gesellschaft erreichten. Vor diesem Hintergrund ist Empörung allemal gerechtfertigt, ebenso berechtigt wie die Forderung, es müsse mehr gegen alten und neu entstehenden Antisemitismus in der Gesellschaft getan werden – zum Beispiel in der Schule.

Spätestens hier reicht aber demonstrative Empörung oder auch die bloße Erwartung, dass alle gleichermaßen empört sein mögen, nicht mehr aus. Für eine wirksame pädagogisch-präventive Praxis – und darum soll es im Folgenden gehen – müssen vielmehr Ziele definiert werden und konkrete Maßnahmen bereitstehen, die von Pädagog_innen und anderen zivilgesellschaftlichen Akteuren umzusetzen wären. (Es gibt im Übrigen solche Formate, das wissen Viele nicht, die alle paar Jahre rufen, es müsse endlich mehr gemacht werden.) Diese Maßnahmen müssen allerdings, damit sie wirken, Beweggründe in den Blick nehmen, die Menschen zu antisemitischen Taten verleiten können. Das macht es schwierig, denn zu solchen Beweggründen oder Motiven gehören politische, gesellschaftliche und persönliche Erfahrungen, die diese Menschen machen oder gemacht haben. Die in der aufgeregten öffentlichen Debatte meist vermuteten Motive sind ein vermeintlich „muslimischer“ Antisemitismus und der Nahostkonflikt. Das sind vorschnelle Mutmaßungen, über die aber zunächst gesprochen werden muss, bevor es um einen wirksamen pädagogischen Umgang mit dem Phänomen gehen kann.

Es gibt keinen „muslimischen“ Antisemitismus – jedenfalls keinen, der sich nennenswert von seinem „christlichen“ Pendant unterscheiden würde. Die islamischen Quellen weisen genauso wie die christlichen Passagen (z.B. bestimmte Verse des Korans) auf, die Judenhass begründen können – neben solchen, die als Aufforderung zu Frieden, Respekt und Anerkennung unter den Religionen verstanden werden. Es liegt an den auch in ihrer Religiosität sehr unterschiedlichen „Muslim_innen“ im Hier und Jetzt, wie sie „ihre“ Quellen verstehen wollen. Der pauschalisierende Begriff vom „muslimischen“ Antisemitismus verbietet sich daher. Er trägt nichts zur Debatte bei, er fördert Stereotype und Rassismus gegenüber „den“ Muslim_innen und „dem“ Islam, und er wird von Vielen zu genau diesem Zweck genutzt.

Sehr wohl gibt es aber Antisemitismus unter Muslim_innen. Nur spielt die Religion als treibendes Motiv dabei meist keine oder eine untergeordnete Rolle. Vielmehr stellt der Nahostkonflikt einen gemeinsamen Nenner dar, auf den sich weltweit viele Muslim_innen beziehen. Und hier stellen sich zwei schwer zu beantwortende Fragen: 1. Ist dieser „israelbezogene“ Antisemitismus eigentlich der Gleiche wie der moderne europäische und deutsche Antisemitismus?  2. Warum bedienen sich dann auch „Muslim_innen“ in Pakistan oder Malaysia antisemitischer Stereotype, obwohl sie mit dem Konflikt auf den ersten Blick wenig zu tun haben?

1. Der so genannte „israelbezogene“ ist nicht identisch mit dem „modernen“ Antisemitismus seit dem 19. Jahrhundert. Auch wenn sich oft Stereotype eines „traditionellen“ und „modernen“ Antisemitismus darin wiederfinden und vermischen (z.B. antimoderne Haltungen, in denen „Juden“ für Verwerfungen, Irritationen und Krisen der kapitalistischen Moderne verantwortlich gemacht werden), so lässt sich der „israelbezogene“ Antisemitismus in großen Teilen eher als  Kriegspropaganda beschreiben wie sie z.B. aus dem Ersten Weltkrieg bekannt ist: Wenn in Syrien seit Jahrzehnten in Schule, Politik und Medien alle Register gezogen werden, um den „Feind“, zu dämonisieren, dann ist das (so es denn von jungen Geflüchteten aus Syrien oder deutschen Palästinenser_innen zum Beispiel in einer Kreuzberger Grundschule reproduziert werden sollte) zwar schwer auszuhalten und bedarf pädagogischer Intervention, ist im Kern aber anders gelagert als eine antisemitische Weltverschwörungsideologie. Zumindest sollte der Versuch gewagt werden, Geflüchtete aus Syrien oder Palästina, die solche Positionen vertreten, nicht automatisch als „Antisemiten“, sondern ihrerseits zunächst als Konsumenten von staatlicher Propaganda, Fake News und Verschwörungstheorien zu betrachten. (Anmerkung: Für geschichts- und verantwortungsbewusste „Deutsche“ mögen solche Relativierungen eine Zumutung sein, für die Eltern von in Deutschland mit dem Tod bedrohten jüdischen Kindern sind sie es auf jeden Fall. Nur allzu verständlich sind also Empörung und Forderungen nach Konsequenzen, wenn es zu Vorfällen kommt. Tatsächlich „hilft“ es aber weder Schulleitungen, noch den betroffenen Kindern, noch irgend jemandem wenn Jugendliche wegen „Antisemitismus“ von der Schule fliegen. Da braucht es andere Antworten und andere Angebote.)

2. Antisemitische Positionen sind im Libanon auch unter Christen weit verbreitet. Aber: Längst nicht alle Menschen, die direkt unter dem Nahostkonflikt zu leiden hatten und haben, deren Eltern oder Großeltern im Krieg gestorben sind oder vertrieben wurden, vertreten heute antisemitische Positionen. So fällt auf, dass „muslimische“ Jugendliche und junge Erwachsene, die in Deutschland offen (!) und aggressiv antisemitische, antijüdische oder auch antizionistische Positionen vertreten (letztere sind oft antisemitisch geprägt), meist aus marginalisierten prekären Familien, Milieus bzw. Schichten stammen. Besonders hier wird das Schicksal der Großeltern häufig von den Urenkeln mit ungebrochener Emotionalität weitergetragen. Als wäre es gestern gewesen. Man kennt das aus anderen Vertriebenengeschichten – zum Beispiel den deutschen. (Mit dem Unterschied, dass in Gaza und der Westbank die Geschichte bis heute weitergeht – und natürlich auch immer wieder Spuren bis nach Berlin zieht.) Das hat immer auch mit den Möglichkeiten und Räumen zu tun, die den Vorfahren zur Verfügung standen, sich mit ihrer Geschichte und ihrem Leid auseinanderzusetzen, nach vorn zu blicken und ein neues Leben anzufangen. Wo dies nicht oder zu wenig der Fall war, da bietet der Nahostkonflikt den Urenkeln geflüchteter Palästinenser_innen auch eine Projektionsfläche für ihre eigenen gegenwärtigen Erfahrungen von Diskriminierung, Nichtzugehörigkeit und Marginalisierung. Es steckt also mehr als der Nahostkonflikt hinter den Frustrationen. Zudem sehen viele „Migrant_innen“, wie antisemitische Vorfälle regelmäßig für Schlagzeilen sorgen, während alltägliche rassistische Diskriminierungen, die sie erleben, kaum der Rede wert scheinen. Offenbar wird hier mit zweierlei Maß gemessen. Denn wie oft werden Kopftuchträgerinnen in Deutschland beleidigt oder angespuckt? Diese Zweierlei-Maß-Erfahrung verbindet sie mit „Muslim_innen“ in Pakistan oder Malaysia, für die der Nahostkonflikt zum Symbol einer kolonialen und postkolonialen Geschichte von Unterdrückung und einer ungleichen Weltordnung geworden sein mag. Ihre antisemitische Weltdeutung wäre dann eine Form des Aufbegehrens, ein Ausdruck von Rebellion – allerdings einer repressiven, aggressiven, reaktionären und menschenverachtenden, „konformistischen Rebellion“.

Antisemitismus ist, wie andere Welterklärungs- und Verschwörungstheorien auch, eine falsche Antwort auf reale und – wenn man so will – krankmachende Verhältnisse. Hinter Fragen, Aggressionen und Vernichtungswünschen, die Menschen weltweit gegen „die Juden“ richten, stehen sehr unterschiedliche gefühlte wie objektive Widersprüche, Machtverhältnisse, „falsche“ Bedürfnisse und gesellschaftliche Krisenerscheinungen, unter denen sie leiden oder die sie verleiten. Es ist also kein Zufall, wenn sich „muslimische“ Jugendliche aus Neukölln, Kreuzberg, dem Wedding (oder auch in Prenzlauer Berg) von einer Kippa provoziert oder von den kruden Rhymes von Farid Bang und Kollegah angesprochen fühlen.

Das relativiert, rechtfertigt oder entschuldigt keine Ideologie, erst recht kein Verhalten und es entlässt niemanden aus der persönlichen Verantwortung für seine/ihre Einstellungen oder Taten. Es geht auch gar nicht darum, Verständnis für Rapper, Schläger oder andere Täter_innen zu wecken – wohl aber darum, zu erklären, zu verstehen, wie solche Positionen, Einstellungen, Ideologien und Verhaltensformen entstehen und warum sie populär werden können. Denn nur daraus kann eine pädagogische Praxis erwachsen, die Antisemitismus (und anderen Formen und Ideologien der Ungleichwertigkeit) vorbeugen und (möglichst „anlassunabhängig“) begegnen soll.

Was also hätte im Vorfeld getan werden können, damit junge Männer Träger von Kippas in Deutschland nicht als Provokation erleben, an denen sie ihre gefühlte Minderwertigkeit abreagieren?

Es mag plakativ und banal klingen, aber wie immer stehen auch hier Erfahrungen von Anerkennung, Zugehörigkeit und Selbstwirksamkeit im Mittelpunkt. Es geht um Räume, um Gehör und Empathie für die Auseinandersetzung mit Familien-, Flucht- und Vertreibungsgeschichten, mit Migrationsbiografien und unterschiedlichsten Diskriminierungserfahrungen. Denn erst wenn zugehört wird, kann ggf. auch konfrontiert werden. Dabei stehen verschiedene Formen von Diskriminierung und Mobbing im Mittelpunkt: Abwertungen aufgrund von Geschlecht und sexueller Orientierung, Herkunft, Religion, Hautfarbe, Körpereigenschaft, Behinderung, sozialem Status. Antisemitismus ist hier eine (auch vor dem Hintergrund deutscher Geschichte sehr besondere) Form pauschaler Diskriminierungskonstruktionen.

Aber sie ist eine von vielen, auf die sensibler reagiert werden und die für größere Aufmerksamkeit sorgen sollten. Die Beschäftigung mit der NS-Geschichte sollte daher nicht nur Anlass zu KZ-Besuchen sein, sondern Anlass dazu, sich Gedanken über verschiedene Formen von Ideologien der Ungleichwertigkeit zu machen – und in der Gruppe gemeinsam die Frage zu stellen: „Wie wollen wir leben?“ (Meist kommen die Jugendlichen selbst auf die fundamentalen Werte und Normen des pluralistischen Zusammenlebens, ohne dass der/die Lehrer_in mit dem Grundgesetz herumwedeln muss.) Die kontroverse und multiperspektivische Auseinandersetzung mit internationalen Konflikten, gerade auch mit dem Nahostkonflikt, sollte in der Schule nicht gemieden, sondern gesucht und abweichende Positionen ausgehalten werden. Das gilt auch für alle Fragen rund um das Thema Gerechtigkeit bzw. Ungerechtigkeit, für das Jugendliche sehr empfänglich sind – und damit eben auch empfänglich für ideologische Erklärungen, wenn ihnen keine anderen angeboten werden. Nicht zuletzt mag es darum gehen, die eigene Empörung (hier der Lehrkräfte mehrheitlich deutscher Herkunft) zu reflektieren und nicht zu erwarten, dass im globalisierten Klassenzimmer und in der Migrationsgesellschaft alle die gleichen Perspektiven mitbringen oder teilen sollten.

Es ist richtig, nach erschreckenden Vorfällen mit Empörung und mit Forderungen zu reagieren, aber auch sehr einfach. In den Niederungen der Praxis stellt sich nämlich schnell heraus: Es gibt keine einfachen Antworten und eindeutige Maßnahmen, sondern komplizierte Gemengelagen und sich beständig wandelnde Herausforderungen. So ist das Leben. Und so ist Migrationsgesellschaft.

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