Drei Jahre nach Hanau – das Gift des Rassismus tötet
18. Februar 2023 | Demokratie und Partizipation, Diversität und Diskriminierung

Leuchtender Notausgang als Symbolbild; Bild: Braden Hopkins/unsplash

Drei Jahre nach dem rassistischen Attentat in Hanau bleiben offene Fragen und gemischte Gefühle. Mustafa Ayanoğlu, Mitarbeiter der ufuq.de-Fachstelle Bayern und aufgewachsen in Hanau, schildert seine Eindrücke: Welche Bedeutung und welche Folgen hat der Anschlag für Angehörige der Opfer und für andere rassifizierte Menschen in Deutschland? Er beschreibt die Verrohung des öffentlichen Diskurses und des gesellschaftlichen Klimas als eine Ursache des Attentats und schlägt vor, den Jahrestag auch in der Schule zur Auseinandersetzung mit Rassismus in der Gesellschaft zu nutzen.

19. Februar 2020: Als ich in der Nacht erfuhr, dass Schüsse – welche sich später als Schüsse eines rassistischen Attentäters bestätigen sollten – in Hanau gemeldet wurden, rief ich bei Familie und Freund*innen an, um mich über deren Unversehrtheit zu vergewissern. Gott sei Dank waren sie wohlauf. Mein Cousin berichtete mir allerdings, dass er nur eine halbe Stunde vor dem Attentat die „Midnight“-Bar verlassen hatte und dem Attentat nur knapp entronnen war. Gökhan Gültekin, der Cousin meines besten Freundes, fiel hingegen in dieser Nacht dem Terrorakt zum Opfer. Worte können nicht beschreiben, welche Folgen der Tod von Gökhan Gültekin und der weiteren acht Ermordeten für ihre Familien gehabt haben. Gökhan Gültekins Vater ist wenige Wochen nach der Ermordung seines Sohnes gestorben. [1]

Am selben Wochenende bin ich nach Hanau gefahren, um im Gedenken an die Opfer und Hinterbliebenen am Trauermarsch teilzunehmen. Dort bekam ich von Kindern und Jugendlichen zu hören, dass sie sich nicht mehr trauen, in die Schule zu gehen. Sie waren verunsichert und in Angst, dass auch sie zu Opfern von Attentaten werden könnten. Besonders um ihre Mütter machten und machen sich die Jugendlichen Sorgen, die als Frauen leicht zu Zielen für rassistisch und misogyn motivierte Angriffe und Anschläge werden können.

Einige erwachsene Demonstrierende konkretisierten in der Folge ihre Auswanderungspläne in ein für sie sicheres Land bzw. in die Herkunftsregion ihrer Eltern. Solche Aussagen hatte ich über die Jahre hin und wieder mitbekommen, doch blieb es meist bei der Idee als Ausdruck der Bedrohung und Verunsicherung. Heute, drei Jahre nach dem Attentat, haben sich vier Freund*innen (alles gebürtige Hanauer*innen) in der Türkei niedergelassen. Das Attentat war für sie so einschneidend, dass es sie zum endgültigen Verlassen ihrer Heimat bewegt hat. Sie konnten den alltäglichen Rassismus (und das Bagatellisieren dessen) nicht mehr ertragen – in Behörden, in Schulen, in Universitäten, in Bewerbungsprozessen, auf der Arbeit, bei Ärzt*innenbesuchen, beim Einkaufen, beim Spaziergang, im Restaurant, im Urlaub und in den vielen anderen Bereichen des alltäglichen Lebens. Aus meiner Sicht sind hier die pluralistische Gesellschaft und der demokratische Staat im Kampf gegen Rassismus gescheitert, da sie ihre Minderheiten nicht schützen konnten.

Zahlreiche Studien belegen, was von Rassismus Betroffene seit Jahrzehnten anprangern und was mit dem Attentat von Hanau nicht zum ersten Mal auch all denjenigen sichtbar wurde, für die Rassismus keine alltägliche Erfahrung ist. [2] Medien, die Menschen mit internationaler Familiengeschichte über Jahrzehnte als „Fremde“ markieren oder Politiker*innen, die mit menschenfeindlichen Ideologien und Aussagen Hass säen und trotzdem bzw. gerade deshalb von viel zu vielen Bürger*innen (wieder)gewählt werden, dienen rassistisch denkenden und agierenden Personen, Gruppierungen und Attentäter*innen als Legitimation ihres Denkens und Handelns. [3]

Vor diesem Hintergrund ist es von zentraler Bedeutung für unsere Gesellschaft, dass die Auseinandersetzung mit Rassismus und den dazugehörigen Machtstrukturen fest im Lehrplan von Schulen verankert wird.

Schließlich betrifft Rassismus auf unterschiedliche Art und Weise jede*n: Die einen leiden unter Rassismus, die anderen profitieren davon. Diese ungleichen (Macht)verhältnisse sind vielen Jugendlichen sehr bewusst. Viele von ihnen schweigen aber lieber und positionieren sich nicht, auch in der Befürchtung, durch das Ansprechen und Aufzeigen von Rassismus benachteiligt und schlechter benotet zu werden. Ein anderes Beispiel aus der Schule: Eine Jugendliche erzählte mir, dass ihr Klassenlehrer am Morgen nach dem Attentat in die Klasse gekommen sei und gesagt hätte: „Habt ihr das Attentat mitbekommen? Tja, schlimm so etwas.“ Und dann ging er zur Tagesordnung über. Welches Signal erhalten damit Jugendliche, die aufgrund ihrer internationalen Familiengeschichten selbst Opfer des Attentats hätten sein können? Welches Signal sendet man Jugendlichen, wenn in ihrer Heimatstadt Menschen aus Hass ermordet werden und man tut, als wäre nichts passiert? So wird ein inkludierendes „Wir“-Gefühl gerade nicht gestärkt.

Auch der dritte Jahrestag des Attentats von Hanau kann in Schulen eine Gelegenheit bieten, Schüler*innen einen sicheren Raum anzubieten, in dem sie eingeladen sind, ihre Erinnerungen, ihre Eindrücke und ihre Wünsche zu schildern. Klassenlehrer*innen kennen ihre Schüler*innen und können abschätzen, welches Format sich am ehesten eignet, mit ihnen ins Gespräch über das Attentat zu gehen. So können sie mit einem kurzen Statement zum Attentat die Schulstunde einleiten und die Schüler*innen dann in Kleingruppen über ihre Gemütslage, das Attentat selbst oder über ihre Erinnerungen sprechen lassen. Manche*r mag vielleicht in der Klasse oder in der Kleingruppe nicht sprechen, nimmt aber das Angebot zum vertraulichen Gespräch mit Klassenlehrer*in oder Sozialpädagog*innen gerne an. Und wenn manche gar nicht darüber sprechen wollen, ist das ebenso in Ordnung. [4] Ich persönlich hätte mir als Schüler Solidarität in der Form gewünscht, dass mein*e Lehrer*in in die Klasse kommt, klar Stellung zum Geschehenen einnimmt und deutlich macht, dass die Opfer keine Fremden, sondern selbstverständlicher Teil dieser Gesellschaft waren.

Wir erinnern an die Opfer vom 19. Februar 2020: Gökhan Gültekin, Sedat Gürbüz, Said Nesar Hashemi, Mercedes Kierpacz, Hamza Kurtović, Vili Viorel Păun, Fatih Saraçoğlu, Ferhat Unvar und Kaloyan Velkov.

Dezentrale Gedenkveranstaltungen listet die Initiative 19. Februar auf dieser Seite auf.

Anmerkungen

[1] S. https://www.sagstopp.com/interview-mit-cetin-gultekin-k382.html.

[2] S. hierfür eine Reihe von Studien wie z.B. Ecker, Alejandro; Imre, Michael; Müller, Samuel & Sältzer, Marius (2022): Rassismus in sozialen Medien: Automatisiertes Erkennen rassistischer Hetze in der virtuellen politischen Öffentlichkeit. DeZIMinutes, Berlin: Deutsches Zentrum für Integrations- und Migrationsforschung (DeZIM); Deutsches Zentrum für Integrations- und Migrationsforschung (DeZIM) (2022): Rassistische Realitäten: Wie setzt sich Deutschland mit Rassismus auseinander? Auftaktstudie zum Nationalen Diskriminierungs- und Rassismusmonitor (NaDiRa), Berlin.

Decker, Oliver; Kiess, Johannes; Heller, Ayline & Brähler Elmar (2022): Autoritäre Dynamiken in unsicheren Zeiten: Neue Herausforderungen – alte Reaktionen?/Leipziger Autoritarismus Studie 2022. Psychosozial Verlag, Gießen: Heinrich-Böll-Stiftung.

[3] S. hierzu u. a. Cremer, Hrg. (2021): Nicht auf dem Boden des Grundgesetzes: Warum die AfD als rassistische und rechtsextreme Partei einzuordnen ist. (Analyse / Deutsches Institut für Menschenrechte). Berlin: Deutsches Institut für Menschenrechte. https://nbn-resolving.org/urn:nbn:de:0168-ssoar-73597-5; oder aktuell ein Beitrag von Jorinde Schulz (2022) zum Diskurs über  „Clankriminalität“ https://www.berliner-zeitung.de/wochenende/warum-die-rede-von-clans-in-neukoelln-eine-chiffre-fuer-rassistische-politik-ist-li.209188.

[4] Für weitere hilfreiche Anregungen s. die Handreichung „Islamistische und rassistische Anschläge – ein Thema für Unterricht und Schule“ (2021), ufuq.de (Hrsg.). Abrufbar unter https://www.ufuq.de/publikation/islamistische-und-rassistische-anschlaege-ein-thema-fuer-unterricht-und-schule/.

Die Beiträge im Portal dieser Webseite erscheinen als Angebot von ufuq.de im Rahmen des Kompetenznetzwerkes „Islamistischer Extremismus“ (KN:IX).
Skip to content