Doing Radikalisierung – Maßnahmen der Radikalisierung aus empirisch-problemsoziologischer Perspektive betrachtet
12. Januar 2023 | Radikalisierung und Prävention

Symbolbild. Bild: Pixabay/Pexels.

Die Präventionsarbeit von Islamismus und Rechtsextremismus basiert auf Annahmen und Erfahrungswissen über ein gesellschaftliches Problem, das sich nicht ohne weiteres objektiv und konkret beschreiben lässt. Dr. Katharina Leimbach untersuchte in ihrem Forschungsprojekt, inwiefern Akteure der Präventionsarbeit selbst auf die Konstruktion von Radikalisierung als gesellschaftliches Problem einwirken und zu dessen Reproduktion beitragen. In diesem Beitrag erläutert sie ihre wichtigsten Erkenntnisse.

Extremismus und darauf bezogene Präventionsmaßnahmen sind seit vielen Jahren Gegenstand öffentlicher Debatten. Dabei stehen in der deutschen Auseinandersetzung besonders Islamismus und Rechtsextremismus im Zentrum medialer, politischer und wissenschaftlicher Aufmerksamkeit (Milbradt et al. 2019). Als Formen der Bearbeitung von Rechtsextremismus und Islamismus wurden zahlreiche Präventions- und Interventionsmaßnahmen entwickelt, die den Ausgangpunkt für meine Untersuchung darstellten. Im Rahmen des BMBF-geförderten Verbundprojektes „Radikalisierung im digitalen Zeitalter“ (RadigZ) führte ich zwischen 2017 und 2020 zahlreiche Interviews mit Durchführenden verschiedenster Radikalisierungspräventionsprojekte sowie mit rechtsextremistisch- und islamistisch-definierten Adressat*innen dieser Maßnahmen. Vom Prinzip „Offenheit“ (Hollstein, Ullrich 2002) der qualitativen Forschung angeleitet, verfolgte ich die Fragen „Was passiert hier eigentlich?“ und „Was beinhaltet Radikalisierungsprävention in der Praxis?“.

Geht man dem eigentlichen Sinn von Präventionsmaßnahmen nach, so wird deutlich, dass in dem frühzeitigen Vermeiden von unerwünschten Handlungen oder Situationen bereits Definitionen über das Unerwünschte enthalten sind (Holthusen et al. 2011: 22). Angelehnt an die Problemsoziologie lassen sich Prävention und Intervention als staatliche oder zivilgesellschaftliche Antworten auf kollektiv-definierte soziale Probleme verstehen. All das, was Gesellschaften als abweichend, unerwünscht oder kriminell problematisieren, spiegelt schließlich gesellschaftliche Werte und Normen, also Wissensbestände und –kulturen wider über das, was normal, konform oder als erwünscht begriffen wird. Groenemeyer (2014) hat an diese Annahme anschließend ein Konzept entwickelt, welches detailliert nachvollziehbar macht, wie Institutionen, die im weiteren Sinne mit Problemarbeit betraut sind, ein Eigenleben in der Bearbeitungspraxis entwickeln und damit zum Verständnis von spezifischen sozialen Problemen beitragen. Es handelt sich hierbei um das Konzept „doing social problems“.

Ich möchte das Konzept entlang des Beispiels der Radikalisierungsprävention erläutern: In die Problembearbeitung fließen generelle gesellschaftliche (a) Diskurse um Radikalisierung ein und wirken z. B. auf die zahlreichen Projekte und Programme der Extremismusprävention ein, die das (b) Dispositiv oder eben die Institutionen der Problembearbeitung darstellen. Zugleich gibt es eine (c) soziale Praxis, die als „radikalisiert“ definiert wird und von bestimmten Personen mit (d) Erfahrungen und Subjektivierungen angereichert und gelebt wird. „Doing social problems“ beschreibt das Zusammenwirken dieser verschiedenen Bereiche. Radikalisierungsprävention als Problemarbeit ist damit bereits durch ein spezifisches Wissen um Radikalisierung vorgeprägt und entwickelt gleichzeitig durch das Zusammenwirken der verschiedenen Ebenen in der Praxis der Radikalisierungsprävention eigene Dynamiken, die zu einer Erneuerung oder Verfestigung spezifischer Vorstellungen von Extremismus beitragen können. Professionelle (wie z. B. Sozialarbeiter*innen) und Adressat*innen (wie z. B. rechtsextremistisch-definierte Personen) handeln zwar einerseits individuell und eigenwillig, bringen aber gleichzeitig gesellschaftliche und institutionelle Vorstellungen von Extremismus in ihrem Handeln zum Ausdruck und produzieren mitunter neue Vorstellungen, also ein neues Problemwissen.

In meiner Forschung interessierte mich daher das Eigenleben von Rechtsextremismus- und Islamismusprävention, insbesondere auch die damit einhergehenden unintendierten (!) „Risiken und Nebenwirkungen“ (Holthusen 2020: 359) von staatlichen und zivilgesellschaftlichen Präventionsmaßnahmen.

Doing Radikalisierung in der Praxis

1. Verfestigte Wissensmuster in der Rechtsextremismusprävention

Während der Auswertungen der Interviews mit den Professionellen wurde schnell deutlich, dass Rechtsextremismus und Islamismus unterschiedliche Problematisierungslogiken aufweisen. Die Interviews mit den Professionellen der Rechtsextremismusprävention sind durchzogen von einheitlichen Darstellungen und weitgehend widerspruchsfrei. Es besteht kein Zweifel darüber, wer typischerweise zu den Klient*innen zählt. Über das Geschlecht, die sozialstrukturelle Stellung, die typischen Problemlagen und Lebenswege bis hin zum Kleidungsstil werden die Klient*innen einheitlich von den Professionellen beschrieben und auf diese Weise für Bearbeitungen relevant gemacht. Dies wird mit folgender markanter Interviewsequenz deutlich:

E13: „Das heißt also, man kommt irgendwie in die Szene und alles ist halt, wie es ist. Anerkennung und so, was wir alles schon wissen. Einstiegsprozesse sind relativ klar, die/was die Jugendlichen da suchen.“

Es hat sich ein Erfahrungswissen institutionalisiert und etabliert, welches sich in der Praxis der Ausstiegsbegleitung bewährt hat und somit unhinterfragt weiter zur Anwendung kommt. Dieses Erfahrungswissen beinhaltet Vorstellungen über die Träger des Problems Rechtsextremismus: Männer in prekären Lebenslagen mit multiplen (psycho-)sozialen Belastungen und diskontinuitiven Biografien (Bereswill 2010). Darauf aufbauend beinhaltet dieses Wissen schließlich die Problemlösungsstrategien, die eine infrastrukturelle, kulturelle und körperliche Transformation anstreben. Weniger im Zentrum der Praxis der Ausstiegsbegleitung scheint dagegen die in der Wissenschaft häufig thematisierte Redemokratisierung (Möller 2010; Möller, Wesche 2014; Rieker 2014) zu stehen. Redemokratisierung erscheint in der Praxis eher ein willkommener Nebeneffekt durch die in den Maßnahmen priorisierte Aufnahme von Erwerbsarbeit zu sein. Die Aussage „was wir alles schon wissen“ repräsentiert, was sich über alle Interviews mit dem Thema der Rechtsextremismusprävention erstreckte: Rechtsextremismus als soziales Problem in Deutschland wird von stark verfestigten Wissensstrukturen geprägt, die das Problem vor allem bei Männern in prekären Lebenslagen verorten und dabei stark individualisieren. Obwohl vielfach die multiplen psychosozialen Belastungen der Klient*innen thematisiert werden, hat sich eine ambivalente Deutung in den Interviews durchgesetzt, bei der eine rechtsextremistische Lebenspraktik sowohl individualisiert als auch durch sozialstrukturelle Problemlagen erklärt wird.

E3: „Es hat immer mit individuellen Entscheidungen zu tun. Ich glaube, es gibt Bedingungen, die das Ganze ein bisschen vorformen, glaube ich. Was wir wissen, ist, wir haben bei FAST allen männlichen Klienten haben wir ein Problem mit Männlichkeitsvorbildern. So. Das heißt, also häufig entweder tatsächlich räumlich abwesende Väter, sozial abwesende Väter, heißt, die sind zwar da, kümmern sich aber gar nicht. Wir haben gleichgültige Elternhäuser häufig. Wir haben Elternhäuser, die mit System von Über- und Unterordnung arbeiten. (…) Gewalt spielt häufig eine Rolle, ist ein Klassiker. Bildungsferne spielt häufig auch eine Rolle.“

Diese Interviewsequenz zeigt die Ambivalenz, mit der Rechtsextremismus problematisiert wird. Was einerseits als individuelle Verantwortung der Klient*innen gedeutet wird, wird andererseits mit sozialstrukturellen Problemlagen erklärt. Ein damit einhergehender Effekt ist jedoch, dass Rechtsextremismus als ideologisches Problem in den Hintergrund rückt. Indem Individualität und Rationalität der Klient*innen als Erklärungshintergrund stark gemacht werden, erscheint Rechtsextremismus zugänglich, um es als individuelles Problem in Institutionen, wie den klassischen Ausstiegsbegleitungen, zu bearbeiten. So wird durch die Konstruktion von Hilfebedürftigkeit eine institutionelle Adressierbarkeit geschaffen, die das „typische“ Wissen um Rechtsextremismus als Problem von „Modernisierungs- und Bildungsverlierern“ oder „Deindustrialisierungsopfern“ (Anhorn, Stehr 2012: 62; Hochschild 2017; Koppetsch 2019: 37 ff.; Möller 2010; Möller, Schuhmacher 2007) reproduziert und festigt. Die Adressierung von Klient*innen sowohl als Täter*innen als auch als Opfer spiegelt diese Ambivalenz zwischen Hilfestellung und einer Kontrollrahmung und verhilft den Professionellen zu einer komplexitätsreduzierenden sozialen Wirklichkeit. Die Kausalitätsherstellung zwischen Opferschaft und Täterschaft findet sich nicht nur in der Kategorie der Gewalterfahrung, sondern eben auch, in abgewandelter Form, in der Konstruktion einer sozialen Randständigkeit der Klient*innen.

2. Risiko und Gefahr als zentrale Deutungen in der Islamismusprävention

Wie stark das vereinheitlichende Wissen um Rechtsextremismus verfestigt ist, wird deutlich, wenn man es mit der Problematisierung von Islamismus vergleicht:

E22: „Aber es ist anknüpfungsfähig, weil jeder, der in Deutschland sozialisiert wurde, irgendwie was mit Rechtsextremismus anfangen kann. Das ist irgendwie kulturnahe, ne, also damit kann man irgendwie arbeiten. Beim Islamismus ist es ein bisschen schwieriger, weil da eine große Verunsicherung ist, erst mal: Islam, Islamismus, wo ist der Unterschied? Insbesondere auch aus Schulen heraus die Angst, wenn ihnen irgendwas komisch vorkommt, dass sie damit jemanden diskriminieren. Und gleichzeitig dann aber mit der Angst aus der medialen Berichterstattung heraus, wie schnell sich jemand radikalisieren kann. Dass es auch zu amokähnlichen Anschlägen kommen kann, gerade bei Jugendlichen.“

Während Rechtsextremismus als „kulturnah“ und damit als bekannt thematisiert wird, erscheint Islamismus als ein Problem des Fremden. Den Professionellen scheint völlig klar, wen sie in Bezug auf Rechtsextremismus adressieren müssen und wie sie dies in der Ausstiegsbegleitung bearbeiten können. Islamismus hingegen wird als neuere Bedrohung konstruiert, die Unsicherheiten in Bezug auf das Erkennen und die Bearbeitung auslöst. So ist besonders markant, dass sich durch alle Interviews der explizite Gefährdungs- und Sicherheitsdiskurs in Bezug auf Islamismus durchzieht, während Radikalisierung zugleich als zu komplex beschrieben wird, um das Phänomen zu konkretisieren.

E10: „Alles wird zum Grund für Radikalisierung und wenn ich alles sage, meine ich alles, AUSNAHMSLOS alles. Immer dann, wenn die Not groß ist und die ist als junger Mensch groß, kann daraus eine Radikalisierung werden.“

Während bei Rechtsextremismus Gründe, Problemgruppen und Ausstiegsverläufe konkret beschrieben werden, wird bei  der Thematisierung von Islamismus eine Komplexität eröffnet, die als diffuse Problematisierung erscheint. Wenn es also heißt, dass „alles“ zu Radikalisierung führen kann, dann lässt sich auch die Deradikalisierung kaum konkretisieren, was sich in der folgenden Sequenz zeigt.

E4: „Irgendwie die Form, die Gründe WARUM sich Leute da hinwenden, sind total unterschiedlich, deswegen wird es auch unterschiedliche Gründe geben, was sie dann wieder davon losbringt.“

Radikalisierung erscheint in den Deutungen der Präventionsakteur*innen als ein diffuses Phänomen, das zugleich mit sehr konkreten Verdachtsmomenten gegenüber bestimmten Personengruppen in Verbindung gebracht wird. Anders als in den Deutungen der Akteur*innen der Rechtsextremismusprävention kann in der Islamismusprävention nicht auf ein detailliertes und fest verankertes Erfahrungswissen zurückgegriffen werden. Dies korrespondiert mit der im Gegensatz zum Rechtsextremismus kürzeren zeithistorischen Entwicklung von wissenschaftlichen und fachpraktischen Thematisierungen von Islamismus.

Islamismus als soziales Problem wird insbesondere über die omnipräsente Thematisierung von Gefahr, Risiko und Sicherheit gedeutet, indem das Phänomen mystifiziert [1] wird. Während die Problemgruppe des Rechtsextremismus sehr konkret beschrieben wird, bleibt auch dies im Falle des Islamismus weitgehend unbestimmt: Es könne sich nahezu jede*r radikalisieren, wenn auch überwiegend Migration, Flucht und muslimisch-praktizierende und muslimisch-gelesene Menschen problematisiert werden. Diese Unklarheit der Personengruppe, die als risikobehaftet wahrgenommen wird, zeigt sich vor allem auch dann, wenn die Interviewten von den Zielgruppen der Maßnahmen, von der zum Teil engen Zusammenarbeit mit Sicherheitsbehörden und den Orten der Präventionsarbeit, wie z. B. Moscheen und Geflüchtetenheimen, sprechen.

Zusätzlich bemerkenswert sind die vielen Anekdoten der Professionellen über Meldungen potenzieller islamistisch-radikalisierter Personen etwa in Schulen, die sich anschließend als unbegründet herausstellen würden. Hier wird eine ausgeprägte Problemwahrnehmung auch in der Bevölkerung gegenüber Islamismus deutlich, die sich während des Forschungsprozesses u. a. darin bestätigte, dass sich einige der „islamistisch-radikalisierten“ Personen, die mir von den Justizbehörden als Gesprächspartner*innen für diese Untersuchung vermittelt wurden, als Falscheinschätzungen herausstellten. Hierzu zählten beispielsweise auch Personen, die sich als PKK-Anhänger*innen oder Eziden bezeichneten. Diese Beobachtung einer ausgeprägten Sensibilität gegenüber Islamismus wurde auch in einem anderen Teilprojekt des RadigZ-Verbundes bestätigt (Jukschat, Leimbach 2020).

3. Selbst- und Fremddeutungen als „radikal“ und „geläutert“

In den biografisch-narrativen Interviews mit Adressat*innen der Extremismusprävention wurde deutlich, dass die Interviewten überwiegend extrem belastete Lebenserzählungen hatten, die meist schon ab der frühen Kindheit durch verschiedene Institutionen sozialer Hilfe und Kontrolle geprägt waren. Die Erfahrungen der Interviewten mit Institutionen sozialer Kontrolle zeigten sich vor allem darin, dass sie sich an verschiedenen Selbst- und Fremddeutungen zu Normalität, Abweichung und den Radikalisierungsdiskursen abarbeiteten. Indem sich die Interviewten zu diesen Themen positionieren und ihre Identitätsentwürfe in den biografischen Interviews darstellten, trugen sie aktiv zu spezifischen Problematisierungen um Rechtsextremismus und Islamismus bei.

Aber auch jene Personen, deren Fremd- und Selbstdeutung in Bezug auf Radikalisierung nicht kohärent waren, trugen aktiv zum Radikalisierungsdiskurs bei, etwa durch ihre bloße Teilnahme an einem Interview, das im Kontext eines Radikalisierungsprojektes stattfand. Dies lässt sich etwa bei den Interviews im Strafvollzug nachvollziehen, wenn die von den Anstalten vorgeschlagenen Interviewpersonen durch eine Teilnahme an der Studie zu Radikalisierung deren Annahmen über die Interviewperson und dessen Radikalisierung zu bestätigen scheinen.

Die Beschreibungen der Professionellen zu den multiplen psychosozialen Belastungen der Adressat*innen entsprechen den Selbstbeschreibungen in den biografisch-narrativen Interviews mit den Adressat*innen. [2] Hier wird erneut deutlich, dass die diskontinuitiven Biografien der Adressat*innen zu einem Hilfebedarf führen, der durch die Präventions- und Interventionsprogramme aufgefangen werden kann. Nach jahrelangen Prozessen der (institutionellen) Exklusion ist es den Adressat*innen kaum möglich, aus eigener Kraft eine gewünschte Normalbiografie zu erreichen. Die Teilnahme am Ausstiegs- oder Deradikalisierungsprogramm wird vor diesem Hintergrund zu einer Ressource, die es den Adressat*innen ermöglicht, durch äußeres Einwirken eine Transformation zu durchlaufen, deren Ziel gesellschaftliche Teilhabe ohne Stigmatisierung ist. Erfolgreich teilgenommen hatten nur jene Personen, die sich vor den Maßnahmen in extremen persönlichen Notsituationen befunden hatten und auf äußere Hilfe angewiesen waren. Für Personen, die sich nicht in prekären und belasteten Lebensumständen befinden, fehlt dagegen ein ähnlicher Anreiz, auf diese Ressource zurückzugreifen – womit die Frage verbunden ist, inwiefern diese Personen durch entsprechende Maßnahmen überhaupt erreicht werden.

Die Ergebnisse der in der Kriminologie oft rezipierten Studie „making good“ von Shadd Maruna (2001) zu lebensgeschichtlichen Narrationen von ehemaligen Straftäter*innen lassen sich entlang der Deradikalisierungs- bzw. Ausstiegsnarrationen der interviewten Adressat*innen nachvollziehen. Denn die Aussteiger*innen präsentieren ihre Lebensgeschichten wie zwei verschiedene Leben mit unterschiedlichen Identitäten, dessen turning point die Teilnahme an einem Ausstiegs- oder Deradikalisierungsprogramm darstellt. In den lebensgeschichtlichen Erzählungen der Interviewten über das frühere „radikale, kriminelle Ich“ und das jetzige „geläuterte Ich“, erscheinen die Selbstdeutungen über die Teilnahme an extremistischen Aktivitäten im Lichte professioneller Erklärungen, die in verschiedener Hinsicht das diskursive Erfahrungswissen der Professionellen reproduzierten. So erklärten die Interviewten, dass sie aufgrund ihrer „fehlenden Vaterfigur“ in die Szene eingestiegen seien, dass es die „Erlebniswelt Rechtsextremismus“ gewesen sei, die sie gereizt hätte, oder dass ihre Radikalisierung ausschließlich im Gefängnis stattgefunden hätte.

Manche Interviewte wirkten nahezu wie professionelle Erzähler*innen, die bereits geübt darin waren, über ihre (De-)Radikalisierung zu sprechen und in deren Lebensgeschichten sich professionelle Deutungen zu Rechtsextremismus und Islamismus mit lebensweltlichen Erfahrungen verwoben hatten. Dies erscheint wenig überraschend im Angesicht dessen, dass ein wesentlicher Teil der Ausstiegsbegleitung und Deradikalisierungsarbeit in der Biografiearbeit liegt und die Lebensgeschichten in Bezug auf ihre Radikalisierung vielfach besprochen werden. Bemerkenswert ist jedoch, dass manche der Interviewten bereits an mehreren wissenschaftlichen Interviews im Rahmen von Projekten der Radikalisierungsforschung teilgenommen hatten und so zum Beispiel auch deutlich mehr Geld als Aufwandsentschädigung für die Teilnahme am Interview verlangten, als vorgesehen war. Das enorme wissenschaftliche und öffentliche Interesse an „Radikalisierten“ wird von den Adressierten aufgenommen und produktiv gewendet, indem sie dies etwa als wirtschaftlichen Nebenerwerb für sich nutzen.

4. Institutionelle Bedingungen von Radikalisierungsprävention

Der Titel der Arbeit „Doing Radikalisierung“ betont den interaktiven Charakter von Prozessen der Problematisierung durch staatliche und zivilgesellschaftliche Maßnahmen der Problembearbeitung. Im Laufe des Forschungsprozesses wurde deutlich, dass die institutionellen Bedingungen der Radikalisierungsprävention ebenfalls Folgen für die spezifischen Problemdeutungen haben. Der Bund investierte in den vergangenen Jahren viel Geld in den Ausbau von Radikalisierungspräventionsprogrammen und in die Erforschung von Gründen für Radikalisierung, die Erarbeitung neuer Präventionskonzepte und in die Sicherung von Qualitätsstandards der Radikalisierungsprävention.

Weitet man den Blick auf Radikalisierungsprävention als eine gesamtgesellschaftliche Situation (Clarke 2012), dann wird eine politökonomische Dimension deutlich. So wurde im Koalitionsvertrag der Bundesregierung der 19. Legislaturperiode die „Stärkung der Demokratie und Extremismusprävention“ (Koalitionsvertrag 2017: 119) als Handlungsziel festgeschrieben. Dabei ist die rhetorische Konturierung hin zur Prävention von islamistischer Radikalisierung bemerkenswert. Dieser wird mit einem eigenen Beschluss zum „Nationalen Präventionsprogramm gegen islamistischen Extremismus“ (2017) Rechnung getragen. Dieses wiederum geht auf das bereits 2016 verabschiedete Papier „Strategie der Bundesregierung zur Extremismusprävention und Demokratieförderung(2016) zurück. Die politische Schwerpunktsetzung wird von Präventionsakteur*innen mit einer gesamtgesellschaftlichen Bedeutungszunahme von Prävention gleichgesetzt. So heißt es im „Handbuch Extremismusprävention“ zum Beispiel:

„Die zunehmende Bedeutung präventiver Maßnahmen lässt sich auch anhand der Bundesförderprogramme gut nachzeichnen: Allein innerhalb des Zeitraums von 2015 bis 2018 wurden die Gelder zur Förderung präventiver Angebote nach und nach auf rund 132,5 Mio. Euro jährlich angehoben und somit insgesamt mehr als verdreifacht. Ähnliche Entwicklungen zeichnen sich auch auf der Landesebene ab.“ (Lützinger, Gruber, Hedayat 2020: 599).

Der massive Ausbau von Maßnahmen der Extremismusprävention (insbesondere auch in Bezug auf Islamismus in den Jahren 2015 bis 2020) zusammen mit der Förderung zahlreicher Forschungsprojekte in diesem Themenfeld ist nicht nur Ausdruck der Problematisierungsprozesse von Rechtsextremismus und Islamismus, sondern verstärkt und reproduziert diese zugleich. Diese Entwicklungen werden von den Professionellen ebenfalls thematisiert, da sie einen großen Anteil des Arbeitsalltags ausmachen:

E5: „Gut ist auch, dass Mittel bereitstehen, wobei das aber gleichzeitig ein kleines Problem macht. Es sind teilweise jetzt mehr Mittel im Umlauf, als überhaupt, wie soll ich sagen, seriöserweise eingesetzt werden können, weil schlicht und einfach die Träger und die Kapazitäten und das Fachpersonal fehlt, um solche Programme dann auch durchführen zu können.“

Mit dem Ausbau der Radikalisierungsprävention werden Dynamiken freigesetzt, bei denen es zu Konkurrenzsituationen zwischen Präventionsprojekten, aber auch mit Regelstrukturen der Bildungs-, Sozial- und Jugendarbeit kommt. Denn durch die Förderlogik müssen die Projekte Wirksamkeiten oder positive Evaluationen nachweisen, um nach einem gewissen Zeitraum weitergefördert zu werden. Damit verbinden sich Fragen danach, inwiefern sich „erfolgreiche Prävention“ überhaupt messen lässt, weshalb es zu einer intensiven und teilweise streitbaren Beschäftigung mit Evaluationsmethoden und Qualitätsstandards gekommen ist, die wiederum von der Wissenschaft aufgegriffen wird (siehe z. B. Junk et al. 2020).

Die institutionelle Expansion von Radikalisierungsprävention und die enge diskursive Verzahnung mit der Wissenschaft in diesem Bereich führen in einem organisationssoziologischen Verständnis zu einem hohen Grad an Professionalisierungsdynamiken. Durch die politische Schwerpunktsetzung und hohen Investitionen in Präventions- und Forschungsprojekte werden diese nicht nur professioneller, sondern sehen sich eben auch ökonomischen Konkurrenz- und Leistungssituationen ausgesetzt. Durch die Förderlogiken müssen die Mitarbeiter*innen der Projekte (sowohl in der Präventionspraxis als auch in der Wissenschaft) ihre Arbeit immer wieder neu legitimieren, um weiter gefördert zu werden. Dies passiert meistens vor dem Hintergrund von Beschreibungen von zunehmenden Bedrohungen durch radikalisierte Individuen und Gruppen und sicherheitspolitischen Argumentationen.

Durch die Thematisierung sicherheitsschaffender Maßnahmen werden Risiken insofern mitproduziert: Die Legitimation der Radikalisierungsprävention ist ohne eine Reproduktion des Gefahrendiskurses kaum denkbar. Sowohl die Präventionsprojekte als auch die wissenschaftlichen Forschungsprojekte sind deshalb Mitproduzenten*innen der spezifischen Problematisierung von Rechtsextremismus und Islamismus.

Fazit

Bei einer interaktionistisch-problemsoziologischen Betrachtung muss ich mir jedoch auch selbst die Frage stellen, inwiefern ich – bzw. das, was ich repräsentiere, nämlich die wissenschaftliche Beschäftigung mit dem Thema – selbst zur Problemkonstruktion beitrage. Durch meine Forschungspraxis und schließlich auch das Publizieren von Ergebnissen trage ich aktiv zum problematisierenden Radikalisierungsdiskurs und zur Aufrechterhaltung spezifischer Perspektiven auf Radikalisierung bei.

Hierin liegt möglicherweise aber auch das Potenzial einer problemsoziologischen Perspektive. Sie sensibilisiert für die eigenen Verstrickungen in gesellschaftliche Problematisierungsprozesse und macht deutlich, dass Problematisierungen auf verschiedenen Ebenen und durch deren Zusammenwirken entstehen – im „doing“ ist also die Problematisierung enthalten. Eine problemsoziologische Perspektive kann insofern für die Präventionspraxis genutzt werden, als dass sie insbesondere alltägliches und selbstverständliches Wissen hinterfragt und zugleich dessen Wechselwirkungen mit etwa vermeintlich selbstverständlichen institutionellen Entwicklungen betrachtet. Die Perspektive ermöglicht kritische (Selbst-)Reflexionsprozesse und zeigt auf, wie voraussetzungsvoll sich institutionelle Problembearbeitungen und somit auch Problematisierungen als gesellschaftliche Konstruktionsprozesse darstellen.

Information zum Vorgehen und Methodik

Die empirische Herangehensweise der Untersuchung wurde von den Prinzipien der qualitativ-rekonstruktiven Forschung angeleitet. [3] Dies bedeutet, zunächst möglichst offen an den Forschungsgegenstand heranzutreten und die im Feld wirkenden Diskurse, Handlungsstrategien und subjektiven Deutungen in ihren eigenen Logiken zu verstehen. Einer rekonstruktiven Forschungsperspektive liegt die Annahme zu Grunde, dass sich gesellschaftliche Diskurse, soziale Strukturen und übergeordnete Deutungen in den Erzählungen und Lebenspraktiken der Subjekte niederschlagen. Dessen sind sich die Subjekte nicht zwangsläufig bewusst, weshalb dies nicht einfach abgefragt werden kann, sondern durch die Sozialforscherin methodisch angeleitet rekonstruiert werden muss.

Der gesamte Forschungsprozess wurde durch das Vorgehen der Grounded Theory Methodology geleitet. Auf diese Weise flossen nicht nur Interviewdaten in die Auswertungen mit ein, sondern etwa auch die Analyse von parlamentarischen Dokumenten und Beobachtungsdaten – ganz nach dem Prinzip „all is data“ (Glaser, Strauss 1967).

Insgesamt wurden deutschlandweit 28 leitfadengestützte Interviews mit Professionellen der selektiven und indizierten Rechtsextremismus- und Islamismusprävention geführt. Außerdem wurden 15 biografisch-narrative Interviews mit rechtsextremistisch- und islamistisch-definierten Personen erhoben. Diese Interviews fanden überwiegend im Strafvollzug mit Personen statt, die die Teilnahme an den Maßnahmen entweder abgelehnt, abgebrochen oder abgeschlossen hatten. Die Interviews wurden schließlich nach einem kodierenden Prinzip in Kombination mit einer hermeneutischen Auswertungsweise in der Tiefe analysiert.

Anmerkung der Autorin: Für die hilfreichen Anmerkungen zu diesem Text möchte ich mich bei Prof. Dr. Nadine Jukschat bedanken.

Literatur

Anhorn, Roland & Stehr, Johannes (2012): Grundmodelle von Gesellschaft und soziale Ausschließung: Zum Gegenstand einer kritischen Forschungsperspektive in der Sozialen Arbeit. In: Schimpf, Elke & Johannes Stehr (Hrsg.): Kritisches Forschen in der sozialen Arbeit: Gegenstandsbereiche – Kontextbedingungen – Positionierungen – Perspektiven. S. 57-76. Wiesbaden: Springer VS.

Bereswill, Mechthild (2010): Adoleszenz und biographische Diskontinuität bei hafterfahrenen jungen Männern. Diskurs Kindheits- und Jugendforschung. Diskurs Kindheits- und Jugendforschung, 5. Jahrgang, 1. Heft, S. 33-45.

Clarke, Adele E. (2012): Situationsanalyse. Wiesbaden: Springer VS.

Glaser, Barney G. & Strauss, Anselm L. (1967): The Discovery of Grounded Theory: Strategies for Qualitative Research. Chicago: Aldine.

Groenemeyer, Axel (2014): Soziale Praxis – Institution – Diskurse – Erfahrung: Behinderung im Problematisierungsprozess. Soziale Probleme, 25. Jahrgang, 2. Heft, S. 150–172.

Hochschild, Arlies R. (2017): Fremd in ihrem Land. Eine Reise ins Herz der amerikanischen Rechten. Frankfurt am Main: Campus-Verlag.

Hollstein, Betina & Ullrich, Carsten (2002): Einheit trotz Vielfalt? Zum konstitutiven Kern qualitativer Forschung. Soziologie, 32. Jahrgang, 4. Heft, S. 29-43.

Holthusen, Bernd (2020): Prävention – ein verlockendes Konzept mit Nebenwirkungen. Kritische Anmerkungen. In: Kaplan, Anne & Ross, Stefanie (Hrsg.): Delinquenz bei jungen Menschen. Ein interdisziplinäres Handbuch. Festschrift zur Emeritierung von Prof. Dr. Philipp Walkenhorst. S. 355-368. Wiesbaden: Springer VS.

Holthusen, Bernd; Hoops, Sabrina; Lüders, Christian & Ziegleder, Diana (2011): Über die Notwendigkeit einer fachgerechten und reflektierten Prävention. Kritische Anmerkungen zum Diskurs. DJI Impulse, 2. Heft, S. 22-25.

Janotta, Lisa (2022): Soziale Arbeit mit rechtsaffinen Adressat:innen: Forschungsfragen zur Theoriebildung über sozialpädagogische Professionalität. Soziale Passagen 14, S. 129-147.

Jukschat, Nadine & Leimbach, Katharina (2020): Radikalisierung oder die Hegemonie eines Paradigmas – Irritationspotenziale einer biografischen Fallstudie. Zeitschrift für Soziologie, 49. Jahrgang, 5.-6. Heft, S. 335-355.

Koalitationsvertrag der Bundesregierung für die 19. Legislaturperiode.

Koppetsch, Cornelia (2019): Die Gesellschaft des Zorns: Rechtspopulismus im globalen Zeitalter. Bielefeld: transcript.

Leimbach, Katharina (2022): Doing Radikalisierung. Eine rekonstruktive Untersuchung der Extremismusprävention. Weinheim: Beltz Juventa.

Lützinger, Saskia; Gruber, Florian & Hedayat, Ali (2020): Extremismuspräventionslandschaft – eine Bestandsaufnahme präventiver Angebote in Deutschland sowie ausgewählter Präventionsstrategien aus dem europäischen Ausland. In: Ben Slama, Brahim & Kemmesies, Uwe E. (Hrsg.): Handbuch Extremismusprävention. Gesamtgesellschaftlich. Phänomenübergreifend. S. 597-626. Wiesbaden: Bundeskriminalamt.

Maruna, Shadd (2001): Making Good: How Ex-Convicts Reform and Rebuild their Lives. Washington D.C.: American Psychological Association.

Milbradt, Björn; Greuel, Frank & Schau, Katja (2019): (Sozial-)Pädagogische Praxis im Handlungsfeld Radikalisierungsprävention – Handlungslogik, Präventionsstufen und Ansätze. Gutachterliche Stellungnahme. Deutscher Präventionstag.

Möller, Kurt (2010): Ausstiege aus dem Rechtsextremismus. Wie professionelle Ausstiegshilfen Themen- und Bearbeitungsdiskurse über Rechtsextremismus (re)produzieren und modifizieren. In: Groenemeyer, Axel (Hrsg.): Doing Social Problems. Mikroanalysen der Konstruktion sozialer Probleme und sozialer Kontrolle in institutionellen Kontexten. S. 220-245. Wiesbaden: Springer VS.

Möller, Kurt & Schuhmacher, Nils (2007): Rechte Glatzen. Rechtsextreme Orientierungs- und Szenezusammenhänge. Einstiegs-, Verbleibs- und Ausstiegsprozesse von Skin-heads. Wiesbaden: Verlag für Sozialwissenschaften.

Möller, Kurt & Wesche, Stefan (2014): Distanzierungen von rechtsextremen Haltungen. Zur Funktion staatlicher Ausstiegsprogramme. In: Rieker, Peter (Hrsg.): Hilfe zum Ausstieg? Ansätze und Erfahrungen professioneller Angebote zum Ausstieg aus rechtsextremen Szenen. S. 20-44. Weinheim/Basel: Beltz Juventa.

Nationales Präventionsprogramm gegen islamistischen Extremismus.

Negnal, Dörte (2019): Die Problematisierung sozialer Gruppen. In: Dörte Negnal (Hrsg.): Die Problematisierung sozialer Gruppen in Staat und Gesellschaft. S. 15-42. Wiesbaden: Springer.

Rieker, Peter (2014): Einführung: Professionelle Hilfe zum Ausstieg aus der rechtsextremen Szene – Entwicklungen und Perspektiven. In: Peter Rieker (Hrsg.): Hilfe zum Ausstieg? Ansätze und Erfahrungen professioneller Angebote zum Ausstieg aus rechtsextremen Szenen. S. 7–19. Weinheim/Basel: Beltz Juventa.

Strategie der Bundesregierung zur Extremismusprävention und Demokratieförderung.

Fußnoten

[1] Dieser Begriff stammt aus der Analytik von Dörte Negnal (2019: 35 f.) zur Konstruktion von Problemgruppen. Sie beschreibt Mystifizierung als zentrale Konstruktionsstrategie für Problemgruppen. Konkret meint „Mystifizierung“ die Produktion sozialer Distanz durch Andeutungen und undurchsichtige Aussagen, die zur Generierung eines Verdachtes führt, der ein erweitertes Handlungsrepertoire für (institutionelle) Interventionen schafft.

[2] Der folgende Abschnitt bezieht sich auf die interviewten Adressat*innen, die sich zum Zeitpunkt des Interviews im Ausstieg befunden haben bzw. die bereits erfolgreich ausgestiegen waren. Dieser Beitrag soll sich auf die Wechselwirkungen und dadurch entstehenden Problematisierungen beziehen und kann hier deshalb die Selbstdeutungen jener Personen nicht darstellen, die eine Teilnahme verweigerten.

[3] Für eine detaillierte Beschreibung der methodologischen Fundierung und der methodischen Vorgehensweise siehe Leimbach (2022: 78 ff.).

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