„Wir sind erste Ansprechpartner*innen und bieten ein offenes Ohr“ – Erfahrungen mit aufsuchender Sozialarbeit im Projekt Digital Streetwork
7. Juni 2023 | Jugendkulturen und Soziale Medien, Radikalisierung und Prävention

Das Internet ist auch in der Jugend- und Sozialarbeit ein wichtiger Zugang, um mit Jugendlichen ins Gespräch zu kommen. Dies spiegelt sich auch in Projekten der Islamismusprävention, in denen soziale Medien zur Kommunikation und Beratung von jungen Menschen genutzt werden. Einen anderen Ansatz verfolgt das Projekt Digital Streetwork vom Bayerischen Jugendring, das junge Menschen zu ganz unterschiedlichen Themen berät und Hilfestellungen im Alltag anbietet. Im Gespräch gibt Jonas Lutz, Koordinator des Projektes, einen Einblick in die Hintergründe und die Erfahrungen, die seit dem Projektstart Anfang 2021 gesammelt wurden.

Götz Nordbruch:

Sie beschreiben Digital Streetwork als „eine neue Form der Jugend- und Jugendsozialarbeit“. Was genau machen Sie in dem Projekt – und inwiefern unterscheidet es sich von klassischer Jugendarbeit?

Jonas Lutz:

Neuartig an Digital Streetwork ist vor allem der digitale aufsuchende Charakter unserer Arbeit. Digital Streetworker*innen gehen dabei aktiv auf junge Menschen zu, kommen mit ihnen ins Gespräch und bieten bedarfsorientierte Beratung und Unterstützung. Die Innovation liegt dabei in dem Zielort: Digital Streetwork findet vor allem in den Online-Lebenswelten junger Menschen statt. Anstatt also in Skateparks oder Jugendzentren, erfolgt die Kontaktarbeit in sozialen Netzwerken, in Foren oder auf Gamingservern.

Konkret kann man sich das so vorstellen: Ein Digital Streetworker oder eine Streetworkerin betritt beispielsweise einen Discord Server und beteiligt sich dort am Chat-Geschehen. Postet in diesem Chat nun ein*e User*in Nachrichten, die einen Beratungs- oder Unterstützungsbedarf signalisieren, dann nimmt der Streetworker Kontakt auf und bietet ein Gespräch an. All dies geschieht stets transparent und auf freiwilliger Basis. Die Streetworkenden sind als solche erkennbar, beim Serverbeitritt wurde die Erlaubnis zu dieser Arbeit eingeholt und falls seitens des oder der User*in kein Gesprächsbedarf besteht, wird auch nicht weiter nachgehakt. Je bekannter die Streetworker*innen in den Strukturen sind, desto öfter kommt es auch vor, dass junge Menschen sich direkt an sie wenden.

Götz Nordbruch:

In der Jugendarbeit spielt die Beziehungsarbeit eine wichtige Rolle. Wie gelingt es Ihnen, online Vertrauen aufzubauen und eine Bindung zu den Jugendlichen zu schaffen?

Jonas Lutz:

Zu Beginn des Projekts im September 2021 war eine ganz zentrale Frage, ob dieser Ansatz überhaupt funktionieren kann: Sind junge Menschen offen dafür, im Onlinekontext mit Sozialpädagog*innen über ihre Themen zu sprechen – oder wird das direkt abgelehnt? Rund eineinhalb Jahre später können wir diese Frage eindeutig beantworten: Es funktioniert! Natürlich werden auch mal Gesprächsangebote seitens der Nutzer*innen abgelehnt, auch Beitrittsanfragen von Seiten der Serverbetreibenden wurden nicht immer akzeptiert. Dies ist aber die Ausnahme. In der Regel sind die Adressat*innen sehr offen für die Angebote von Digital Streetwork. Das spiegelt sich auch in den Kontaktzahlen wider, die wir seit Projektbeginn erheben. So haben wir seitdem über 6.000 Kontakte mit jungen Menschen aufgebaut, in rund 2.700 Fällen haben wir junge Menschen mit einem konkreten Unterstützungsauftrag beraten.

Die Gründe für das Vertrauen und die erfolgreiche Beziehungsarbeit sind dabei sehr vielfältig. Zunächst einmal gibt es ganz einfach einen Bedarf für eine niederschwellige und weitestgehend anonyme „Vor-Ort-Onlineberatung“. Die Adressat*innen sind offen für Digital Streetwork. Hinzu kommen konzeptionelle Aspekte und die individuellen Fähigkeiten der Streetworker*innen. Wir orientieren uns unter anderem an den etablierten Standards von Streetwork bzw. der Mobilen Jugendarbeit. Hier schaffen Prinzipien wie Offenheit, Transparenz, Akzeptanz und Freiwilligkeit eine gute Basis für den Aufbau eines Vertrauensverhältnisses. Die Adressat*innen fühlen sich ernst genommen, haben das Gefühl, dass sie über ihre Themen offen sprechen können und die Gewissheit, dass sie nur die Informationen teilen müssen, die sie mit den Streetworker*innen teilen möchten.

Seitens der Streetworker*innen tritt neben das sozialpädagogische Know-How eine hohe digitale Affinität, ein Verständnis für Onlineräume, ihre Logiken und Strukturen sowie ein Gefühl für die Fein- und Besonderheiten digitaler Kommunikation in vielfältigen Communitys in den Vordergrund.

Und auch Content kann dazu beitragen, dass ein Vertrauensverhältnis entsteht, daher bespielen die Streetworker*innen ihre beruflichen Accounts auch mit Content. Dieser dient nicht nur als eine Form der Verifizierung der Fachkraft und als themenbezogenes Gesprächsangebot, sondern auch, um die Streetworker*innen besser kennenlernen zu können.

Götz Nordbruch:

Eine Besonderheit des Projektes ist es, dass Sie zu ganz unterschiedlichen Themen beraten. Mit welchen Themen wenden sich die Jugendlichen an Sie?

Jonas Lutz:

Digital Streetwork ist themenoffen, das bedeutet, dass junge Menschen sich mit all ihren Themen an die Streetworker*innen wenden können. Trotz dieser Offenheit lassen sich drei Themencluster benennen, um die es in der Mehrheit der Anfragen geht: Psychische Gesundheit, Beziehung und Freundschaft sowie Schule und beruflicher Werdegang. Oftmals sind diese dann auch miteinander verbunden: Ein Jugendlicher leidet unter Einsamkeit, weil er durch die Pandemiemaßnahmen den Kontakt zu seinen Freunden verloren hat. Er wünscht sich dringlichst wieder Anschluss zu finden, findet aber selbst irgendwie keinen Weg, zieht sich durch die Misserfolge immer mehr sozial zurück, wodurch auch das Gefühl der Einsamkeit weiter verstärkt wird. Dies wirkt sich auch auf seine schulischen Leistungen und Anwesenheiten aus, was wiederum zu Zukunftssorgen und zusätzlichen Konflikten mit den Eltern führt.

Wenn ich das so sage, scheint es natürlich recht einfach, hier zu beraten. In der Praxis ist es aber oft ein mehrtägiger oder sogar mehrwöchiger Beratungsprozess, in dem diese Zusammenhänge und Hintergründe erst langsam deutlich werden. Generell zeigen unsere Erfahrungen, dass viele Jugendliche massiv unter Themen aus dem Bereich der psychischen Gesundheit leiden. So sind nebst Einsamkeit auch häufig depressive Verstimmungen und Ängste und damit verbundene Folgen Themen der Beratungsgespräche.

Götz Nordbruch:

Wie sehen denn die konkreten Angebote aus, die Sie Jugendlichen machen können?

Jonas Lutz:

Das ist immer unterschiedlich. Grundsätzlich sind wir erstmal erste Ansprechpartner*innen und bieten ein offenes Ohr. Manchmal ist nach einem Gespräch der Leidensdruck auch so weit herabgesenkt, dass seitens der Adressat*innen kein konkreter Beratungsauftrag erteilt wird. In solchen Fällen sind wir dann einfach ansprechbar und verfügbar, wenn jemand zum Reden benötigt wird.

In anderen Fällen haben wir eine beratende und begleitende Funktion. Hier haben Adressat*innen ein konkretes Anliegen, das wir dann gemeinsam bearbeiten. Es wird ein Ziel festgelegt und geprüft, welche Ressourcen verfügbar sind oder verfügbar gemacht werden können, um dieses Ziel zu erreichen. In dem eben beschriebenen Beispiel könnte das formulierte Ziel sein, dass der Jugendliche soziale Kontakte knüpft und Anschluss findet. Hier würden wir dann gemeinsam überlegen, wo es Anknüpfungspunkte gibt. Liegt beispielsweise ein thematisches Interesse oder ein Hobby vor? Gibt es vor Ort vielleicht eine Anlaufstelle? Oder gibt es eine Online-Community, die ein niederschwelliger Zwischenschritt sein kann, um mit Gleichgesinnten in Kontakt zu treten? In solchen Fällen können wir für Jugendliche da sein, bearbeiten gemeinsam ein Thema und begleiten sie auf diesem Weg.

Nicht selten treten Adressat*innen aber auch mit komplexen Themenlagen an uns heran. In diesen Fällen kann es hilfreich sein, eine spezialisierte Fachstelle in die Beratung einzubeziehen oder die Beratung direkt dorthin zu verlagern. Wir nennen das „Vermittlung“. Dies bedeutet aber nicht, dass lediglich auf eine andere Hilfestelle verwiesen wird, sondern wir treten in eine passive Rolle und sind trotzdem weiterhin als Vertrauensperson ansprechbar, sofern der Bedarf besteht. Ansonsten versuchen wir grundsätzlich möglichst klar zu beschreiben, welche Unterstützungen wir leisten können und welche nicht. Digital Streetwork ist keine Kriseninterventionsstelle. Dies kommunizieren wir frühzeitig und verweisen auf entsprechende Hilfsstellen, um transparent und professionell unterstützen zu können. Grundsätzlich geht es um Beratung, wir stellen natürlich keine Diagnosen oder bieten Behandlungen an.

Götz Nordbruch:

Mit unserem Projekt „Was postest Du?“ haben wir vor einigen Jahren versucht, einen Ansatz der aufsuchenden Islamismusprävention in sozialen Medien zu entwickeln. Die Idee war, sich in Diskussionen unter Jugendlichen einzubringen, die thematisch für die Prävention relevant sind. Im Rückblick würden wir sagen, dass diese konkrete Ausrichtung auf ein Thema wie Islamismus kaum funktioniert. Was hat Sie dazu bewogen, diesen breiten Ansatz zu wählen und Jugendliche bei ganz unterschiedlichen Fragen zu unterstützen?

Jonas Lutz:

Als Projekt des Bayerischen Jugendrings sind wir für alle junge Menschen offen. Das ist ein zentrales Prinzip von Jugendarbeit. Damit einher geht auch eine Offenheit für die Themen junger Menschen, unabhängig davon, welche das sein mögen. Und unsere Erfahrungen zeigen, dass ein solch breiter Ansatz auch bei der Beratung junger Menschen zielführend sein kann. Denn die Themen, die sich in Beratungsgesprächen ergeben, hängen oftmals zusammen: Würden wir in dem Fall des Jugendlichen, der unter Einsamkeit leidet, den Fokus allein auf eventuelle schulische Probleme legen, wäre die Ursache hierfür möglicherweise verborgen geblieben. Oftmals ist es in der Realität natürlich nicht so eindeutig, diese Darstellung ist vereinfacht. Sie zeigt aber ganz gut, wieso ein themenoffener Ansatz bei der Betrachtung des „Ganzen“ hilfreich sein kann.

Götz Nordbruch:

Wie stellen Sie sicher, dass Sie die jeweils notwendige Expertise im Team haben, um zu diesen Themen zu beraten?

Jonas Lutz:

Hierfür verfolgen wir mehrere Ansätze. Ganz zentral sind zunächst natürlich Fortbildungen. Diese erfolgen auf individueller Ebene mit einzelnen Kolleg*innen, aber auch projektübergreifend. So haben alle Fachkräfte zunächst eine Schulung zum Thema „E-Beratung“ erhalten und an einer Fortbildung zum Thema „Umgang mit Krisen in der Onlineberatung“ teilgenommen. Darüber hinaus organisieren wir Fortbildungen zu den Themen, die in den Beratungen dann auch im Schwerpunkt auftauchen. Im Rahmen der individuellen Fortbildungen können sich die Streetworker*innen dann nochmal spezialisiert in eigens gewählte Themenbereiche einarbeiten.

Wichtig sind auch unsere projektinternen Austauschplattformen. Hier kann beispielsweise eine anonymisierte kollegiale Fallberatung angefordert werden, oder man tauscht sich allgemein über die Beratungsthemen aus. Alle Streetworker*innen haben berufliche Vorerfahrungen im sozialen Bereich, dieses Schwarmwissen ist für das Projekt eine wichtige Ressource.

Eine zentrale Aufgabe von Digital Streetwork sehen wir auch darin, uns mit Fachstellen und Einrichtungen der Jugendarbeit zu vernetzen, um in Fällen, in denen eine Vermittlung stattfindet, den Hilfsweg für Adressat*innen so kurz wie möglich zu halten. Das bietet uns auch einen kurzen Draht zu diesen Fachstellen, wenn es um konkrete Themen und Anfragen geht.

Götz Nordbruch:

Vielen Dank für das Gespräch und den Einblick in Ihre Arbeit!

Logo des Kompetenznetzwerkes „Islamistischer Extremismus“ (KN:IX)
Die Beiträge im Portal dieser Webseite erscheinen als Angebot von ufuq.de im Rahmen des Kompetenznetzwerkes „Islamistischer Extremismus“ (KN:IX)
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