Die Scharia in Afghanistan? – Ein Vorschlag zur Sprachregelung 
18. August 2021 | Demokratie und Partizipation, Diversität und Diskriminierung, Religion und Religiosität

Derzeit bestimmen Berichte über die Machtergreifung durch die Taliban in Afghanistan die Medien. Oft ist darin von der Einführung „der Scharia“ die Rede. „Die Scharia“ jedoch gibt es nicht – dafür ganz viele stereotype Bilder vom „islamischen Gesetz“. Vor diesem Hintergrund plädiert Jochen Müller für den kritischen Umgang mit einem uneindeutigen Begriff.

Gerade erst haben die Taliban die Macht in Kabul und Afghanistan übernommen. Noch weiß niemand, was dies in den kommenden Tagen und Monaten für das Land und die Menschen bedeuten wird. Schon jetzt sprechen in der medialen Öffentlichkeit viele aber von einer Einführung der Scharia. So erklärten in den Fernsehnachrichtensendungen sowohl Taliban-Vertreter, der französische Islamexperte Olivier Roy als auch sämtliche Nachrichtensprecher*innen, dass in Afghanistan jetzt „die Scharia“ gelten respektive herrschen würde. Das reproduziert allerdings gängige Stereotype. Denn „die Scharia gibt es überhaupt nicht, dafür aber ganz viele Bilder und Vorstellungen darüber. Es gibt kein Buch, auf dem „Scharia“ steht, das man lesen könnte und in dem einzelne Paragrafen eines „islamischen Gesetzes“ aufgelistet wären. „Scharia“ heißt „der Weg zur Tränke“, frei übersetzt „der Weg zu Gott“ bzw. zu einem gottgefälligen Leben. Es handelt sich dabei um die Gesamtheit der vor allem in Koran und Sunna vorgegebenen Werte und Normen, deren Befolgung die Menschen Gott näherkommen lassen. Wenige konkrete gesetzesartige Vorgaben stehen da neben allgemeinen Vorgaben zum Verhältnis des Menschen zu Gott, der Natur und der Menschen untereinander.

Aber: Auch wenn (oder gerade weil) sie so unbestimmt bleibt, ist die Scharia für die meisten Muslim*innen als Leitfaden ein wichtiger Bestandteil des Islam. Und wenn am Ende – nach all den Nachrichten und Expert*innenstimmen – alle Welt meint, die Scharia sei ein Instrument zur Unterdrückung von Frauen und allem anderen, was den Taliban oder anderen Fundamentalist*innen nicht gefällt, dann soll sich niemand wundern, wenn die öffentliche Meinung nicht den Fundamentalist*innen sondern gleich allen Muslim*innen und „dem Islam“ Demokratie- und Pluralismusdistanz nachsagt. Dabei sind Scharia, Grundrechte und Demokratie wunderbar miteinander zu vereinen – wenn man es denn will. Die Taliban wollen es vermutlich nicht.

Also an alle Redakteur*innen und andere Expert*innen: Wenn ihr oder Menschen, die ihr interviewt, sich auf „die Scharia“ beziehen – sei es, weil sie diese gerade irgendwo in irgendeiner Form einführen wollen oder nur, indem sie darüber sprechen, dass andere sie einführen wollen – dann ist es eure Aufgabe, das richtig zu stellen bzw. zu ergänzen und zu erklären, dass es sich dabei immer nur um die jeweilige Interpretation eines „islamischen“ Gesetzes handelt und um ein spezifisches Islamverständnis eben derjenigen, die gerade davon sprechen. Hier ein Vorschlag zur Sprachregelung: Die Taliban wollen in Afghanistan Werte und Normen durchsetzen, von denen sie behaupten, dass sie „dem Islam“ oder „der Scharia“ entsprächen. Etwas kompliziert vielleicht, aber dafür irgendwie „richtig“.

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