Kleidung ist ein wichtiges Mittel, um eigene Ideale und Lebensvorstellungen auszudrücken. Das gilt gerade auch für Jugendliche, schreibt Ilka Hoffmann, Leiterin des Organisationsbereichs Schule der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft. In ihrem Beitrag über den Umgang mit dem Kopftuch plädiert sie für einen offenen Dialog mit Schüler_innen, in dem bei aller Kontroverse auch Wertschätzung und Anerkennung zum Ausdruck kommen: „Wir Lehrkräfte müssen uns immer vor Augen halten, dass Werthaltungen und auch Emanzipation nicht erzwungen, sondern nur angebahnt und unterstützt werden können.“
Angesichts der Anschläge islamistischer Gruppierungen löst religiöse Kleidung wie die Vollverschleierung und eine offensiv ausgelebte Religiosität Ängste und Bedrohungsgefühle in der Bevölkerung aus. Der Ruf nach Verboten wird laut. So scheinen nicht wenige Menschen zu glauben, mit dem Verbot bestimmter Kleidungsstücke ließen sich Terrorismus und Frauenunterdrückung bannen. Hilft ein Verbot denn wirklich gegen drohende Radikalisierungen? Oder bei der Emanzipation junger Frauen?
Schon immer waren Jugendliche auf der Suche nach eigenen Ausdrucksformen und Idealen. Auch Kleidungsstücke konnten eine besondere Bedeutung erlangen. Während meiner Schulzeit galt es beispielsweise bei manchen Jugendlichen als »chic«, ein PalästinenserInnentuch zu tragen. Zu diesen Jugendlichen gehörte auch ich. Darüber, ob und wie dieser Modetrend mit dem damaligen Terror der PLO, den Flugzeugentführungen und den nicht selten tödlich endenden Geiselnahmen zusammenhing, habe ich mir damals keine Gedanken gemacht. Ich hatte schlicht einen palästinensischen Brieffreund, der mich aus erster Hand mit Informationen über die Leiden des palästinensischen Volkes versorgte. Es war also eher eine Art spontanen Mitgefühls, was mich dazu veranlasst hat, mir ein PalästinenserInnentuch zuzulegen.
Nach dem Warum fragen
Als ich mit dem Tuch in der Schule aufkreuzte, geschah zweierlei: Zum einen wurde eine Schulkonferenz einberufen, auf der das Tragen einer derartigen Kopfbedeckung im Bereich der Schule strengstens untersagt und ein hochnotpeinliches Verhör mit mir und meinen Eltern angesetzt wurde. Zum anderen erhöhte sich durch die harsche Reaktion der Schule aber auch für andere SchülerInnen der Reiz des inkriminierten Tuchs. Aus einem modischen Accessoire wurde so ein Symbol des Protests, ein Zeichen dafür, dass die Lernenden sich von den Lehrenden nicht mehr alles gefallen lassen wollten.
Mit dem Verbot hatte die Schule somit das Gegenteil dessen erreicht, was sie sich davon erhofft hatte. Sie musste daraufhin wohl oder übel zurückrudern und das rigorose Verbotsregime durch eine Politik des Ermahnens und guten Zuredens ersetzen. Es gab keinen Ausschluss und auch das Verbot wurde nicht mit letzter Konsequenz durchgesetzt. Ich denke, auch bei der extremeren und fragwürdigeren Vollverschleierung muss der Sinn und Zweck eines Verbots, das de facto zum Schulausschluss führt, überdacht werden.
Wichtig ist zunächst, warum eine Schülerin sich für die Vollverschleierung entscheidet. Geschieht dies aus einer diffusen Protesthaltung heraus? Wird sie von den Eltern zum Tragen des Niqab gezwungen? Oder lehnt sie sich damit – im Gegenteil – gegen ihr liberal eingestelltes Elternhaus auf? Deutet die Vollverschleierung darauf hin, dass sich das Mädchen radikalisiert?
Dialog ist der einzige Weg der Prävention
Die Beantwortung dieser Fragen ist die Grundlage dafür, wie mit der Schülerin umzugehen ist. Um Antworten bekommen zu können, ist es jedoch zwingend erforderlich, den Dialog mit ihr zu suchen. Und eben dies – den Dialog zu suchen, statt sich ihm durch Verbot und Ausschluss zu verweigern – sollte das grundlegende Ethos sein, an dem eine demokratische Schule sich orientiert. Gerade wenn die Gefahr einer religiösen Radikalisierung besteht, ist der Dialog der einzige Weg der pädagogischen Prävention. Dies betonte auch der Islamwissenschaftler Michael Kiefer vor ein paar Jahren in einem ZEIT-Interview. Er warnte davor, den Kontakt mit sich radikalisierenden Jugendlichen abzubrechen, »damit man in einer Stunde des Zweifels noch an sie herankommt.« Demnach bietet der Dialog zwar keine Garantie der Abwehr von Radikalisierungen, aber es gibt keine Alternative dazu, das Gespräch zu suchen.
Eine andere Frage ist, wie dieser Dialog praktisch eingeleitet werden kann. Hilfreich wäre es hierbei wohl, wenn wir mehr muslimische Lehrerinnen und Sozialpädagoginnen an den Schulen hätten. Denn auch diese könnten den betreffenden Schülerinnen im Rahmen niedrigschwelliger Gesprächsangebote klarmachen, dass die Selbstverhüllung eine Kapitulation vor der Herrschaft des männlich-begehrenden Blicks ist, dass ein gottgefälliges Leben auch im Islam nicht an die Befolgung einer steinzeitlichen Kleiderordnung gebunden ist, dass Frauen durchaus emanzipiert und gläubig zugleich sein können und dass es für die Auflehnung gegen Autoritäten noch andere, wirkungsvollere Protestformen gibt. Wir Lehrkräfte müssen uns immer vor Augen halten, dass Werthaltungen und auch Emanzipation nicht erzwungen, sondern nur angebahnt und unterstützt werden können.
Werte können nicht erzwungen werden
Was wir brauchen ist ein offener Dialog über die Zusammenhänge von Religion und gesellschaftlichen und sozialen Werten. Wir brauchen die umfassende und nachhaltige Verankerung von Demokratie, Solidarität und gegenseitiger Wertschätzung in unseren Schulen. Dies kann nicht über Verbote und Ausschluss derjenigen geschehen, die unserer Meinung nach unsere Werte nicht teilen oder die falschen Kleidungsstücke tragen.
Werte müssen vorgelebt werden. Sie müssen in die Schulkultur verankert werden. Es bedarf eines umfassenden pädagogischen Konzepts sowohl im Hinblick auf Antidiskriminierung als auch auf Prävention von Radikalisierungstendenzen von Jugendlichen. Kinder und Jugendliche müssen die Möglichkeit erhalten, sich über ihre jeweiligen religiösen Bezüge und Wertehaltungen auszutauschen, um trotz aller Differenzen einen gemeinsamen, friedvollen Weg zu finden. Dies ist eine sehr anspruchsvolle Aufgabe für die Schulen, deshalb sind entsprechende Fortbildungsangebote für die Lehrkräfte sowie verlässliche Unterstützungs- und Beratungsangebote im Falle religiöser oder weltanschaulicher Konflikte unerlässlich.
Einstweilen sollten wir, wann immer es geht, versuchen, in jedem jungen Menschen zunächst einmal den Mitmenschen zu sehen, der auf der Suche ist und dazugehören will und der das Recht auf Bildung hat.
Foto: (c) Kay Herschelmann
Der Beitrag ist in der Berliner Bildungszeitschrift – bbz (12/2016) erschienen. Wir bedanken uns bei der Autorin und der Redaktion für die Erlaubnis, den Text hier zu veröffentlichen.