Deutsche Geschichte(n) – Multiperspektivische Dokumentationsarbeit von Jugendlichen im Modellprojekt kiez:story
13. Januar 2022 | Diversität und Diskriminierung

Symbolfoto: Mann und Kind am Strand; Bild: Brett Jordan/unsplash.com

Deutsche Geschichte(n) sind multiperspektivisch und auch eine familiäre „Migrationsgeschichte“ kann sehr unterschiedlich aussehen. Das ufuq.de-Projekt kiez:story möchte Jugendliche zu einer Auseinandersetzung mit ihrer eigenen Familiengeschichte ermutigen. Drei Mitarbeiter*innen aus kiez:story teilen ihre Familienbiografien und machen Vorschläge, wie das Thema Gastarbeit mit Jugendlichen behandelt werden könnte.

Berlin, 5. Oktober 2021. Anlässlich des 60. Jahrestags des „Anwerbeabkommens mit der Türkei“ hält der amtierende Bundespräsident eine „Festrede“. Dass dieses Abkommen irgendwann durch die ranghöchste Repräsentanz des deutschen Staats „gefeiert“ wird, ist bemerkenswert. Ebenso bemerkenswert sind die Worte, mit denen der Bundespräsident die Rede beschließt:

„Ich ermuntere Sie, ich ermuntere alle, die hier zu Hause sind, und ich ermuntere insbesondere die Jugendlichen, die jungen Frauen und Männer hier heute und in ganz Deutschland: Nehmen Sie sich den Platz, der Ihnen zusteht! Nehmen Sie sich den Platz in der Mitte unserer Gesellschaft und füllen Sie ihn aus! Gestalten Sie diese Gesellschaft, denn es ist Ihre Gesellschaft!“

Mit diesen Worten adressiert Frank-Walter Steinmeier die Menschen, die im Rahmen dieses Abkommens nach Deutschland gekommen sind, und ihre Nachkommen als gleichberechtigte Bürger*innen, die ein Recht auf vollumfassende Partizipation und Teilhabe an der deutschen Gesellschaft haben sollten. Das war nicht immer so. Dies zeigt sich besonders am Begriff der sogenannten „Gastarbeiter“ [1], mit dem Arbeitsmigrant*innen in der BRD bezeichnet wurden. Dass das Wort „Gastarbeiter“ aus der Mode gekommen ist, ist unter anderem dem historischen Faktum geschuldet, dass sich im Laufe der Zeit drei der 14 Millionen Arbeitsmigrant*innen in der Bundesrepublik aktiv gegen die „BRD-Politik der Rückkehrförderung“ (Yildiz 2019) in den 1970er- und 80er-Jahren entschied. Sie haben sich nicht nur entschlossen, in Deutschland zu bleiben, ihre Familien zusammenzuführen und neue zu gründen, sondern sie haben auch auf vielfältige Art und Weise die Gegenwart dieses Landes mitgeprägt. Der Begriff und das Konzept wurde gerade aus den Communitys ehemaliger „Gastarbeiter*innen“ vielfach kritisch beleuchtet (Izgin et al. 2019; Yildiz 2019; Kızılay 2020). Steinmeiers Feststellung wäre also schon 1980 richtig gewesen, jedoch herrschte damals ein noch ganz anderer Ton vor. In diesem Sinne fühlen sich die deutlichen Worte des Bundespräsidenten wie eine symbolische Zäsur an – der jedoch viele gesellschaftliche Auseinandersetzungen und migrantische Kämpfe vorausgehen mussten [2].

Rückblickend sind die Auseinandersetzungen um das Thema Migration von einer abwehrenden Rhetorik gekennzeichnet. In Medien und Politik wurde Einwanderung – oftmals als Zuwanderung bezeichnet, um den dauerhaften Charakter der Migration in Frage zu stellen – zumeist als Fehlentwicklung dargestellt (Alexopoulou 2020, S. 7f.). Das heute gefeierte Anwerbeabkommen wurde etwa schon kurz nach seinem Inkrafttreten als zu korrigierender Fehler angesehen. Helmut Kohls migrationsfeindliche Position ist hinlänglich bekannt, aber auch sozialdemokratische Kanzler wie Willy Brandt oder Helmut Schmidt haben sich ablehnend über die Arbeitsmigration, insbesondere aus der Türkei, geäußert. Letzterem wird 1982, während seiner zweiten Amtsperiode, das Zitat zugeschrieben, dass ihm „kein Türke mehr über die Grenze“ komme (Der Spiegel 2013). Und noch 2004 sah Schmidt das Abkommen als historischen Fehler an und konstatierte, dass die daraus resultierte Einwanderung in einem „Integrationsversagen“ gemündet sei (FAZ 2004). Besonders die Debatten der 1990er-Jahre waren von den Kampfbegriffen „Deutsche Leitkultur“ und „Multikulti“ geprägt – Letzteres sah noch Angela Merkel nach der Jahrtausendwende als gescheitert an (Deutsche Welle 2010).

Auch bei progressiven Kräften, etwa dem Zusammenschluss Kanak Attak, stieß das liberale Konzept des Multikulti von Anfang an nicht auf Gegenliebe – wenn auch aus anderen Gründen. Sie sahen hierin eine Reproduzierung rassistischer Zuschreibungen und Kulturalisierung sozialer und politischer Zustände (Karakayali 2001). Kanak Attak war Teil eines kritischen Diskurses, der diese Debatten seither begleitet und sich im akademischen und zivilgesellschaftlichen Milieu in Form von Forschungsprojekten, Initiativen und wissenschaftlichen sowie medialen Beiträgen etabliert hat.

Zuletzt drehte sich die Diskussion auch im Kontext des kolonialen Erbes Deutschlands zunehmend um eine „multidirektionale“ bzw. „multiperspektivische Erinnerungskultur“ (Rothberg 2021), die den „Migrationshintergrund Deutschlands“ in die Geschichtserzählungen inkludieren möchte. Dabei geht es um eine Revision der offiziellen Geschichtserzählungen, die vor allem aus der Perspektive der Mehrheitsgesellschaft dargestellt werden und dabei viele andere Erfahrungen ausblenden. Auch Steinmeier greift diesen Ansatz in seiner Rede auf, wenn er sagt: „Die Geschichten der Gastarbeiterinnen und Gastarbeiter verdienen einen angemessenen Raum in unseren Schulbüchern und in unserer Erinnerungskultur; eine Randnotiz wird ihrem Beitrag für unser Land nicht gerecht.“

Zeitgleich findet auch eine Aufarbeitung des „Mauerfalls“ statt, der gerade aus migrantischer, jüdischer und linker Perspektive häufig kritischer gesehen wird, als es das bundesrepublikanische Narrativ der „Wiedervereinigung“ tut. Damit einher geht auch die Auseinandersetzung mit den Themen Migration in die DDR und Binnenmigration sowie die Berücksichtigung migrantischer Erinnerungen und Perspektiven auf die Vereinigung der beiden deutschen Staaten in einer kapitalistischen Ordnung und ihre Folgen.[3]

kiez:story: Jugendliche machen sich auf Spurensuche im Kiez

Diese vor allem durch marginalisierte Positionen neu belebte Auseinandersetzung mit deutscher Geschichte mündete auch beim Verein ufuq.de in dem Wunsch, ein Projekt in eben diesem Themenfeld anzusiedeln. Mit der neuen Förderperiode 2020 von Demokratie leben! war nun auch eine passende Finanzierungsmöglichkeit auf den Plan getreten und das Projekt kiez:story konnte am 1. Januar 2020 gemeinsam mit dem Kooperationspartner mediale pfade die Arbeit aufnehmen. Mit Blick auf eine jugendliche Zielgruppe stellte sich von Anfang an die Frage, inwiefern diese teilweise eher akademischen und bildungsbürgerlich anmutenden Auseinandersetzungen in ein niedrigschwelliges Format für Jugendliche übersetzt werden können.

In den AGs wird versucht, möglichst viel Kiezbezug herzustellen. Hier in Form einer „Kieztour“ durch die Gropiusstadt mit dem Lokalrapper Luvre47.

 

Einen guten Bezugspunkt für die Jugendlichen bietet dabei das Querschnittsthema „Migration“. Gerade der städtische Raum ist ohne Migration nicht denkbar. Heiko Berner und Erol Yildiz (2021) sehen kosmopolitische Metropolen wie Berlin als zentrale Räume „postmigrantischer Aushandlungsprozesse“. Und auch wenn beim Gedanken an Migration vor allem bestimmte Bilder von internationaler Flucht- und Arbeitsmigration vor unserem geistigen Auge erscheinen, möchte das Projekt gerade vor dem Hintergrund der Berliner Teilungsgeschichte auch die innerdeutsche Binnenmigration miteinbeziehen. Denn die über Generationen sesshafte Familie scheint angesichts der historischen Dynamiken, die sich allein in Berlin vollzogen, eine „exotische“ Ausnahme zu sein. Oder wie Alexopoulou (2020, S. 8) schreibt: „Migration ist eine ‚Grundbedingung der Menschheitsgeschichte’“. Das Projekt wendet sich also nicht nur an Jugendliche mit einem sogenannten „Migrationshintergrund“, sondern möchte für alle Jugendlichen die Möglichkeit einer selbstermächtigenden Auseinandersetzung mit „ihrer“ Geschichte bieten:

„Im Modellprojekt kiez:story machen sich Jugendliche auf die Suche nach spannenden Geschichten aus ihrem Kiez. Die Stories werden in verschiedenen Formaten wie Texten, Bildern, Podcasts und Videos aller Art erstellt und am Ende in einer eigenen Ausstellung gezeigt.“ (kiez:story 2020)

Das Projekt wird hier vor allem im Rahmen von Schul-AGs durchgeführt, die sich über ein ganzes Schuljahr erstrecken und so eine intensive Auseinandersetzung und Beziehungsarbeit zwischen Teamenden und Jugendlichen ermöglichen, die für die teilweise sensiblen Themen notwendig sind. Besonderer Fokus liegt dabei auf dem Thema „Gastarbeit“ – zumindest in den Westberliner Schulen [4]. Denn hier haben viele Jugendliche eigene biografische Bezüge. Im ehemaligen Westberlin befinden sich drei der vier Kooperationsschulen des Projekts, nämlich die „Walter-Gropius-Schule“ in der Gropiusstadt, der „Campus Rütli“ nahe der Sonnenallee in Nord-Neukölln und die „Lina-Morgenstern Schule“ im Bergmannkiez in Kreuzberg. Im Osten der Stadt ist hingegen das Thema „Vertragsarbeit“, also die Anwerbung von Menschen aus den ehemaligen „sozialistischen Bruderstaaten“ eher von Relevanz. Hier wird das Projekt an der „Schule am Rathaus“ in Lichtenberg umgesetzt. Bei der Auswahl der Schulen wurde darauf geachtet, dass sie sich in unterschiedlichen Sozialräumen befinden, die in einigen Aspekten die dichotome Ost-West-Unterscheidung aufbrechen [5]. Die AG-Inhalte sind an den spezifischen Kontext der Schule angepasst, um einen Kiezbezug herzustellen, die Themen so nah wie möglich an den Lebens- und Schulalltag der Schüler*innen anzupassen und für sie zugänglicher zu gestalten.

Vor diesem Hintergrund wurde auch der Pool an kiez:story-Teamenden mit Menschen gebildet, die solch unterschiedliche Bezüge zur deutschen Geschichte und zu den Berliner Kiezen mitbringen und so mit eigenem Wissen und Erfahrungen die Themen anschaulicher vermitteln können. Dies geschah auch unter Einbezug des Instagram-Kanals, auf dem in Zusammenarbeit mit den Teamenden etwa eigene Informationskampagnen kreiert wurden, die auch in den AGs in den Schulen für die Übungen zur „Gastarbeit“ und „Vertragsarbeit“ aufgegriffen wurden (kiez:story 2021).

An dieser Stelle lohnt es sich, auch persönlich auszuholen. Dies möchten wir anhand der drei Biografien der Autor*innen tun, die verdeutlichen, wie unterschiedlich die Bezüge zur deutschen Geschichte ausfallen können und wie selbstermächtigend autobiografische Dokumentation und Aufarbeitung sein kann.

Von Italien über die Schweiz nach Deutschland: Die Geschichte eines italienischen „Gastarbeiters“

Die Geschichte des kiez:story-Projektmitarbeitenden Claudio Caffo öffnet die Perspektive auf den europäischen Raum. Sie beginnt auf Sizilien in den 1950er-Jahren mit dem Umzug seiner italienischen Großeltern in die Schweiz, die dort im Zuge eines Anwerbeabkommens Arbeit fanden. Bei der Einreise in die Schweiz mussten zunächst die Kinder zurückgelassen werden, denn die Mitnahme von Kindern war nicht vorgesehen. Die fünf Kinder der Familie wuchsen also bei verschiedenen Verwandten auf, bis zunächst die drei Töchter heimlich ins Land gebracht wurden und deren Aufenthalt erst im Nachhinein durch den Staat genehmigt wurde. Die zwei Söhne, darunter der Vater von Claudio Caffo, wurden auf ein staatliches Internat im Norden Italiens geschickt, bis auch sie ein paar Jahre später nachziehen durften. Als die Familie endlich wiedervereint war, sprachen die jüngsten Töchter und die Söhne keine gemeinsame Sprache mehr. Sie mussten sich neu kennen und verständigen lernen.

Ganz rechts der Vater des Autors Claudio Caffo mit seinen Geschwistern auf einem Spielplatz in der Schweiz um das Jahr 1965.

 

In der Schweiz galten gerade Italiener*innen damals als Unerwünschte, vor deren Männern* – oftmals als „kriminelle Südländer“ bezeichnet – die heimischen Frauen geschützt werden müssten. Die Geringschätzung und Abwertung trug seltsame Blüten: Der Hausarzt der Familie bot bei einer Untersuchung an, eine der kleinen „süßen“ Töchter abzukaufen und zu adoptieren, die Familie hätte ja bereits genug Kinder.

Nachdem sie jahrzehntelang im Ausland gearbeitet hatten, gingen die Großeltern mit Renteneintritt zurück nach Italien und bis auf einen Sohn folgten alle Kinder, trotz schlechterer Arbeitsperspektiven, diesem Weg. Den Vater verschlug es ebenso für einige Jahre nach Rom, bevor er in den 1980er-Jahren – auch, weil er sich in eine deutsche Frau verliebte – erneut auswanderte, diesmal nach Westberlin. Dort wurde die Liebe nur mit Widerstand und skeptisch angenommen: Die rassistischen Ressentiments gegenüber „Südländern“ waren auch in Deutschland sehr lebendig. Seine Frau musste aufgrund ihrer Beziehung zu einem italienischen Mann wüste Beschimpfungen erdulden.

Der Vater arbeitete hart und schaffte es, nach einem Umzug nach Hessen, vom Lagerarbeiter in einen Bürojob „aufzusteigen“ – aber schon ein Jahrzehnt später, nachdem er für die Betreuung der Kinder eine Job-Auszeit genommen hatte, schien diese Arbeit umsonst gewesen zu sein: Keiner wollte einen alleinerziehenden, mittelalten „Ausländer“ mit Realschulabschluss einstellen. Der Vater rutschte somit zurück in die prekäre Beschäftigung, in welcher er wohl nicht zufällig vor allem mit anderen Kolleg*innen mit Migrationsgeschichte arbeitet.

Die Erfahrungen eines jungen Paares aus Vietnam, das entgegen allen staatlichen Vorkehrungen eine Familie in Deutschland gründete

Die Migrationsgeschichte der Autorin und kiez:story-Teamerin Phương Thúy Nguyễn beginnt im Jahr 1980 mit dem bilateralen „Abkommen über die zeitweilige Beschäftigung und Qualifizierung vietnamesischer Werktätiger“ (Bundesarchiv, BArch DL2 17368) zwischen der DDR und ihrem „sozialistischen Bruderland“ Vietnam. Im Zuge dessen landeten ihre Eltern mit Hunderten von anderen sogenannten Vertragsarbeiter*innen 1987 in der sächsischen Provinzstadt Werdau, in der auch die Autorin geboren und aufgewachsen ist. Die damals ledigen Eltern und ihre Kolleg*innen wurden in einem Wohnheim eigens für vietnamesische Vertragsarbeiter*innen segregiert von DDR-Bürger*innen am Stadtrand untergebracht. Hier teilten sie in nach Geschlecht getrennten Zwei- bis Dreizimmerwohnungen mit fünf bis sechs anderen Kolleg*innen, meist aus derselben Heimatprovinz, ihren Alltag außerhalb der Arbeit. Jeder*m standen circa fünf Quadratmeter sowie eine gemeinsame Küche und Toilette zur Verfügung. Das Leben der damals 22-jährigen Mutter war vorrangig bestimmt von der Schichtarbeit als Näherin in einer Textilfabrik in der Region. Der Vater wurde einem Elektronikbetrieb in Leipzig zugeteilt. 12% ihres Bruttolohnes mussten sie als Transferleistung an die vietnamesische Regierung zum Wiederaufbau des damals kriegszerstörten Landes abgeben (Bundesarchiv, Aktenband 2143).

1998: Die Autorin Phương Thúy und ihre Schwester Phương Thanh Nguyễn mit anderen Kindern ehemaliger Vertragsarbeiter*innen aus der Plattenbausiedlung „Sorge“ in Werdau (Sachsen).

 

Neben der Arbeit war auch ihr Alltag in der DDR streng reglementiert. Es gab ständiges Wachpersonal, welches die Ein- und Ausgänge im Wohnheim kontrollierte und den Zutritt Fremder unterband. Die fremdbestimmte Kontrolle ihres Alltags reichte bis ins Privatleben, so wurden Liebesbeziehungen untereinander nicht gern gesehen, und noch kritischer sah der Staat den Kontakt zu DDR-Bürger*innen: Die ausländischen Werktätigen sollten kein Teil der DDR-Gesellschaft werden, sondern nur für sie arbeiten. So war auch der angebotene Sprachunterricht lediglich auf die Arbeit im Betrieb ausgerichtet. Die Mutter und der Vater berichten in dem Kurzfilm „Sorge 87“ (2018), den die Schwester der kiez:story-Teamenden, Phương Thanh Nguyễn, produzierte:

„Morgens fuhr uns ein Bus in die Sprachschule, zwei Stunden Fahrtzeit. Im Kurs bin ich dann oft eingeschlafen, weil der Weg bis Auerbach so weit war. 60 km von Werdau nach Auerbach. Morgens sind wir um 4 Uhr aufgestanden, kämpften um die Sitzplätze im Bus (…). Es ist wichtig zu erwähnen, dass wir gekommen sind, um zu arbeiten. Wir lernten die Sprache neben der Arbeit. Deswegen beherrschen so viele die Sprache nicht.“ (Mutter und Vater von Phương Thúy und Phương Thanh Nguyễn)

Der meist auf vier Jahre befristete Arbeitsvertrag sah auch vor, dass Frauen* bei einer Schwangerschaft abgeschoben werden konnten oder abtreiben mussten. Diese staatliche Biopolitik hat noch bis heute psychische und physische Konsequenzen für viele ehemalige Vertragsarbeiterinnen (Kurt 2018). Doch der Kontrolle und Überwachung zum Trotz schufen sich ihre Eltern und deren Kolleg*innen Freiräume und gestalteten die Blütezeit ihres Lebens in ihrem Sinne. Sie feierten Partys im Wohnheim, gingen in die Diskothek, machten Wochenendausflüge in verschiedene Städte der DDR und nutzten auch ihre freie Zeit, um sich durch zusätzliche Schneiderarbeiten etwas dazuzuverdienen. Sie versorgten Vertragsarbeiter*innen aus anderen Ländern, aber auch DDR-Bürger*innen, mit Jeans und anderer moderner Kleidung, an denen es in den Läden der realsozialistischen Republik mangelte. Und natürlich entstanden auch trotz offiziellen Verbots Liebesbeziehungen, aus denen sich nach der Wende Familien gründeten, die heute die Vertragsarbeiter*innen-Communitys in Ostdeutschland ausmachen.

Die Wende 1989/90 bedeutete für viele Vertragsarbeitende das Ende ihres Aufenthaltes, die meisten von ihnen wurden mit einer Entschädigung von 3.000 DM abgeschoben [7]. Die Zurückgebliebenen wurden mit dem Ende bzw. Kündigung ihres Arbeitsverhältnisses aus den Wohnheimen geworfen und mussten sich von nun an selbst, ohne staatliche Unterstützung, über Wasser halten. Die damals mit der Autorin schwangere Mutter entschied sich, trotz der rechtlichen Ungewissheit und der prekären Lebensverhältnisse nach der Wende, in Deutschland zu bleiben. Auch nach dem Beitritt der DDR zur BRD war der Staat nur an ihrer Arbeitskraft interessiert und koppelte den Aufenthaltsstatus an den Nachweis eines Lebensunterhaltes. Dies war aufgrund der hohen Arbeitslosigkeit im Osten zu der Zeit fast unmöglich. So blieb nur eine Möglichkeit: die Selbstständigkeit. Zunächst allein, begann die Mutter als schwangere, illegalisierte Frau [8] mit dem Verkauf von Textilien auf der Straße und auf Märkten, später eröffneten die Eltern gemeinsam ein Kleidungsgeschäft und arbeiteten seitdem in verschiedensten Branchen als Gastronomiebetreibende, Blumenverkäufer*innen, Kellner*innen, Fabrikarbeiter*innen und Leiharbeiter*innen. Heute arbeiten sie als Bistrobesitzer und Putzkraft in der Stadt, in der sie vor 34 Jahren ankamen.

Die Geschichte der iranischen Witwen, die in der DDR Asyl fanden

Ebenso einen Bezug zur DDR hat die Geschichte des dritten Autors und Projektmitarbeiters, Pierre Asisi. Seine Familie mütterlicherseits gelangte über Umwege bereits Ende der 1950er-Jahre in die DDR. Sein Großvater Nematollah Asisi wurde als Kommunist zusammen mit anderen Genossen 1954 in einem Schauprozess durch das Shah-Regime hingerichtet. Die Witwen der ermordeten Männer erhielten mit ihren Kindern Asyl und wurden gemeinsam in einem großen Haus in Halle an der Saale untergebracht. Sogar eine Köchin wurde zur Verfügung gestellt, was für die Familien, in Anbetracht von sieben iranischen Müttern im Haushalt, zwar als etwas Überflüssiges, so doch als wertschätzende Geste gesehen wurde. Die Mutter des Autors, die als neunjähriges Kind ankam, erzählt gerne die Anekdote, dass sich die Mitschüler*innen darum stritten, neben ihr zu sitzen. In der Erzählung tauchen auch darüber hinaus keine rassistischen Erfahrungen aus dieser Zeit auf.

Die Familie des Autors Pierre Asisi kam über Umwege Ende der 1950er-Jahre in Halle an der Saale an.

 

Als ein Cousin des Autors die Großmutter 1994 interviewte, sagte sie über das Ankommen in der DDR: „Die Deutschen empfingen uns gut. Sehr gut. Allerdings im Rahmen ihrer Möglichkeiten“ (Asisi 2011). Auch wenn rassistische Erfahrungen häufig aus „Dankbarkeit“ und wegen anderer Hemmnisse in der ersten Generation ungern zur Sprache gebracht werden, spricht einiges dafür, dass die Situation der Familien mit ihrem Status als politische Asylsuchende privilegiert war – nicht nur gegenüber Vertragsarbeiter*innen, sondern sogar gegenüber Teilen der autochthonen Bevölkerung. Die Kinder hatten freundschaftlichen Umgang mit den Einheimischen, lernten die (sächsische) Sprache, wurden gefördert und konnten eine höhere Ausbildung beginnen. Trotzdem nutzen sie ohne Ausnahme ihr „Privileg“ als iranische Staatsbürger*innen, um noch vor der Wende in den Westen auszuwandern oder, so wie die Großmutter, nach der Iranischen Revolution in ihr Heimatland zu reimmigrieren.

„Sorge 87“ – Selbstermächtigung durch Dokumentation

Über das Aufwachsen als älteste Tochter von vietnamesischen Arbeitsmigrant*innen und das Leben in einer „diasporischen Parallelwelt“ inmitten einer sächsischen Plattenbausiedlung schreibt die Autorin Phương Thúy Nguyễn in ihrem Gedicht „Sorge“ (2020). Neben dem feindseligen, rassistischen Klima der Nachwendezeit hinterlässt das Leben und die Migrationsgeschichte der ersten Generation auch tiefe Spuren im Leben der Nachfolgegenerationen. Trotzdem machte die Autorin die Erfahrung, dass es für ihre Schwester und sie selbst bestärkend war, die Geschichte ihrer Familie in dem selbst produzierten Dokumentarfilm „Sorge 87“ verarbeiten zu können. Auch die Eltern erfuhren Wertschätzung und waren stolz, als der Film 2018 auf dem renommierten Dokumentarfilmfestival Dok Leipzig präsentiert wurde. Endlich wurden sie gewürdigt, gehört und gesehen, nicht nur von ihren Töchtern, sondern auch von der deutschen Mehrheitsgesellschaft. Das Medium Film hat den Nguyễn-Schwestern somit einen Dialograum eröffnet, der sogleich über eine künstlerische Distanz auch neue Nähe geschaffen hat – ein Raum, in dem alle ihre gefestigten Rollen als Mutter, Vater oder Töchter abstreifen konnten und die Kamera als Mittel zum Zweck diente, zwischenmenschliche Interaktionen zu re-kreieren, in der Familienmitglieder sich als Menschen abseits der festgefahrenen Rollen begegnen und neu kennenlernen durften.

Der selbst produzierte Dokumentarfilm „Sorge 87“ ist in der Webausstellung „Offener Prozess“ zu sehen. Die Regisseurin Phương Thanh Nguyễn setzte auch die Animationen selbst um.

 

Filme und Medien wie diese ermöglichen nicht nur persönliche autobiografische Verarbeitungsprozesse, sondern haben auch das Potenzial, als Identifikations- und Inspirationsquelle für andere zu dienen. Sie bewegen auch Menschen außerhalb des persönlichen Kreises dazu, sich als Protagonist*innen und Expert*innen ihrer eigenen Geschichte zu verstehen und diese zunächst für sich und andere sichtbar zu machen. Lebensgeschichtliches Dokumentieren und Erzählen können selbstermächtigende, emanzipative Prozesse sein, sich als kreativ Schaffende wahrzunehmen, sich selbst zu vertrauen und wertschätzen zu lernen.

Auch die Dokumentationsarbeit des Cousins des Autors Pierre Asisi, des Schriftstellers Alexander Asisi, schaffte eine solche Basis, sich mit der eigenen Geschichte auseinandersetzen zu können. Er führte das Gespräch mit der gemeinsamen Großmutter, die ansonsten ungern über die schmerzlichen Aspekte ihres Lebens sprach, und hielt dieses Interview per Video fest. Später transkribierte er das Gespräch und brachte es in eigener Regie als Buch für die Familie heraus. Zugleich trug er den Fundus an Fotografien zusammen, die sich im Besitz vieler Familienmitglieder befanden, digitalisierte diese und stellte sie der Familie zur Verfügung. Er schaffte mit dieser Arbeit die Basis für die wertvolle Auseinandersetzung mit der eigenen Geschichte für die gesamte Familie.

Audiovisuelle Medien wie Filme, Podcasts, Fotos etc. sind demzufolge auch Mittel, um Erfahrungen migrantischer Communitys und marginalisiertes Wissen zu dokumentieren und immaterielle, verkörperte Archive („embodied archives“) zu materialisieren. Eine Funktion ist dabei nicht nur die gegenwärtige Selbstverortung, sondern auch die zukünftige Teilhabe der Nachfolgegenerationen an diesen Geschichten – die ansonsten leicht in Vergessenheit geraten oder im Verborgenen bleiben. Sie ermöglichen es nicht nur, Menschen und Themen sichtbar zu machen, sondern machen auch besprechbar, was vorher nicht besprechbar war.

Methoden dokumentarischen Erzählens beim kiez:story-Format „Meine Story“

Dementsprechend ist es ein wesentliches Ziel des Projekts, nicht nur Wissen zu vermitteln, sondern die Jugendlichen auch selbst zu ermutigen, die eigene Familienbiografie genauer zu untersuchen – und zu dokumentieren. Ein innovativer Aspekt des Projekts liegt in der Adaptierung partizipativ- ethnografischer Erhebungsmethoden, etwa dem Photovoicing (Wang/Burris 1997; Clements 2012). Hierbei werden die Schüler*innen dabei unterstützt, in ihrem familiären und sozialen Umfeld mithilfe von persönlichen Fotoalben ins Gespräch mit Familienmitgliedern oder -freund*innen zu kommen und so mehr über ihre eigene Geschichte zu erfahren. Inspiriert von Methoden der partizipativen Erinnerungsforschung (Newman 2012; Poutrus et al. 2022) und der kollektiv-partizipativen Aktionsforschung (Community Engagement for Social Inclusion 2018; Højholt/Kousholt 2019) eignen sich auch bedeutungsgeladene Gegenstände, die sich im Familienbesitz befinden, um das Sprechen über die Vergangenheit in Gang zu setzen und Erinnerungen zu wecken, was gerade bei älteren Menschen oftmals eine Herausforderung darstellt [10].

Ein dokumentiertes Gespräch zwischen Mutter und Tochter, bei dem das Fotoalbum hilfreich war.

 

Angelehnt an die Go-Along-Methode aus der verorteten Ethnografie (Kusenbach 2003; Pink 2015; von Poser/Willamowski 2020) wurde für das Projekt die „Cook-Along-Methode“ entwickelt. Bei den sogenannten „Cook-Alongs“ wird gemeinsam gekocht, um über das Essen einen gemeinsamen Bezugspunkt zu schaffen, welcher ein Schlüssel zu ungeahnten Geschichten über Identität und Zugehörigkeit sein kann. Spannend an der Methode, über Essen ins Gespräch zu kommen, ist, dass der Gegenstand selbst in aller Regel eine Migrationsgeschichte hat [11]. All diese Methoden sind alternative „Interview- bzw. Gesprächsformate“, die näher an der Lebenswelt der Jugendlichen und ihrer Familien sind und somit einen niedrigschwelligen Zugang ermöglichen, um autobiografische Auseinandersetzungen bei den Jugendlichen anzuregen.

In der Videoserie „Kiez:Kulinarik“ zeigen Jugendliche den Teamenden ihre kulinarischen Geheimtipps und führen Interviews mit den Geschäftstreibenden. Dabei geht es dann nicht nur ums Essen.

 

Im Rahmen des bereits umgesetzten Videoprojekts „Meine Story“, das ebenfalls durch die Nguyễn-Schwestern begleitet wurde, konnten erste erfolgreiche Erfahrungen mit fünf Berliner Jugendlichen gemacht werden. Durch einen Workshop zu Interviewtechniken und Hintergrundinformationen zu biografischen Narrativen wurden sie mit den nötigen Kompetenzen ausgestattet. Mit diesem Wissen haben die Jugendlichen dann selbstständig im familiären Umfeld Interviews mit Eltern, Onkeln oder Großeltern durchgeführt. Diese wurden fotografisch, filmisch und mit Audioaufnahmen dokumentiert und in einer anschließenden Kurzvideoproduktion umgesetzt. Zwei Ebenen konnten dadurch besondere Wertschätzung erfahren: Das Mitteilungsbedürfnis der älteren Generationen auf der einen Seite und die bei den Jugendlichen angestoßenen Lernprozesse und Reflexionen auf der anderen Seite. Dabei können solche Projekte auch ohne teure technische Ausstattung umgesetzt werden. Heutzutage besitzt praktisch jedes Smartphone eine Kamera und ein Aufnahmegerät, die eine solide Dokumentation ermöglichen. Im Vordergrund steht aber ohnehin das Anstoßen eines autobiografischen Reflexionsprozesses.

Selbstreflexionen in der rassismuskritischen und intersektionalen Pädagogik

Die drei Geschichten verdeutlichen, dass eine allzu starre dichotome Einteilung in Black and People of Colour („BPoCs“) und „Weiße“ zwar rassismustheoretisch und politisch relevant bleibt, allein jedoch den komplexen Lebensrealitäten nicht gerecht werden kann: Auch wenn wir es mit drei migrantischen Familiengeschichten zu tun haben, sind die Privilegien ungleich verteilt – auch innerhalb der verschiedenen Communitys. In einer intersektionalen, machtkritischen Pädagogik sollten demnach weitere Machtverhältnisse und ihre Diskriminierungsformen, z.B. entlang von Sexualität, Religion, Aufenthaltsstatus oder Klasse in Betracht gezogen werden. Der Autor İmran Ayata – ebenfalls ein Gründungsmitglied von Kanak Attak – veranschaulicht diesen Punkt anlässlich des 60-jährigen Bestehens des Anwerbeabkommens zwischen der BRD und der Türkei ebenfalls mit Hinblick auf die eigene Biografie:

„Wenn das Anwerbeabkommen gefeiert wird, dann als eine Party des gesellschaftlichen und politischen Establishments, zu der inzwischen konformistische Institutionen der Migrantencommunities und Erfolgsmigranten aus Politik, Wirtschaft und Gesellschaft gehören. Vielleicht klingt das zu abstrakt und zu wenig greifbar, weswegen ich ein konkretes Beispiel bemühen möchte. Ich schreibe über dieses Jubiläum in diesem Dossier, meine Mutter aber, die 1968 nach Deutschland kam, hat diese Möglichkeit nicht. Ich bin im Oktober zu zahlreichen Veranstaltungen anlässlich der Feierlichkeiten des Anwerbeabkommens eingeladen, meine Mutter ist es nicht.“

Und auch der Ausklang des Textes von Ayata verdeutlicht die Relevanz des Projektvorhabens von kiez:story:

„Auch deswegen sollte ich die Geschichte der Rentnerin aufschreiben, die in den 1960er Jahren in dieses Land kam und noch immer am Fenster steht. Es gibt unzählige Geschichten wie die ihre. Und diese Geschichten verdienen es erzählt, geschrieben und gehört zu werden.“ (Ayata 2021)

Ein wirkliches Bild über die Lebensrealitäten von Migrant*innen in Deutschland lässt sich also erst zeichnen, wenn die verschiedensten Perspektiven dokumentiert und sichtbar gemacht werden. Diese Arbeit ist in erster Linie für die Nachkommen selbstermächtigend: Mit diesem Wissen lässt sich die eigene Geschichte besser einordnen und verarbeiten – so zumindest die Erfahrung der drei Autor*innen. Die Einordnung der eigenen Positionierung und Geschichte in unserer Gesellschaft ist einer von vielen Schritten dahin, unseren Platz in dieser Gesellschaft einzufordern und eine inklusive, multiperspektivische Geschichtsschreibung zu ermöglichen.

In einem Verein, der die pädagogische Auseinandersetzung mit Rassismus im schulischen Rahmen sucht, muss diese Arbeit immer wieder reflektiert werden. Inwiefern ermöglichen wir wirklich einen offenen, selbstermächtigenden Raum und wo fördern oder drängen wir Jugendliche gar – bewusst oder unbewusst – in bestimmte Narrative? Wo blenden wir Erzählungen aus, die weniger gut mit unserem Selbstverständnis im Einklang stehen? Wie können wir tatsächlich im Sinne Spivaks die „Minderprivilegierten sprechen lassen“ (Spivak 1988)? Diese Fragen versuchen wir in unserer täglichen Arbeit zu reflektieren, jedoch kann der Text über diese Aufforderung zur Selbstreflexion hinaus kein einfaches Rezept anbieten.

Diese dokumentarische Arbeit hat auch eine gesamtgesellschaftliche Bedeutung und ist als ein Teil deutscher Geschichte zu verstehen. Iman Attia (2020, S. 33f.) regt hier eine zeitgleiche „Provinzialisierung und Globalisierung“ der Erinnerungsgeschichte an, was gerade durch biografische Migrationsgeschichten veranschaulicht werden kann. Bei kiez:story sind die Bezugspunkte je nach Themengebiet der eigene Kiez, Berlin, Deutschland und die Welt, etwa wenn es um die Aufarbeitung deutscher Kolonialgeschichte geht. Diese historisch-dokumentarische Aufarbeitung ist nur ansatzweise getan und kann nur unter Einbezug der Ersten Generation und ihrer Nachkommen erreicht werden. kiez:story möchte dafür ganz unmittelbar einen kleinen Beitrag leisten, vor allem aber als Modellprojekt diesen Ansatz in die Breite tragen.

Eine Übung aus dem Projekt: „Die Gastarbeiter*innen“

An dieser Stelle soll nun das Konzept einer Beispielübung vorgestellt werden. Insgesamt sind bisher fünfzehn Übungen entstanden, die in ihrer Abfolge einen AG-Ablauf über ein halbes Schuljahr ergeben. In einigen Übungen unterscheidet sich der Fokus bzw. die Themensetzung, da sie an den Sozialraum, in dem sich die Schule befindet, angepasst wurden. Im Folgenden geben wir ein Beispiel dafür, wie das Thema „Gastarbeit“ im schulischen Kontext aufgegriffen werden kann.

„Gastarbeit“ hat den ersten Erfahrungen nach in der Vermittlung einen Vorteil gegenüber dem Thema „Vertragsarbeit“: Während die Migrationsgeschichte der ehemaligen DDR insgesamt weniger aufgearbeitet und sichtbar ist, findet sich ein nahezu unüberschaubarer jugendkultureller Fundus zu diesem Thema. Gerade im Deutschrap finden sich viele Zeugnisse dieser Auseinandersetzung. Ein jüngstes Beispiel ist der Rapsong „60 Gastarbeiter Bars“ des Musikers Eko Fresh, der sich nicht zum ersten Mal mit diesem Aspekt seiner Biografie auseinandersetzt. Diesmal hat er – ebenfalls anlässlich des 60. Jahrestages des Anwerbeabkommens – 60 Takte eingerappt. Eine Liedzeile (bzw. „Punchline“) liest sich wie folgt: „Sie riefen: Arbeitskraft! Aber es kam İnsan hierher.“ In der Analyse dieser Zeile kann mithilfe des Wissens der Jugendlichen eine Verknüpfung zu Max Frischs bekanntem Zitat „Sie riefen Arbeitskräfte, aber es kamen Menschen her“ hergestellt werden, schließlich ist İnsan nicht nur ein türkischer Männername, sondern lässt sich auch mit „Mensch“ übersetzen. Dieses Zitat wiederum hat auch den türkischen Rockmusiker Cem Karaca zu dem Liedtitel „Es kamen Menschen“ inspiriert. In einem anderen Song („Mein deutscher Freund“) spricht er über seine Hoffnung, dass die Folgegenerationen die gesellschaftliche Kluft überwinden. Die Gesamtschau dieser historischen „Gastarbeiterfolklore“ der ersten Generation und Ekos Song aus der Perspektive ihrer kulturellen Erb*innen schaffen eine sehr gute Diskussionsgrundlage, die in der politischen Bildung aufgegriffen werden kann. Hier exemplarisch drei Diskussionsfragen aus dieser Einheit:

  • Aus welcher Rolle rappt Eko Fresh?
  • Welchen Wunsch teilen Cem Karaca und Eko für „die dritte Generation gurbetçi [12]“?
  • Wie würdet ihr die Situation in Bezug auf Chancengleichheit und Diskriminierung heute bewerten?

Anschließend an diese Diskussion machen sich die Jugendlichen selbst auf Spurensuche, um mehr über das Vermächtnis der ersten Generation herauszufinden. Die Ergebnisse können Interviews im eigenen Familien- und Bekanntenkreis sein oder eigene lyrische Abhandlungen über dieses Thema. Hier wird auch der intergenerationale Charakter des Projekts deutlich: Die Zielgruppe der Jugendlichen wird dazu ermutigt, den Austausch mit der Eltern- und Großelterngeneration zu suchen. In dem Prozess erhalten sie die Möglichkeit, sich selbst zu Expert*innen ihrer eigenen Geschichte zu ermächtigen. Zeitgleich lernen sie andere Perspektiven auf die deutsche Geschichte kennen, die sie oftmals weder in ihren Schulbüchern finden, noch im Unterricht gelehrt bekommen. Damit wird ihnen auch die Perspektive eröffnet, ihre Familiengeschichten als Teil der gesamtgesellschaftlichen Geschichte zu verstehen und diese mit der Gegenwart zu verknüpfen.

Die Geschichten, die durch die dokumentarische Arbeit mit der eigenen Geschichte zutage gebracht werden, sind ein kleiner Beitrag zu einem multiperspektivischen Geschichtsverständnis und einer multiperspektivischen Erinnerungskultur. Wir hoffen, dass solche Ansätze über einzelne Modellprojekte hinaus einen flächendeckenden Einzug in Bildung und Schule erhalten, um den gesellschaftlichen Realitäten, in denen Jugendliche heutzutage aufwachsen, gerecht zu werden.

Dieser Beitrag erschien zuerst auf der Webseite von RISE – Jugendkulturelle Antworten auf Islamistischen Extremismus. Wir danken RISE sowie den Autor*innen, den Beitrag hier wiederveröffentlichen zu dürfen.


Anmerkungen

[1] Da es hier um den Begriff „Gastarbeiter“ geht, wurde von der Genderschreibweise abgesehen. Tatsächlich befanden sich auch sehr viele Frauen unter den Gastarbeitern, für deren Arbeitskraft es eine hohe Nachfrage in Deutschland gab, deren Geschichte aber zumeist vernachlässigt wird (Mattes 2019).

[2] Dies soll keineswegs implizieren, dass diese Kämpfe vorüber sind und migrantische Menschen in Deutschland nun endlich Gleichberechtigung durch den deutschen Staat erfahren. Nach wie vor dürfen über elf Millionen Menschen, die in Deutschland leben, aufgrund ihrer Staatsbürgerschaft nicht auf Bundesebene wählen (Destatis 2020) – darunter auch viele ehemalige „Gastarbeiter*innen“.

[3] Exemplarisch unter vielen Beiträgen können die interessanten Sammelbänder „Labor 89“ (Piesche 2020), „Erinnern stören“ (Lierke/Perinelli 2020), „Als ich nach Deutschland kam“ (International Women* Space 2019) und die Tagungsdokumentation „Im Osten Was Neues?“ (Hochschule Mittweida 2020, erscheint im Dezember 2021) genannt werden. Im Spannungsfeld zwischen Wissenschaft, Kunst und Kultur sind die Beiträge der letzten Jahre ebenso vielfältig. Spannende Beispiele sind das „Dokumentationszentrum und Museum über die Migration in Deutschland (DOMiD)“ in Köln oder das jüngst eröffnete „Archiv der Flucht“ in Berlin (Anm. d. Red.: Das Archiv war vom 30.09 bis 30.12.2021 geöffnet). Erwähnenswert sind auch die Webdokus „Eigensinn im Bruderland“, „Sorge 87“, „Hanoi x Halle“, „Zeitzeug*innen“ oder „Gegen uns“.

[4] Bezogen auf die politische Teilung Berlins. Alle vier Schulen liegen geografisch im Süden bzw. Osten der Stadt.

[5] So gibt es beispielsweise viele Überschneidungen zwischen der „Walter-Gropius-Schule“ und der „Schule am Rathaus“, die sich beide eher in peripherer Lage befinden, im Vergleich zur „Lina-Morgenstern-Schule“ und dem „Campus Rütli“, deren Sozialraum in den letzten Jahren auch für viele Jugendliche spürbar gentrifiziert wurde.

[6] Erinnert sei an die „Schwarzenbach-Initiative“ des rechtsextremen James Schwarzenbach aus dem Jahr 1968, der „gegen die Überfremdung von Volk und Heimat“ eine polarisierende, hetzerische Volksabstimmung in Gang brachte, um den Anteil von Migrant*innen auf 10% zu begrenzen. Letztendlich wurde diese abgelehnt. Dieser Rassismus äußerte sich auch in Schildern mit der Aufschrift „Für Hunde und Italiener verboten“, die an den Eingängen vieler Gastronomiestätten angebracht waren (Maiolino 2020).

[7] Insgesamt waren zwischen 1967 und 1989 ungefähr 210.000 Vertragsarbeitende in DDR-Betrieben angestellt. Ende 1989 waren es nur noch 90.000, wovon fast 60% aus Vietnam waren. Im gleichen Jahr lebten insgesamt ca. 600.000 Migrant*innen in der DDR, wovon den größten Anteil 400.000 in der DDR stationierte sowjetische Soldaten ausmachten, ein Teil waren die ausländischen Werktätigen, und eine Minderheit stellten politische Exilant*innen und ausländische Studierende dar (Mac Con Uladh 2005; Rabenschlag 2016; ZfA 2020).

[8] Ihr wurde als Schwangere gekündigt, sie wehrte sich jedoch im Nachhinein in einem jahrelangen Rechtsstreit gegen diese unrechtmäßige Kündigung und bekam auch im Zuge des allgemeinen Kampfes ums Bleiberecht von Vertragsarbeitenden 1997 nicht nur eine Entschädigung, sondern auch einen unbefristeten Aufenthaltsstatus. Bis dahin musste der befristete Aufenthaltstitel alle ein bis zwei Jahre verlängert werden. Diesen Kampf führte sie nicht alleine, sondern er war Teil der Bleiberechtskämpfe von Vertragsarbeiter*innen (Hopfmann 2020).

[9] Mehr zu „immateriellen Archiven“ und eine Erweiterung dieses Konzeptes in Lauré al-Samarai (2021) und Sharpe (2020).

[10] Diese Methode ist inspiriert von Anne Chahines laufenden Dissertationsprojekt „Future memory making: Co-creating (post-)colonial imaginations with Greenlandic youth in Greenland and Denmark” (2018–2021).

[11] Wie auch das wohl deutscheste Grundnahrungsmittel, die Kartoffel. Dass diese aus Südamerika eingeführt wurde, ist vielen Erwachsenen bekannt, verblüfft aber ziemlich sicher jede*n Jugendliche*n, die*der dies zum ersten Mal hört.

[12] Türkisch: im Ausland lebende


Literatur

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Bundesarchiv, BArch DL2 17368

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