Der Krieg in der Ukraine ist auch eine pädagogische Herausforderung – Erste Fragen aus einer rassismuskritischen Perspektive
23. März 2022 | Diversität und Diskriminierung, Geschichte, Biografien und Erinnerung

Der Umgang mit dem Krieg in der Ukraine und dessen Auswirkungen in Deutschland stellen auch viele Pädagog*innen vor große Herausforderungen. Die Tübinger Regionalgruppe des Netzwerkes Rassismuskritische Migrationspädagogik bringt einige dieser Fragen auf den Punkt. Mit ihrem Kommentar regen sie dazu an, sich die Herausforderungen bewusst zu machen und in der eigenen Praxis zu reflektieren.

Der Krieg gegen die Ukraine bringt wieder eine extreme Form von Gewalt nach Europa. Nicht dass es nicht durchgängig schreckliche Kriege gab und gibt. Doch sind die Kriege in Syrien, Afghanistan, Jemen, Sudan immer mehr aus dem öffentlichen Bewusstsein verschwunden. Auch in der pädagogischen und sozialarbeiterischen Praxis haben sie – wenn überhaupt – nur vorübergehend Aufmerksamkeit erlangt. Auch bei dem Thema Flucht hatte sich für viele in den letzten Jahren eher eine Routine eingestellt. Die staatliche Abschottungspolitik hat dazu beigetragen, dass immer weniger Menschen aus den Krisengebieten hier Zuflucht finden konnten.

Jetzt ist mit dem Krieg in der Ukraine auch die Betroffenheit wieder näher gerückt. Viele sind erschüttert, bei Kindern, Jugendlichen und ihren Eltern zeigen sich Verunsicherung und Ängste. Damit entstehen auch für die pädagogische und sozialarbeiterische Arbeit Fragen und Herausforderungen.

In der Tübinger Regionalgruppe des Netzwerks hatten wir dazu bei einem Treffen einen ersten Austausch. Es ging uns zuerst darum, Fragen zu stellen. Fragen, die uns beschäftigen und Fragen, die uns beschäftigen sollten. Dabei haben wir immer in zwei Richtungen gedacht. Wie sind wir als Fachkräfte selbst betroffen, bei welchen Themen sind wir unsicher und suchen noch eine klare Positionierung? Und wie sind die von uns betreuten Kinder, Jugendlichen und Familien betroffen? Wo tauchen neue Themen, Bedürfnisse und Konflikte auf, worauf sollten wir vorbereitet sein und was sollten wir in der aktuellen Situation anbieten?

Unterschiedlicher Umgang mit ukrainischen und anderen Geflüchteten

Ukrainische Geflüchtete erfahren umfassende Hilfe und eine rechtliche Sonderstellung in Deutschland. Die vielfältige staatliche und private Unterstützung ukrainischer Geflüchteter ist vorbildlich. Insbesondere ihre rechtliche Anerkennung gibt ihnen einen sicheren Aufenthaltsstatus in Deutschland.

Damit sind sie deutlich bessergestellt im Vergleich zu anderen Geflüchtetengruppen, die nicht aus Europa kommen. Die zwar zugesagte, dann aber nur teilweise erfolgte unkomplizierte Aufnahme für afghanische Menschen, die mit den deutschen Truppen kooperiert haben, stellt hier nur die Spitze des Eisbergs dar. Unzählige Menschen, die vor Krieg und Vertreibung fliehen, wollen nach Europa, einige sind an der belarussisch-polnischen Grenze erfroren, viele sind an dieser Grenze gescheitert und wurden Opfer von push-backs. Von den unzähligen Toten im Mittelmeer ganz zu schweigen.

Aber auch bei Geflüchteten aus der Ukraine gab es an der Grenze ein Racial Profiling. Während weiße Geflüchtete ungehindert passieren konnten, wurden Schwarze Geflüchtete aussortiert und aufgehalten.

Kinder und Jugendliche, die in Einrichtungen der Jugendhilfe betreut werden oder Schulen besuchen, aber auch Geflüchtete in Unterkünften erleben diese Ungleichbehandlung unmittelbar. Während ihr rechtlicher Status häufig auf unsicherer Duldung basiert und ihre Familien nicht nachziehen können, scheint hier nun plötzlich alles möglich. Und zwar schnell und relativ unbürokratisch. Auch ehrenamtliche

Geflüchtetenhelfer_innen, die sich seit langem um Verbesserungen der Situation der von ihnen betreuten Geflüchteten kümmern, und nicht oder nur mühsam vorangekommen sind, sind erstaunt – und manche auch rückblickend frustriert.

Nehmen wir Fachkräfte das wahr und wenn ja, wo und wie, und was löst es in uns aus? Gibt es in unserem Arbeitsumfeld Möglichkeiten die Situation zu thematisieren und Raum für die Suche nach guten Lösungen im Umgang damit? Wie gelingt es uns Fachkräften, die solidarische Unterstützung ukrainischer Geflüchteter angesichts des Frustes wegen der offensichtlich rassistischen Unterscheidung zu anderen Geflüchteten nicht abzuwerten? Wie gelingt es dem Opfergruppen-Ranking zu entgehen?

Nehmen Geflüchtete die Ungleichbehandlung wahr? Gibt es in der Arbeit mit Geflüchteten Möglichkeiten, die Ungleichbehandlung zu thematisieren? Finden wir Sprache/ Erklärungen dafür? Welche Gefühlsreaktionen erleben wir und welche Resonanz erzeugen sie? Welche Strategien entwickeln Geflüchtete im Umgang mit der Ungleichbehandlung?

Sorge vor „Vergessen“ weiterer marginalisierter Gruppen

Viele weitere Menschen leben in Deutschland in prekären Verhältnissen, finden z.B. keinen angemessenen Wohnraum. Die Sorge angesichts eines großen, neu entstandenen Bedarfs weniger zu bekommen, in den Hintergrund zu rücken oder gar vergessen zu werden, kann schnell entstehen.

Erlebe ich in meinem Arbeitsumfeld ein „Hilfs- oder Bedürftigkeitsranking“? Wenn ja, kann ich es thematisieren und nach Lösungen suchen? Erlebe ich die Sorge vor dem Vergessenwerden bei marginalisierten Personen und Gruppen? Welche Gefühle werden spürbar, welche Strategien werden sichtbar?

Antislawischer/antirussischer Rassismus

Es ist erstaunlich, wie schnell antirussische Klischees in den letzten Wochen reaktivierbar waren. Sie knüpfen an in Deutschland seit mindestens dem Zweiten Weltkrieg verankerte Vorurteile und negative Bilder über Russland und russische Menschen. Aktuell erleben Menschen, die irgendwie als „russisch“ identifiziert werden, diese Klischees, Zuschreibungen, Diskriminierungen und immer öfter auch gewaltvollen Übergriffe. Scharf kontrastiert werden dagegen Bilder von Menschen aus der Ukraine, die bis vor kurzem noch Zielscheibe derselben Projektionen waren.

In welchen historischen Kontinuitäten und Brüchen stehen die jetzt reaktivierten Bilder? Was hat dies mit eigenen Familiengeschichten zu tun? Wie können Kinder und Jugendliche begleitet werden, die von diesen negativen Zuschreibungen und daraus resultierenden Anfeindungen betroffen sind? Wie sähe eine Parteilichkeit auf Seiten der pädagogisch Handelnden in diesem Fall aus? Wie können russisch gelesene Kinder und Jugendliche vor Übergriffen geschützt werden?

Konflikte in einer neu polarisierten Gesellschaft

Nicht nur diese neuen Unterscheidungen zwischen ukrainisch = gut und russisch = böse stellen Schulklassen, Jugendhäuser, Wohngruppen oder Familien vor neue Polarisierungen. Auch die mediale Dauerberieselung mit der Kriegsrhetorik stellt Kinder, Jugendliche und alle, die mit ihnen zu tun haben, vor die Frage der persönlichen Positionierung. Gleichzeitig werden komplexe soziale Beziehungen, die diese Positionierungen nicht notwendig machten, marginalisiert: vielfältige Familien- und Freundschaftsbeziehungen über die jetzt neu stark gemachten „ethnischen“ Grenzen zwischen Ukrainer_innen und Russ_innen hinweg werden abgewertet zugunsten einer Polarisierung „Freund-Feind“.

Wie können Fachkräfte in Erziehung und Bildung damit angemessen umgehen? Wie sich gegen die Polarisierung und die „Freund-Feind“-Schemata wehren oder eventuelle Konflikte zwischen russischen und ukrainischen Jugendlichen moderieren?

Untergräbt die (fast) unwidersprochene Militarisierung pädagogische Ansätze von Konfliktlösung?

Der jahrelange Konflikt zwischen der Ukraine und Russland ist eskaliert bis zur flächendeckenden militärischen Auseinandersetzung, dem Krieg. Gespräche (Diplomatie) haben keine Lösung gebracht, die beide Seiten akzeptieren können. Wir erleben eine humanitäre Katastrophe: menschliches Leid, viele Tote und Verletzte und viel Zerstörung.

Die militärische Auseinandersetzung wird von außen, der EU und USA unterstützt mit Waffenlieferungen. Die deutsche Bundesregierung ändert tiefgreifend ihre Strategie und Haltung: Waffen werden in Kriegsgebiete geliefert und mit einem „Sondervermögen“ eine deutliche Aufrüstung angestrebt. Eine allgemeine Wehrpflicht wird vereinzelt wieder diskutiert. Militärische Verteidigungsbereitschaft und Abschreckung erscheinen alternativlos. Formen zivilen Widerstands bzw. Ungehorsams werden vereinzelt angewandt in der Ukraine, haben aber keine starke Lobby. Die öffentliche Diskussion in Deutschland und Europa ist von militärischen Sicherheitsaspekten dominiert.

Wie erleben das Kinder und Jugendliche? Wie wird der Krieg in ihren Familien besprochen? Wie kann sich Pädagogik als Ort des fairen Streitens, als „brave space“ einbringen? Schwächt oder stärkt das Denken in Freund-Feind-Kategorien pädagogische Ansätze, die Verständigung und (konstruktive) Konfliktlösungen bevorzugen?

Wie können wir Soziale Verteidigung als Alternative stark machen, ohne dass damit die Nöte der ukrainischen Adressat_innen, die ihre Familien im Bombenhagel wissen, bagatellisiert werden? Wie können andere Konfliktlösungs- und Verteidigungsoptionen mittelfristig in Schulcurricula verankert werden?

Renaissance des männlichen Heldentums

Männer zwischen 18 und 60 dürfen die Ukraine nicht mehr verlassen, außer es gehören 4 Kinder zu ihrer Familie. Sie werden eingeteilt zur militärischen Verteidigung oder zum Zivilschutz. Gezeigt werden: Männer liegen in Schützengräben, Frauen bauen Molotowcocktails, stellen Energieriegel für die Soldaten her und stellen sich unbewaffnet russischen Panzern in den Weg. Männer aus Belarus fliehen aus Sorge, zeitnah ebenfalls in den Krieg ziehen zu müssen.

Mit dem russischen Krieg gegen die Ukraine und mit den Bildern und Nachrichten über diesen Krieg werden auch in der deutschen Öffentlichkeit erneut überkommen geglaubte Genderrollenbilder aufgerufen. Insbesondere Bilder des männlichen Heldentums, in denen Denkmuster von „Kampfbereitschaft“, „Sieg“ und „Sterben für die Freiheit“ reproduziert und erneuert werden.

Was in diesen Diskursen weniger sichtbar ist, sind die Ängste der Männer vor dem Krieg, die männliche Zerbrechlichkeit in Anbetracht der Waffengewalt, den Schmerz der Männer* von ihren Familien getrennt zu werden. Es fehlt der offene Diskurs über mögliche Alternativen und Gegenpositionen, über die Möglichkeit der Verweigerung eines „Märtyrertums“.

Wie wirken die Bilder und Narrative auf mich selbst? Was machen die medial vermittelten Narrative auch mit meinen eigenen geschlechtlichen Rollenbildern? Welche Haltung habe ich zu diesem Krieg und der gewalttätigen Form der Konfliktbearbeitung als scheinbar einzige mögliche Lösung?

Wie erleben das Mädchen und Jungen? Welche Facetten dieses Krieges bekommen sie mit? Wie bewerten sie, was sie sehen und was in ihren Familien besprochen wird? Entsteht ein Bild heldenhafter, kriegerischer Männlichkeit beim Kampf um Leben und Tod? Oder ist die militärische Verteidigung auch Aufgabe von Frauen und Männern, mit unterschiedlichen Inhalten und Gewichtung? Wie stehen Jungen und Mädchen dazu? Welche Ängste beschäftigen die Jugendlichen in diesem Zusammenhang? Welche Gegenpositionen, welche alternativen Gender-Rollenbilder können wir ihnen im pädagogischen Alltag anbieten?

Danksagung

Dieser Kommentar ist im aktuellen Newsletter „Rassismuskritische Migrationspädagogik“ des Netzwerks für rassismuskritische Migrationspädagogik Baden-Württemberg erschienen. Wir danken den Autor*innen für die Erlaubnis, den Kommentar hier zu veröffentlichen.

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