Der Glaube fährt mit der Straßenbahn – eine Ausstellung in Berlin
4. Juni 2024 | Diversität und Diskriminierung, Religion und Religiosität

Audio-Koran. Bild: Tassilo Letzel

Stellen Religionen eine Bedrohung für säkulare Gesellschaften dar? Schließlich schränken sie durch Regeln und Normen die Freiheit des Individuums ein. Die Ausstellung „Der Glaube fährt mit der Straßenbahn“ in Berlin wirft einen kritischen Blick auf dieses Bild. Anhand der Themen Kleidung, Speisen und Spielzeug widmet sie sich der Frage, in welchem Verhältnis Glaube, Normen und Alltagsgegenstände zueinander stehen und zeigt auf, dass es auch in säkularen Gesellschaften bestimmte Normen gibt, die eine ähnliche Funktion erfüllen wie ein religiöser Glaube. ufuq.de hat den Kurator Stefan Maneval zum Interview getroffen.

 

ufuq.de:

Bis zum 10. Juli kann man sich im Mitte Museum in Berlin-Gesundbrunnen die von dir kuratierte Ausstellung „Der Glaube fährt mit der Straßenbahn“ anschauen. Worum geht es?

Stefan Maneval:

Die Ausstellung ist ein Kommentar zu aktuellen Debatten über Religion im Allgemeinen und vor allem über den Islam in Deutschland und Europa. In diesen Debatten wird Religion als eine Bedrohung der liberalen säkularen Gesellschaften dargestellt. Das Argument ist häufig, dass Religion mit ihren oft geschlechtsbezogenen Regeln und Normen die Freiheit des Individuums einschränkt. Der Islam wird in diesem Sinne als eine besonders sichtbare Religion wahrgenommen. Die Ausstellung versucht, diese Darstellung zu hinterfragen, indem sie anhand von Alltagsobjekten einen Blick auf verschiedene religiöse Traditionen und auf säkulare Gesellschaften wirft. Wir wollen zeigen, dass Regeln und Normen auch in säkularen Gesellschaften existieren. Wir nehmen sie nur häufig nicht wahr, weil sie für uns so normal sind. Das gilt auch für gläubige Menschen: Sie sehen die Regeln und Normen, die sie befolgen, nicht als eine Einschränkung ihrer Freiheit, sondern als etwas, das sie gerne befolgen, weil sie damit ein gottgefälliges Leben führen.

ufuq.de:

In der Ausstellung sind über 50 Alltagsobjekte zu sehen. Woher stammen sie?

Stefan Maneval:

Ich wollte zunächst einmal die Vielfalt innerhalb der vier Kontexte Judentum, Christentum, Islam und säkulare Gesellschaften zeigen. Außerdem habe ich mich auf drei Themenkomplexe konzentriert: Zum einen das Thema Kleidung, weil viele öffentliche Debatten sich um geschlechtsspezifische Kleidung, wie zum Beispiel das islamische Kopftuch, drehen. Der zweite Bereich sind Speisen, weil viele Regeln in religiösen Gesellschaften Essensvorschriften betreffen. Dazu gehören etwa Fastenrituale, die es eigentlich in allen religiösen Gesellschaften, aber auch teilweise in säkularen Kontexten gibt. Auch um Speisen gibt es manchmal öffentliche Debatten, wie zum Beispiel um Schweinefleisch in deutschen Schulkantinen. Der dritte Themenbereich ist Kinderspielzeug, weil viele Regeln und Normen mit Hilfe von Spielzeug vermittelt werden.

ufuq.de:

Wie hast du die Ausstellungsstücke ausgewählt?

Stefan Maneval:

Bei der Auswahl der Objekte ging es darum, zu zeigen, dass es in allen Gesellschaften immer auch Aushandlungsprozesse und damit Veränderungen gibt. Es gibt beispielsweise ein katholisches Priestergewand, das ja in seinem Prunk eine gewisse Würde ausstrahlt und einen stark performativen Charakter hat. Aber es gibt auch ein Objekt, das das Patriarchat in der katholischen Kirche in Frage stellt: ein Priesterinnengewand von einer schwedischen Modedesignerin, die Mode explizit für weibliche Priesterinnen entwirft. Das klingt nach einem Widerspruch, aber es gibt inzwischen einige Frauen, die sich zu Priesterinnen weihen lassen und damit gegen Kirchenrecht verstoßen. An diesen Objekten kann man eine Neuaushandlung und Verschiebung der Regeln beobachten.

ufuq.de:

Welche Objekte gefallen dir persönlich besonders gut?

Stefan Maneval:

Mir gefallen die Objekte aus dem Kontext des Ramadans, also des muslimischen Fastenmonats. Der Ramadan verlangt den Gläubigen etwas ab, einen Verzicht auf Speisen und andere Dinge während des Tages. Ähnlich wie bei uns in der Adventszeit ist der Ramadan aber auch die Zeit des Schmucks und der Geselligkeit: Das Haus wird mit Lichtern geschmückt, man bricht das Fasten gemeinsam auf besonders farbenfrohen Decken. Diese Objekte zeigen: Es gibt im Islam Regeln und Normen, die mit Verzicht zu tun haben, aber dieser Verzicht ermöglicht auch eine bestimmte religiöse Erfahrung. Außerdem mag ich die Spielzeuge und Puppen in der Ausstellung, zum Beispiel ein Set mit kleinen Figuren und Lebensmitteln, mit dem jüdische Kinder den Schabbat nachspielen können.

ufuq.de:

Puppen spielen generell eine große Rolle in der Ausstellung, oder?

Stefan Maneval:

Ja, weil sie Rollenbilder vermitteln. Da sind zum Beispiel die männlichen Superheldenfiguren aus einem säkularen Kontext, die ein ganz klischeehaftes Männerbild vermitteln. Hier ist der Mann ein Muskelprotz, der Probleme löst und die Welt rettet und vom Bösen befreit. Daneben gibt es eine schwangere Frauenpuppe mit Babyset, mit deren Hilfe kleine Mädchen das Muttersein nachspielen können. Ich finde diese Figuren faszinierend, sie sind bunt und machen Spaß. Gleichzeitig verdeutlichen sie aber auch, wie sehr Geschlechterrollen im säkularen Kontext mit speziellen Kleidungstypen, Körperidealen und sozialen Praktiken und Konventionen verbunden sind.

ufuq.de:

Hast du ein absolutes Lieblingsobjekt?

Stefan Maneval:

Wir zeigen einen Smartring, der ähnlich wie andere Smart Tools der Selbstoptimierung dient, nur nicht im Bereich des Sports oder der gesunden Ernährung, sondern der Frömmigkeit. Der Zikr Ring erinnert an die fünf muslimischen Gebetszeiten, und außerdem trackt er die Tasbih, also die Lobpreisung Gottes während des Zikr Rituals. Anstatt die Perlen einer Gebetskette mit dem Finger zu bewegen, drückt man auf einen Button am Ring. Durch das Tracking hilft der Ring seinem Träger oder seiner Trägerin nachzuvollziehen, welche Fortschritte er oder sie beim Zikr macht. Das Design des Rings ist schlicht und recht edel, schwarz mit dezentem goldenen Aufdruck: iQibla. Die Haptik ist angenehm. Das alles hat etwas sehr Spielerisches. Wie bei anderen Smart Tools wird die Selbstoptimierung also durch Gamification erleichtert. Das finde ich interessant.

ufuq.de:

Der Ring hängt direkt neben einem Unterhemd aus Funktionswäsche, einem Tallit Katan mit Knotenbändern, den religiöse Juden tragen. Ist der Vergleich beabsichtigt?

Stefan Maneval:

Auf jeden Fall! Die Knoten am Tallit Katan sollen ihren Träger daran erinnern, dass man sich an das göttliche Gesetz halten soll. Es hat also einen ähnlichen Erinnerungscharakter wie der islamische Ring und nutzt ebenfalls einen haptischen Reiz. Es ist Funktionswäsche, also dazu gedacht, Sport zu treiben. Religiöse Rituale werden hier in den Alltag eingebunden und an einen modernen Lebensstil angepasst.

ufuq.de:

Wie kam der Titel der Ausstellung zustande?

Stefan Maneval:

Der Titel nimmt Bezug auf einen Film von Luis Buñuel: Die Illusion fährt mit der Straßenbahn. Der Film stammt aus den 50er Jahren und war sehr religionskritisch. Buñuel macht sich in dem Film über die Allgegenwärtigkeit des Katholizismus lustig, es ist eine Parodie, die vor dem damaligen gesellschaftlichen Hintergrund total verständlich ist und Spaß macht. Die Ausstellung spielt mit dieser Assoziation, versucht aber etwas Anderes. Ich möchte darauf aufmerksam machen, dass es auch in säkularen Gesellschaften etwas gibt, das eine ganz ähnliche Funktion hat wie ein religiöser Glaube. Mit dem griechisch-französischen Philosophen Cornelius Castoriadis könnte man von einer „sozialen imaginären Institution“ sprechen. Gott ist eine soziale, imaginäre Institution. Aber auch in säkularen Gesellschaften gibt es soziale, imaginäre Institutionen, die unser Handeln leiten und die keiner Erklärung bedürfen.

ufuq.de:

Woran denkst du da?

Stefan Maneval:

Ich denke an Konzepte wie „die Wirtschaft“, „die Freiheit“ oder „die Menschenrechte“. Das sind Vorannahmen und Prinzipien, die unser Handeln leiten und mit denen wir alles Mögliche erklären, die selbst aber keiner Erklärung bedürfen. Dadurch bleiben sie oft undefiniert und beliebig. Unter „Freiheit“ oder „Menschenrechten“ können Gesellschaften ganz unterschiedliche Dinge verstehen. Staaten, die sich auf die Menschenrechte berufen, haben trotzdem manchmal kein Problem damit, Menschen an ihrer Außengrenze im Mittelmeer sterben zu lassen. In der soziologischen Theorie, die dem Ausstellungskonzept zu Grunde liegt, sind alle diese Konzepte – „Gott“, „Freiheit“ und „Menschenrechte“ – leere Signifikanten, die alles und nichts bedeuten können und von den Menschen mit Inhalt gefüllt werden müssen. Gleichzeitig sind sie sehr wirkmächtig. Von diesen zentralen imaginären Institutionen werden Regeln für die soziale Koexistenz abgeleitet, beispielsweise unsere Gesetze, oder ethische Prinzipien und Verhaltensweisen. Wenn wir uns das bewusst machen, erscheinen uns religiöse Regeln und Normen nicht mehr so fremd. Ich denke, in unserer Gesellschaft ist nicht die Religion das Problem, das den Leuten das Leben schwer macht, sondern eine Form der Religionskritik, die zur Diskriminierung bestimmter religiöser Gruppen führt. Der Titel der Ausstellung verweist also auf die Präsenz des Glaubens – im Sinne von „sozialen imaginären Institutionen“ – in der Öffentlichkeit, ohne den Glauben als eine Illusion religiöser Menschen abzutun.

 

Impressionen aus der Ausstellung

Bildnachweis: Ausstellungsobjekte © Tassilo Letzel / Portrait Stefan Maneval © Matthias Nebel.

Das Mitte Museum Berlin-Gesundbrunnen zeigt die Ausstellung „Der Glaube fährt mit der Straßenbahn“ bis zum 10.07.2024. Der Eintritt ist kostenlos.

 

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