ufuq.de-Mitarbeiterin Maral Jekta wirft am Jahrestag der deutsch-deutschen Grenzöffnung einen kritischen Blick zurück auf den Winter 1989 und erklärt, warum die deutsche Vereinigung für ihre Familie mit gemischten Gefühlen und realen Gefahren verbunden war. In Anlehnung an den an dieser Stelle vor einem Jahr veröffentlichten Text „Anders erinnern: Für eine ost-migrantische Erinnerungspolitik“ fragt sie nach den Möglichkeiten (p)ostmigrantischer Allianzen und alternativer Erinnerungen.
Spreche ich mit meiner Familie über den Mauerfall und die deutsche Vereinigung, tun wir das mit gemischten Gefühlen. Es gibt eine Anekdote: Im Winter 1989, einige Monate nachdem wir nach Deutschland kamen, standen Neonazis mit Molotowcocktails vor unserem Flüchtlingsheim. Es war die Zeit von Hoyerswerda und Rostock-Lichtenhagen. Unsere Väter rannten mit Küchenmessern bewaffnet auf die verdutzten Nazis los und schlugen sie in die Flucht. Für meine Familie und die anderen Familien aus unserem Heim korrelierte der Mauerfall mit den ersten von einer Vielzahl von Rassismuserfahrungen. Nicht nur im Osten, aber dort besonders oft.
Holidays in …
Dreißig Jahre später haben meine Freunde und ich unsere Strategien entwickelt. Wir haben mittlerweile eine Standardprozedur: Wenn wir einen Kurztrip ins Berliner Umland planen, ist es selbstverständlich, sich vorher nach „den Rechten“ umzuhören. Waren es früher eher die Bilderbuch-Skinheads, nach denen wir uns erkundigten, braucht es angesichts der zunehmenden Verbürgerlichung rechtsextremen Gedankenguts heute schon detektivischen Scharfsinn: „Wie steht es um Hotelgäste, Autokennzeichen, Restaurantnamen und Tattoos am Badestrand oder in der Sauna und WLAN-Namen? Alles hakenkreuz- und reichsadlerfrei?“ fragen wir uns gegenseitig, bevor wir einen Urlaubsort im Osten in Betracht ziehen. Mit unseren Eltern fahren wir dort erst gar nicht hin. Wir manövrieren uns auf ostdeutschen Landkarten entlang der von uns identifizierten Gefahrenzonen und tun mit dieser Haltung bestimmt vielen Menschen und Orten Unrecht.
Apropos Eltern: Linke Kurd*innen, Türk*innen und Iraner*innen hatten damals keine Angst vor dem Nazimob. In ihrem relativ jungen Leben hatten sie es oft schon mit ganz anderen Gefahren zu tun. Sie hatten jahrelang aus dem Untergrund gegen Diktaturen gekämpft. Diktaturen, die von westlichen Demokratien, auch von der Bundesrepublik, gestützt wurden. In Gefängnissen, mit Hilfe von deutschen Ingenieuren gebaut, hatten sie Folter erlebt und Freunde sterben sehen. Nazis bereiteten ihnen damals vergleichsweise wenig Angst. Heute ist etwas anders: Die Wahlerfolge der AfD auch bei der Mittelschicht gehen an ihnen nicht spurlos vorbei. Die Feierfreude am 09.11. hält sich aber nicht nur deswegen in Grenzen.
Der Fall der Mauer – (k)ein Grund zur Freude?!
Als Mitglieder sozialistischer und kommunistischer Oppositionsparteien hatten unsere Eltern die Militärjunta in der Türkei der 1980er Jahre, das Schah-Regime und später die bis heute andauernde theokratische Militärdiktatur im Iran bekämpft. Ihr Blick war dabei lange Zeit auf das wirtschaftliche und politische Experiment in der Sowjetunion und damit auch die DDR gerichtet. Sie kämpften dafür, die Ideen von Karl Marx in die Tat umzusetzen und dadurch eine gerechte, freie und friedliche Gesellschaft aufzubauen. Im Dickicht gesellschaftlicher, politischer und wirtschaftlicher Probleme erlebten sie dann, wie die Versuche, diese Utopien umzusetzen, scheiterten. Als die Mauer fiel, freuten sie sich für die wiedervereinigten Menschen, trauerten aber um die Utopie und blickten kritisch auf die Prozesse der Vereinigung.
Wie viele andere bezweifelten sie, dass Privatisierungspolitik, Sozialabbau und die einseitige Übertragung von Institutionen, Regeln und Mentalität von West nach Ost die beste Lösung war. Sie fieberten 1990 mit den Bergleuten der Kaliindustrie in Sachsen-Anhalt und Thüringen, die gegen den Rausschmiss von 15.000 Bergleuten protestierten und zum Teil sogar in Hungerstreik traten, mit den Postbeschäftigten aus Sachsen und Berlin, die 1991 wegen anstehendem Stellenabbau und der Nichtanerkennung der bisherigen Arbeitsjahre auf die Straße gingen oder mit Menschen, die ab März 1991 in Anlehnung an das historische Vorbild auf Montagsdemonstrationen gegen Treuhandpolitik, Arbeitslosigkeit und sozialen Abstieg demonstrierten.
Die deutsche Vereinigung barg unbestritten Veränderungschancen für die Menschen, die politischen Entscheidungen brachten aber auch Zumutungen, besonders für die Ostdeutschen. Ganz ähnlichen Zumutungen waren auch meine Eltern ausgesetzt. Wie die Ostdeutschen hatten auch sie ihre Heimat verloren, mussten sich in einem neuen Land und einer neuen Kultur zurechtfinden. Sie wussten, wie es ist, den erlernten Beruf nicht mehr ausüben zu können, herablassend behandelt und diskriminiert zu werden. Sie wussten, wie es sich anfühlt, nicht mehr als Individuum, sondern nur noch als eine Gruppe gesehen zu werden und sie konnten sich vorstellen, wie es sich für diejenigen Menschen anfühlen muss, die nun auch politisch heimatlos geworden waren. Wenn es zu Gesprächen mit Ostdeutschen kam, entdeckten sie viele Parallelen und Gemeinsamkeiten.
(P)ostmigrantische Allianzen
Parallelen zwischen den migrantischen und ostdeutschen Erfahrungswelten im Nachwende-Deutschland gibt es viele. Heimatverlust, vergangene Sehnsuchtsorte, Fremdheitsgefühle und Abwertungserfahrungen empfinden nicht nur Migrant*innen, stellt die Soziologin Naika Foroutan fest.[1] In der Studie „Ostmigrantische Analogien I. Konkurrenz und Anerkennung“ belegt sie empirisch, dass die empfundenen strukturellen Benachteiligungen und Abwertungen von als muslimisch markierten Migrant*innen und Ostdeutschen nicht eingebildet sind. Sie sind in ähnlicher Weise von sozialen und kulturellen Abwertungen betroffen, verdienen unterdurchschnittlich, sind gesellschaftlich unterrepräsentiert und werden mit ähnlichen Stereotypen konfrontiert: Ostdeutschen wie muslimisch gelesenen Migrant*innen wird vorgeworfen, sich ständig als Opfer zu sehen und anfällig für Extremismus zu sein. Zudem, so der Vorwurf, seien sie bis heute nicht richtig in der Bundesrepublik angekommen. Dass man als Gesellschaftsmitglied nicht ankommen muss, sei an anderer Stelle diskutiert. Wichtig ist: Man sollte über diese Erfahrungen am besten schweigen. „Die Thematisierung der strukturellen Ungleichheiten kommt in der Mehrheitsgesellschaft (…) nicht gut an“[2], fassen die Autor*innen der Studie zusammen.
Diese Wahrnehmung hängt mit dem Narrativ der deutschen Vereinigung und der offiziellen Erinnerungskultur zusammen: „Die Nation feiert sich selbst, die Überwindung des sozialistischen Unrechtsstaates und den Sieg des liberalen Kapitalismus“, schreiben Elisa Gutsche und Pablo Dominguez Andersen dazu – und sprechen das eigentlich Offensichtliche an: Die deutsche Vereinigung war nicht nur eine Erfolgsgeschichte. Ihnen geht es daher darum, die Vereinigung auch aus anderen Perspektiven zu erzählen. Sie plädieren für ein Erinnern, das auch die Geschichten derer erzählt, die sich nicht nur als Gewinner*innen betrachten, die marginalisiert oder unsichtbar sind: „Das Sprechen über Ähnlichkeiten eröffnet neue Denkräume und Orte der Empathie, ermöglicht gemeinsames Verstehen und lässt uns in den Worten und Erfahrungen der Anderen etwas über uns selbst begreifen.“[3]
Empathie durch Kapitalismuskritik
Mit meinen Eltern fuhren wir letztes Jahr durch einen Ort in Brandenburg, der fast ausschließlich mit AfD-Plakaten verziert war. Auf einem Plakat stand „Vollende die Wende!“. Die Enttäuschung über nicht erfüllte Hoffnungen, die in diesem Slogan mitschwingt – von der AfD eigentlich für rechtspopulistische Zwecke gedacht – hat meine Eltern bewegt.
Sie glauben nicht daran, dass politische oder soziale Krisen die einzige Ursache von Rassismus und Rechtsradikalismus im Osten sind. Dafür gibt es zu viele Kontinuitäten rassistischer Ressentiments und rechter Gewalt innerhalb der zwei deutschen postfaschistischen Gesellschaften. Vielmehr verstehen sie Rassismus als ein Phänomen, das untrennbar mit der Entstehung und Expansion des europäischen Kapitalismus sowie Kolonialismus und Nationalismus, aber auch mit Sexismus in Verbindung, steht.
Ihr empathischer Blick nach Osten hat sich deshalb bis heute nicht grundlegend verändert. Auch wenn es um den gegen sie selbst gerichteten Rechtsruck im Osten geht, erklären sie dies durch die kapitalismuskritische Brille. Dieser Blick mag die postkoloniale Kritik an Mechanismen kultureller Dominanz und rassistischer Exklusion nicht genug berücksichtigen, ermöglicht aber einen emphatischen Blick, auch auf den Osten.
Anmerkungen
[1] Foroutan, Naika, Interview: „Ostdeutsche sind auch Migranten“, taz.de, 13. Mai 2018.
[2] Foroutan, Naika/ Kalter, Frank/Canan, Coşkun/Simon, Mara, Ost-Migrantische Analogien I. Konkurrenz um Anerkennung. Unter Mitarbeit von Daniel Kubiak und Sabrina Zajak, Berlin: DeZIM-Institut, 2019.
[3] Gutsche, Elisa und Dominguez Andersen, Pablo:, Ostmigrantische Erinnerung. Postmigrantische Allianzen. In: Lierke, Lydia und Perinelli, Massimo (Hrsg.), Berlin: Verbrecher-Verlag, 2020, S. 487.
Literatur- und Materialempfehlungen
Lydia Lierke und Massimo Perinelli (Hg.),Erinnern stören. Der Mauerfall aus migrantischer und jüdischer Perspektive, Berlin: Verbrecher-Verlag, 2020.
Das Buch „Erinnern stören. Der Mauerfall aus migrantischer und jüdischer Perspektive“ erzählt von anderen Perspektiven auf die deutsch-deutsche Vereinigung, die an Kämpfe um Teilhabe in den 1980er Jahren, einschneidende Erlebnisse um die Wende und die Selbstbehauptung gegen den Rassismus der 1990er Jahre erinnern.
Peggy Piesche, „Labor 89. Intersektionale Bewegungsgeschichten aus West und Ost“, Berlin: Verlag Yilmaz-Günay, 2020.
Die von Peggy Piesche 2020 herausgebrachte Broschüre „Labor 89. Intersektionale Bewegungsgeschichten aus West und Ost“ erzählt von intersektionalen Perspektiven auf die Wendezeit. In acht Porträts berichten politische Schwarze, POCs, queer*feministische und andere mehrfachdiskriminierte Aktivist*innen von ihren Erfahrungen und Perspektiven auf die deutsche Vereinigung und die damit einhergehenden gesellschaftlichen Kämpfe für Gleichberechtigung und Selbstbestimmung.
„…und dann fiel die Mauer“: Diane Izabiliza zu Gast beim ufuq.de-Couch-Talk (2019)
In der vierten Folge des ufuq.de Couch Talks ist Diane Izabiliza zu Gast, Filmemacherin und Produzentin des Films „Die Mauer ist uns auf den Kopf gefallen“. Der Film entstand im Rahmen des Forschungsprojekts „Erinnerungsorte. Vergessene und verwobene Geschichten“ der Alice Salomon Hochschule Berlin und behandelt den Mauerfall aus neuer Perspektive. Er zeigt, welche Bedeutung die deutsche Wiedervereinigung für Frauen* of Color hat, wie sie den tiefgreifenden politischen Wandel und den anschließenden Anstieg rassistischer Gewalt erlebt haben.
Für die pädagogische Arbeit
Auch Pädagog*innen können helfen, ein anderes Erinnern und Erzählen möglich zu machen. So etwa mit Hilfe der Materialien von Wings&Roots, einer Initiative von Medienmacher*innen, Pädagog*innen und Kulturschaffenden in den USA und in Europa, die die Debatten um Migration und Zugehörigkeit durch Storytelling und kritische Geschichte verändern möchten. Die Zeitleiste „Migration, Rechte und Zugehörigkeit“ zeichnet auch Ereignisse der Wanderungsprozesse und Migrationspolitik nach, die bislang wenig oder gar nicht in mehrheitsgesellschaftlichen Debatten und schulischen Curricula vorkommen.