Kommentar zur „Affäre“ um ein rassistisches Gedicht, das niemand so nennt
14. April 2016 | Demokratie und Partizipation, Diversität und Diskriminierung, Religion und Religiosität

Herr Böhmermann kann uns eigentlich egal sein und Herr Erdoğan auch. Was uns nicht egal ist, sind deutsche Jugendliche, zum Beispiel türkischer Herkunft. Ganz unabhängig davon, wie sie zum türkischen Staatspräsidenten stehen mögen, verstehen viele von ihnen das „Schmähgedicht“ als rassistische Abwertung. Zudem sehen sie eine Doppelmoral der Öffentlichkeit, die sich zwar für die Meinungsfreiheit, aber nicht gegen Rassismus stark macht. Verlierer ist die pluralistische Gesellschaft, die eigentlich verteidigt werden sollte, schreibt ufuq.de-Mitarbeiter Jochen Müller in seinem Kommentar.

Wir wissen nicht, ob Jan Böhmermann sich darüber gefreut hat – es steht aber zu befürchten: Jetzt hat sich auch die BILD auf seine Seite geschlagen. Springer-Chef Mathias Döpfner erklärte „seine Solidarität“ und schloss sich allen „Formulierungen und Schmähungen“ Böhmermanns „voll und ganz“ an. Welch große Geste im Namen der Meinungsfreiheit.

Zur Erinnerung: Der Satiriker und Komiker Jan Böhmermann war in einem „Schmähgedicht“ den türkischen Staatspräsidenten Tayyip Erdoğan angegangen, indem er ihn unter anderem als „Ziegenficker“ titulierte, als Gewalttäter gegen Frauen beschrieb und seine Aussagen mit „Schweinefürzen“ verglich.

Das ZDF nahm das Video daraufhin aus dem Netz, Angela Merkel bezeichnete den Text in einem Gespräch mit Erdoğan als „bewusst verletzend“ und Erdoğan selbst kündigte an, strafrechtlich gegen Böhmermann vorzugehen. Obwohl sie spontan alles richtig gemacht haben, stehen Merkel und das ZDF (Erdoğan ja sowieso) nun am Pranger einer empörten Medienöffentlichkeit, die die Meinungsfreiheit in Gefahr sieht.

Eine Farce, die Böhmermann sogar noch angekündigt hatte, als er wettete, dass gegen sein „Schmähgedicht“ vorgegangen werden würde. Und ein billiger Effekt. Genauso gut hätte er ankündigen können, jemanden zu ermorden und dafür strafrechtlich verfolgt zu werden. Was nämlich die Verteidiger_innen der Meinungsfreiheit – und zwar gänzlich unabhängig von der, um es vorsichtig zu formulieren, Demokratiedistanz von Erdoğan – offenbar übersehen wollen, ist, dass die Reime von Böhmermann schlicht rassistisch sind. Schwer zu verstehen, dass er das nicht selbst gesehen hat.

Schließlich „funktionieren“ die zur Beleidigung der Person Tayyip Erdoğan gewählten Bilder nur, weil sie auf verbreitete rassistische Stereotype über ganze Gruppen rekurrieren können, selbst wenn diese nicht namentlich genannt werden. Den britischen Ministerpräsidenten Cameron hätte Böhmermann schließlich anders beleidigt. Möge also Jan Böhmermann ruhig angeklagt werden – und Herr Döpfner gleich mit.

Ob die Gerichte ihn auch verurteilen, ist dann eine Frage der Jurist_innen – bisher stehen da offenbar nur die „Beleidigungsparagrafen“ 103 und 185 zur Debatte.

Zum Tatbestand der Volksverhetzung sagt das Strafgesetzbuch §130 Absatz 1:

„Wer in einer Weise, die geeignet ist, den öffentlichen Frieden zu stören, gegen eine nationale, rassische (?!), religiöse oder durch ihre ethnische Herkunft bestimmte Gruppe, gegen Teile der Bevölkerung oder gegen einen Einzelnen wegen seiner Zugehörigkeit zu einer vorbezeichneten Gruppe oder zu einem Teil der Bevölkerung zum Hass aufstachelt, zu Gewalt- oder Willkürmaßnahmen auffordert oder

2. die Menschenwürde anderer dadurch angreift, dass er eine vorbezeichnete Gruppe, Teile der Bevölkerung oder einen Einzelnen wegen seiner Zugehörigkeit zu einer vorbezeichneten Gruppe oder zu einem Teil der Bevölkerung beschimpft, böswillig verächtlich macht oder verleumdet, wird mit Freiheitsstrafe von drei Monaten bis zu fünf Jahren bestraft.“

Wahrscheinlich hat sich Jan Böhmermann da vorher schlau gemacht – so mutig ist er dann wohl auch wieder nicht. Nun kann uns Herr Böhmermann ja eigentlich egal sein und Herr Erdoğan auch. Was uns nicht egal ist, sind deutsche Jugendliche zum Beispiel türkischer Herkunft. Ganz unabhängig davon, wie sie zum türkischen Staatspräsidenten stehen mögen, werden viele den rassistischen und damit auch gegen sie gerichteten Gehalt der „Witze“ sowie die Unsensibilität und – in ihren Augen – Doppelmoral einer Öffentlichkeit in Deutschland zur Kenntnis nehmen, die sich zwar für die Meinungsfreiheit, aber nicht gegen Rassismus stark zu machen scheint. Das ist bitter, nicht allein weil Erdoğan dabei nur gewinnen kann. Verlierer ist vielmehr die pluralistische Gesellschaft, die eigentlich doch verteidigt werden sollte.

(Ausführlich und sehr unterhaltsam setzt sich mit den von Böhmermann und seiner Redaktion bemühten rassistischen Stereotypen Hakan Tanriverdi auf jetzt.de auseinander, dem sehr empfehlenswertem Jugend-Magazin der Süddeutschen ZeitungDabei hatte Böhmermann vor Kurzem selbst am Beispiel des Diskurses über „Flüchtlinge“ einen rassistischen Sprachgebrauch kritisiert.)

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